Vor wenigen Jahrzehnten hoffte man in Westdeutschland vergeblich, dass sich die Frage nach dem Umgang mit dem Phänomen der Alt-Nazis und ihrer unverbesserlichen Ansichten mit der Zeit von alleine lösen würde. Überdies rechneten sich die ‚Nachgeborenen‘ die Gnade der späten Geburt an. Nicht weniger problematisch war die Situation in Ostdeutschland, wo sich die DDR als der erste antifaschistische Staat auf deutschem Boden wähnte, oder in Österreich, das sich als erstes Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik verstand. Dabei übersah man, dass die öffentliche Distanzierung vom Nationalsozialismus und die Berufung auf die demokratische Verfassung keineswegs stark genug sind, um die in der Gesellschaft mehr oder weniger latent vorfindlichen Formen menschenfeindlicher Verachtung, des Antisemitismus und Rassismus einzuhegen und zu überwinden. Dies ist vielleicht auch die erschütterndste und zugleich wichtigste Einsicht, dass die Idee einer egalitären Demokratie keineswegs aus sich heraus überzeugend ist und sich stattdessen viele Menschen auch ganz andere gesellschaftliche Konstrukte vorstellen können, die auf nationalem Egoismus, Abwertung und Ausgrenzung basieren. Beispiele für diese Haltung finden sich aktuell zuhauf. Seien es in Deutschland körperliche Attacken gegenüber Juden auf offener Straße, die den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung zu der Warnung an Juden veranlasste, ihre Kippa nicht in der Öffentlichkeit zu tragen. Oder die Messerattacken auf die Fotoportraits von Überlebenden des Holocaust in der öffentlichen Ausstellung "Gegen das Vergessen“ vor dem Heldenplatz entlang der Ringstraße, im Zentrum der österreichischen Hauptstadt.

Religionspädagoginnen und –pädagogen mögen mit Erstaunen und Schrecken auf diese Entwicklung schauen: Hat sich nicht gerade der Religionsunterricht – in Gemeinschaft mit dem Deutsch-, Geschichts-, Ethik- und Politikunterricht – intensiv mit den Ursachen und Folgen des Holocaust beschäftigt? Ist der Religionsunterricht nicht vielleicht sogar das erste Fach gewesen, dass das Thema ‚Auschwitz‘ erstmalig und ausführlich in seine Schulbücher brachte? Und gab es nicht gar ein von den Schülerinnen und Schülern beklagtes ‚Zu-viel‘? 

Für die Deutungen der Renaissance des Antisemitismus liegen wohlfeile Argumente parat: Im Schatten antiisraelischer Einstellungen, wie sie beim alljährlich Al-Quds-Tag öffentlich ihr Gesicht zeigen, sehen sich nationalistische Kräfte ermutigt, ihre Judenfeindlichkeit zu propagieren: Der ‚neue‘ Antisemitismus als ein Importprodukt der seit 2015 zunehmenden Zuwanderungen aus islamischen Ländern. Welch’ krudes Bild dabei entsteht: Rechte Nationalisten schmieden die Koalition mit Islamisten in ihrem Kampf gegen Juden, Israel und zugleich gegen die Demokratie und bieten im selben Atemzug die Vertreibung der Muslime als Allheilmittel gegen alle möglichen Bedrohungen der Gesellschaft an. 

Allerdings beruht die Annahme, der gegenwärtige Antisemitismus sei eine Folge der Zuwanderung von Muslimen in unsere Gesellschaft, auf zwei Denkfiguren, die es (selbst)kritisch zu hinterfragen gilt:

  1. Handelt es sich bei dem Import des muslimischen Antisemitismus nicht vielmehr um einen Re-Import einst westlicher Antisemitismusvorstellungen? Und: Könnten sich israelfeindliche Muslime durch den – mehr oder weniger – latenten Antisemitismus in unseren Gesellschaften nicht geradezu bestätigt fühlen?

  2. Auch Religionspädagoginnen und –pädagogen müssen sich selbstkritisch fragen, ob sie nicht das Thema Antisemitismus vorrangig als ein Problem der ‚anderen‘ betrachtet haben: Als ein Thema der Kirche in der NS-Zeit, die sich nicht entschieden genug für Juden eingesetzt hat. Als ein Problem der ‚Ewig-Gestrigen‘ und ihrer Adepten. Als Ausdruck mangelnder Toleranz und Offenheit der Anderen. Oder müssen wir uns nicht selbstkritischer nach unseren eigenen vorrationalen Haltungen befragen? Welche Anteile an Rassismus, Antisemitismus und Vorurteilen tragen wir in uns? Wie sehr prägen sie unsere Lehrpläne, Schulbücher und unsere Unterrichtspraxis?

Es ist also höchste Zeit, sich erneut mit dem Thema Antisemitismus zuzuwenden. Die vorliegenden Beiträge leisten hierzu einen wichtigen Beitrag: Sie lassen deutlich werden, dass der Antisemitismus kein Phänomen ist, das exklusiv auf bestimmte gesellschaftliche Randgruppen einer bestimmten Nation oder Religion bezogen bleibt und so isoliert betrachtet werden kann. Vielmehr zeigen die Beiträge, dass der Antisemitismus in den unterschiedlichen Gesellschaften zwar unterschiedliche Gestaltungsformen annehmen kann, er aber doch ein vielschichtiges Phänomen der jeweiligen Gesamtgesellschaft ist. Die Beschreibung und Analyse des Antisemitismus kann, wie insbesondere die ersten vier Beiträge exemplarisch zeigen sollen, nur interdisziplinär gelingen. 

So wird das Themenheft durch den Beitrag von Armin Lange, Professor für Judaistik an der Universität Wien, The Religious Memory of Antisemitism –The Pittsburgh Shooter between Christian White Supremacist and Islamicist Agitation eröffnet. Ausgehend von dem Attentat auf eine Synagoge in Pittsburgh im Oktober 2018 untersucht er die Wirksamkeit religiöser Symbole des Antisemitismus in den religiösen und kulturellen Erinnerungen der westlichen und muslimischen Welt, die nunmehr zu bestimmten Synergieeffekten führen. 

Regina Polak, Leiterin des Instituts für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, nähert sich in ihrem Beitrag Antisemitismus in der Pastoral. Eine katholische Perspektive auf theologische Weise dem Thema. Ausgehend von der Einsicht, dass Theologie und Kirche trotz gutem Willen und aller Erklärungen keinesfalls frei von antisemitischen Stereotypen und Ressentiments sind, fragt die Autorin nach Konsequenzen für eine antisemitismuskritische Verkündigung und Bildung.  

Juliane Wetzel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin Wetzel, führt in die Konzepte antisemitismuskritischer Bildungsarbeit ein. In ihrem Beitrag Antisemitismus als Herausforderung für die schulische und außerschulische Bildung untersucht sie die Defizite eines rein historisch ausgerichteten Unterrichts über Nationalsozialismus und Holocaust und zeigt Perspektiven für die Prävention und Intervention für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit auf. 

Hieran schließt der Beitrag von Anja Ballis, Professorin für Deutschdidaktik an der Ludwigs-Maximilians-Universität München,“With a little antisemitism, you could live!” A case study on framing a Holocaust survivor’s living testimony an. Sie untersucht die Interaktionen von Zeitzeugengesprächen mit Schülerinnen und Schülern und entwickelt hierzu Konzepte für Zeitzeugengespräche in der Schule.

Nach der interdisziplinären Eröffnung des Themenhefts folgen Beiträge, welche in verschiedener Hinsicht internationale Perspektiven der Antisemitismusforschung aufzeigen:

In seinem Artikel Der Beitrag religiöser Bildung zur Antisemitismus-Prävention. Bericht aus einem internationalen Forschungsprojekt stellt Reinhold Boschki, Professor für katholische Religionspädagogik an der Universität Tübingen, Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts über verschiedene Formen der Vermittlung des Holocaust-Gedenkens und über die Behandlung des Antisemitismus im Religionsunterricht vor.

Mit dem Beitrag Antisemitism in Contemporary Hungary: Exploring Topics of Antisemitism in the Far-Right Media Using Natural Language Processing von Ildikó Barna, Professorin für Soziologie an der Universität Budapest, und Árpád Knap, Doktorand am Institut für Soziologie der Eötvös Loránd University (ELTE), wird der pädagogische Blick auf die internationale Dimension des Antisemitismus geweitet. Barna und Knap geht es um eine Beschreibung des Antisemitismus im heutigen Ungarn. Hierzu setzen sie Ergebnisse einer 2017 durchgeführten quantitativen Befragung zum Antisemitismus mit rechtsextremen Texten einer ungarischen Internetseite in Bezug. 

Bogusław Milerski, Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Fakultät der Christlich-Theologischen Akademie Warschau, unternimmt in seinem Beitrag Antisemitismus und praxeologische Rationalität als religionspädagogische Herausforderung am Beispiel von Polen den Nachweis, dass Antisemitismus kein nationales Phänomen darstellt, sondern Teil des kollektiven Gedächtnis jeder Gesellschaft ist und die Religionspädagogik hier einen besonderen Bildungsauftrag innehat.

In ihrem Beitrag Religious education, antisemitism and the curriculum in Norway stellen Paul Thomas, Professor für Erziehungswissenschaften an der University of South-Eastern Norway, Oslo und Abdul-Razak Kuyini Alhassan, Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaften an der University of South-Eastern Norway, Oslo, eine Untersuchung von Lehrplänen für den Religionsunterricht an Grund- und Sekundarschulen in Norwegen vor. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der Geschichte des Judentums und des Holocaust zu wenig Raum gelassen wird, um präventive Wirkungen gegenüber antisemitischer Einstellungen zu erzielen. 

Hieran schließt für den deutschsprachigen Bereich der Beitrag Antijüdische Vorurteile in Lehrplänen und Schulbüchern für die Grundschule von Julia Spichal, Mitarbeiterin am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, an. Anknüpfend an Methoden der Vorurteilsforschung stellt sie ein Modell zur Analyse von Lehrplänen und Schulbüchern für den christlichen Religionsunterricht an Primarschulen vor, das der antisemitischen Vorurteilsentwicklung vorzubeugen hilft. 

Mit Ednan Aslan, Professor für islamische Religionspädagogik am Institut für Islamisch-theologische Studien der Universität Wien, kommt eine islamisch-theologische Perspektive hinzu. In seinem Beitrag Die Juden des Korans beleuchtet Aslan die Darstellung der Juden im zentralen religiösen Dokument der Muslime. Hierbei verweist er auf die Bedeutung des Befundes, dass die vielfachen Äußerungen des Korans gegenüber Juden nicht auf das Judentum im Allgemeinen, sondern auf Juden und deren Lebens- und Glaubensgewohnheiten im arabischen Raum zur Zeit der Entstehung des Koran zu beziehen sind. 

Sule Dursun, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamisch-theologische Studien der Universität Wien, setzt sich in ihrem Beitrag Antisemitisch durch den islamischen Religionsunterricht? Eine qualitative Inhaltsanalyse von Lehrplänen am Beispiel der allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) in Österreich über die Ergebnisse mit der Antisemitismusproblematik in den Lehrplänen des islamischen Religionsunterrichts auseinander und fragt nach Möglichkeiten der Prävention von Antisemitismus im islamischen Religionsunterricht.


Dr. Michael Wermke
Professor für Religionspädagogik an Theologischen Fakultät Jena, Direktor des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB)

Dr. Martin Rothgangel
Professor für Religionspädagogik  an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien, Leiter des Instituts für Religionspädagogik