1 Einleitung

„Wegbleiben“, „Abmelden“ und „Austreten“ beschreiben drei unterschiedliche Formen der Nicht­partizipation an Angeboten, die mit Kirche und Religion zu tun haben: (1) Jugendliche können Angeboten der kirchlichen Jugendarbeit fern bleiben. Sie bleiben weg. (2) Anders beim Religionsunterricht, der durch eine Teilnahme­pflicht gekennzeichnet ist. Hier ist eine Abmeldung erforderlich, wenn jemand nicht teilnehmen möchte. (3) Mit einem Austritt wird schließlich eine Mitgliedschaft in einer Organisation wie der Kirche oder einem Jugend­verband beendet. Alle drei Phänomene sollen im Folgenden näher betrachtet werden, um Perspektiven zum Umgang mit den damit verbundenen Herausforderungen diskutieren zu können.

Um die Situation, die als „Krise“ erfahren werden kann, zu bewerten, empfiehlt sich zunächst eine empirische Analyse der Phänomene, die ich mit unterschiedlichen Daten und unterschiedlichen Methoden bewerkstelligen will. Die Analysen decken dabei Befundmuster auf, die im Wesentlichen mit drei Theorieansätzen beschrieben und erklärt werden können (vgl. Gennerich, 1995, 2017a).

2 Theoretische Perspektiven

2.1 Das Organisationstheoretische Konzept von Hirschman (1974)

Die Ausgangssituation, die eine Anwendung des Konzepts von Hirschman (1974) nahelegt, beschreibt Feige (1976, S. 239). Er benennt als Kenntnistand aus den ersten empirischen Studien zur Kirchen­mitgliedschaft, dass diese keine selbstverständliche gesellschaftliche Tradition mehr darstelle, sondern auf der Basis von „Leistung und Nutzen“ reflektiert werde. So stelle der Austritt keine Verlust­erfahrung mehr dar, wenn die Kirche als „sinnentleerte Formel­haftigkeit“ erfahren werde (S. 192). In dieser Linie kann die Austrittsforschung den Kirchen­austritt auch als „natürlichen Nullpunkt der Kirchenferne“ beschrieben (Kuphal, 1979, S. 470). D.h., für Kirchenferne gibt es keine hinreichenden Gründe, um die Kosten der Mitglied­schaft zu tragen, so dass sie dazu neigen, mit dem Berufseintritt und der damit fälligen Kirchensteuer aus der Kirche auszutreten (Birkelbach, 1999, S. 146). Es finden sich jedoch jenseits dieser Grundlogik auch Beispiele, in denen besonders engagierte Menschen, denen Religion wichtig ist, aus der Kirche austreten (vgl. Hermeling, 2008, S. 112–113, und bei Ebertz et al., 2013, die Gruppen der „engagierten Umdenker“ und der „Enttäuschten“ unter den Ausgetretenen). Der Austritt ist hier eben nicht der Nullpunkt der Kirchenferne. Wie lässt sich diese offenbare Spannung erklären?

Das organisationstheoretische Konzept von Hirschman (1974) leistet dies, indem es die Frage stellt, wann Mitglieder von Organisationen für das Überleben der Organisation aktiver werden. D.h., der Abwanderung (exit) als Reaktion auf Verschlechterungen von Leistungen in Organisationen steht die Loyalität gegen­über, deren eine Funktion der Widerspruch (voice) ist. Als Widerspruch versteht Hirschman (1974, S. 25) jeden wie auch immer gearteten Versuch, einen ungünstigen Zustand zu verändern. Nach Hirschman (1974, S. 36) ist jedoch der Wider­spruch aus der Sicht der Kunden normaler­weise kostspieliger als die Abwanderung: „Die Kunden bzw. Mitglieder werden ihre Entscheidung in der Regel von ihren früheren Erfahrungen mit den Kosten und der Wirksamkeit des Widerspruchs abhängig machen, obwohl die mögliche Entdeckung niedrigerer Kosten und größerer Wirksamkeit ein Wesens­merkmal des Wider­spruchs ausmacht.“ Die Kosten sind daher eine entscheidende vermittelnde Variable zwischen Abwanderung und Widerspruch. Es wird davon ausgegangen, dass bei der Preis­erhöhung einer Ware der Kunde, dem am wenigsten an der Ware gelegen ist, am ehesten aussteigt (S. 40). Auf die Kirche übertragen sind dies die Personen „am Nullpunkt der Kirchenferne“ oder auch Jugendliche, die nur eine geringe Motivation zur Teilnahme an einer kirchlichen Gruppe haben und aussteigen, wenn die Gruppe aus irgendwelchen Gründen nicht richtig rund läuft.

Ein Problem bleibt dann allerdings noch ungeklärt (Hirschman, 1974, S. 39): „Bei jenen Kunden, denen an der Qualität des Produktes am meisten gelegen ist und die daher die aktivsten, verlässlichsten und schöpferischsten Träger des Widerspruchs wären, besteht aus eben diesem Grund offenbar zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Qualitäts­ver­schlechterung als erste abwandern werden.“ Nach Hirschman muss also Qualität als weitere Moderator­variable mitbedacht werden, weil der Konsument, der gegenüber Preis­erhöhungen ziemlich unempfindlich ist, oft zur Empfindlichkeit gegenüber Qualitäts­ver­schlechterungen neigt. Wobei sich hier Qualität verstehen lässt als besonders gute Entsprechung von Produkt­eigenschaft und Kundenbedürfnissen. Im Bereich der Kirche lässt sich auch dieses Phänomen beobachten, wenn besonders engagierte Gemeinde­mitglieder zu Freikirchen konvertieren und sich der Pastor fragt, warum diese ehemaligen Mitglieder das gleiche Engagement nicht als produktiven Wider­spruch in der eigenen Gemeinde einbringen können. Dass die Qualitäts­bewussten oder Engagierten nicht ständig die Mitgliedschaft wechseln, ist nach Hirschman auf Loyalität zurück­zuführen (S. 66).

Das Konzept der Loyalität hat Hirschman jedoch nicht weiterführend bestimmt, so dass sich hier Perspektiven für Präzisierungen für unterschiedliche Anwendungskontexte ergeben. In einer Marktperspektive, die mit Blick auf kirchliche Angebote besonders relevant ist, wurde im Relationship-Marketing (McKenna, 1992; Vavra, 1992) der Begriff Loyalität für die Vertrauens­beziehung zwischen Kunde und Firma benutzt. Wegen seiner kundenbindenden Puffer­wirkung wurde er insbesondere für das Marketing von qualitativ hoch­wertigen Produkten empfohlen, weil die Marktführerschaft bei technischen Produkten immer nur kurzfristig ist. Die Kunden empfinden entsprechend eine Unsicherheit, die durch einen service­basierten Vertrauensaufbau kompensiert wird (vgl. McKenna, 1992, S. 102–103 u. Hirschman, 1974, S. 75). Vergleichbar wird auch im kirchlichen Kontext argumentiert, dass insbesondere das Vertrauen zu Pfarrerinnen und Pfarrern elementar für die Beziehung der Kirchen­mitglieder zur Kirche ist (vgl. Gennerich, 2000, S. 1).

2.2 Die Behavior Setting Theorie von Barker (1968)

In der Theorie der Behavior Settings von Barker (1968) wird das „Behavior Setting“ zur Analyse­einheit gemacht. Es „stellt eine funktionale Einheit einer physikalisch-räumlichen Anordnung und eines dazugehörigen funktionalen Verhaltensmusters dar. Zwar kann das Verhaltens­muster nur von Personen realisiert werden, dennoch bilden diese kein festes Element im Behavior Setting, sondern werden als austauschbare Träger der fest vorgegebenen Funktionsweisen betrachtet“ (Faßheber, 1989, S. 261). Die Behavior-Setting-Theorie von Barker (1968) betrachtet Verhalten also extrapersonal in Form von Settings (z.B. Gottes­dienst, Jugendgruppe). Durch Personenselektion und dem Entgegensteuern bei Abweichungen werden die Programme der Settings erfüllt.

Barkers Theorie (1968, S. 189–194) befasst sich hauptsächlich mit den Unterschieden, die zwischen unterbesetzten Behavior Settings relativ zu optimal besetzten Settings bestehen. Das ist für unsere Fragestellung relevant, weil das „Wegbleiben, Abmelden und Austreten“ zu weniger gut besetzten Settings führt. Die Theorie sagt nun Folgendes aus: Unterbesetzte Behavior Settings haben per definitionem (a) weniger Beteiligte (inhabitants) und die gleichen standing patterns. Nach der Theorie führt dies dazu, dass (b) mehr Kräfte auf jeden Beteiligten wirken, weil die gleichen Kräfte auf weniger Beteiligte verteilt werden, und die Bandbreite der Kräfte je Beteiligtem größer ist, weil sie wiederum von weniger Beteiligten erfüllt werden. So ist die Eigenschafts­vielfalt der Beteiligten (c) nicht mehr optimal und der (d) Spielraum für die Passung von Verhalten und Milieu kleiner. In der Folge gibt es mehr und schwerwiegendere Abweichungen (e), die mehr, intensivere und verschiedenartigere Kräfte zur Aufrecht­erhaltung (f) des Behavior Setting erfordern. Sie bestehen in (g) mehr „deviation-countering“ und weniger „vetoing forces“. Beim „deviation-countering“ wird abweichenden Bedingungen entgegen­gesteuert (im Gottes­dienst singen einige lauter, wenn sie den Eindruck haben, der Gesang sei zu schwach), beim „vetoing“ wird dagegen die abweichende Komponente eliminiert (eine Person wird aus der Gruppe ausgeschlossen, das schreiende Kind aus dem Gottesdienst getragen). Das Überwiegen von „deviation-countering“ bei unterbesetzten Behavior Settings erklärt sich durch die hohe Beein­trächtigung im Falle des „vetoing“. Bei einem Fußballspiel wird ein elfter schlechter Spieler toleriert, und seine Schwächen werden durch die anderen ausgeglichen. Stehen jedoch mehr als elf Spieler zur Verfügung, werden die schlechteren Spieler aus der Mannschaft heraus­genommen. So werden gegen­über optimal besetzten Behavior Settings durch das aufwendigere „deviation-countering“ mehr Anstrengungen abverlangt (induced actions). „Weg­bleiben, Abmelden und Austreten“ hat demnach potentiell gravierende Konsequenzen für die „Dagebliebenen“. Oder eben: Eine kirchliche Jugendgruppe mit drei Jugendlichen ist mutmaßlich kein optimal be­setztes Setting. Es gibt dann erst recht gute Gründe wegzubleiben.

2.3 Das Lebensstilmodell

Im Anschluss an das von Gennerich (2017a, 2018) dargestellte wertebasierte Lebens­stil­modell können Menschen, die „wegbleiben, sich abmelden oder austreten“, bezogen auf die von ihnen präferierten Lebensstile beschrieben werden. Dazu werden für unsere Fragestellung interessierende Items mit den kultur­über­greifend validierten Werte­dimensionen „Selbst-Transzendenz vs. Selbst-Steigerung“ und „Offenheit für Wandel vs. Bewahrung“ korreliert. Werte gelten dabei als das definierende Merkmal von Personen, die einen ähnlichen Lebens­stil praktizieren, insofern Werte als Identitäts­kerne sowohl die Einstellungen zu den unter­schiedlichsten Meinungs­gegen­ständen als auch dem korrespondierende Verhaltens­weisen beeinflussen. Die beiden Werte­dimen­sionen lassen sich visualisiert als ein Feld darstellen, dessen vier Quadranten vier verschiedene Lebens­stilgruppen beschreiben, die in Bezug auf eine Vielzahl von Merkmalen inzwischen differenziert beschrieben wurden (vgl. Abb. 1). Die Lebens­stilgruppe oben/rechts wurde als die Gruppe der „Integrierten“ bezeichnet. Ihr ist der Familien­zusammenhalt besonders wichtig, sie verfolgen langfristige Pläne und beschreiben sich als besonders religiös. Die Lebensstil­gruppe unten/rechts wurde als die „Status­suchenden“ bezeichnet. Sie sind aufgrund ihrer eher geringen Bildung in ihrem Status bedroht und tendieren zu eher einfachen Weltbildern, die mit Vorurteilen einhergehen. Die Lebens­stil­gruppe unten/links wurde als die Gruppe der „Autonomen“ bezeichnet. Sie steht in einem kritischen Verhältnis zur konventionellen Kultur und beschreibt sich als besonders wenig religiös. Diese Gruppe erfährt mehr Probleme als andere und versucht nach Möglichkeit, das Leben im Hier und Jetzt zu genießen. Die Lebensstil­gruppe oben/links wurde als die Gruppe der „Humanisten“ bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch eine besonders hohe Bildung und ein hohes Haushaltseinkommen. Sie ist bereit, sich vor allem punktuell für universalistische Anliegen zu engagieren.

Auf der Basis dieser Modellbildung soll im Folgenden gefragt werden, durch welche Merkmale und Orientierungen sich diejenigen, die „wegbleiben, sich abmelden und austreten“, auszeichnen.

Abbildung1:Die vier Lebensstilgruppen im Wertefeld

3 Wegbleiben

In einem ersten Schritt schauen wir uns das Phänomen des Wegbleibens an. In einer kirch­lichen Perspektive ist hier z.B. an eine Nichtteilnahme an der kirchlichen Jugend­arbeit und den Gottesdiensten zu denken.

3.1 Wer nimmt an der kirchlichen Jugendarbeit (nicht) teil und was sind die Zugangsbarrieren?

Gennerich (2018) dokumentiert eine Befragung von 10- bis 18-jährigen Schülerinnen und Schülern in der Odenwaldregion (N = 795), in der nach der Freizeitgestaltung und möglichen Barrieren mit Blick auf eine Teilnahme an der kirchlichen Jugendarbeit gefragt wurde. Wie Tabelle 1 dokumentiert, nehmen die meisten Jugendlichen an Angeboten der Sportvereine teil. 69% der Jugendlichen nehmen hier gelegentlich bis sehr oft teil.

Ein Sonderfall stellt das Item „anderes“ dar, das auch zu den sehr häufigen Freizeit­tätig­keiten gehört: 76% der Jugendlichen berichten, dass sie dies „andere“ am häufigsten von allen tun. 20% (N = 156) der Befragten haben dieses „andere“ spezifiziert: Am häufigsten wurde von 31 Jugendlichen geschlechtsübergreifend „Freunde treffen“ genannt, 25 Mädchen nannten „Reiten“ und 17 Jungen „Fahrradfahren (Downhill)“. Weitere Mehrfachnennungen bezogen sich auf Musik/Tanz, Fernsehen, mit dem Hund spazieren gehen sowie Fuß­ball/Hand­ball. Überwiegend sind damit also aktive Freizeit­beschäftigungen angesprochen.

Die Kirchengemeinde scheint demgegenüber eine geringe Relevanz zu besitzen. Nur 13% der Jugendlichen nehmen an ihren Angeboten gelegentlich bis sehr oft teil (bzw. 7% partizipieren regelmäßig im Sinne von „oft“ und „sehr oft“). Das entspricht der Reichweite (regel­mäßige Gruppenteilnahme) evangelischer Jugendarbeit bezogen auf die Gesamtheit der 6- bis 20-Jährigen von 6%, die Ilg und Schweitzer (2015, S. 93) berechnet haben.

Minimal häufiger wie die Teilnahme an einer kirchlichen Jugendgruppe erweist sich die religiöse Praxis in Form des Gebets, das 8% oft und sehr oft praktizieren und zusätzlich 10% gelegentlich. Insgesamt gehörten damit die beiden „kirchlichen“ Tätigkeiten zu jenen, die Jugendliche weniger ausüben.

Tabelle 1:Freizeitverhalten (10–18-Jährige, M = 12,93; 49% männlich, 51% weiblich; N = 795) *M=Mittelwert, SD= Standardabweichung

Was machst Du in Deiner Freizeit? (Angaben in %)

nie

selten

gelegent-lich

oft

sehr oft

M*

SD

anderes:…

18,4

5,6

16,3

21,8

37,9

3,55

1,49

in einem Sportverein mitmachen

22,7

8,4

11,9

18,3

38,7

3,42

1,60

vor dem Computer sitzen

8,4

23,1

34,5

23,2

10,8

3,05

1,11

auf Spielplätzen/Bolzplätzen treffen

32,9

24,1

18,8

15,5

8,7

2,43

1,32

mit der Bahn rumfahren

46,1

32,4

12,5

6,5

2,4

1,87

1,02

Geld verdienen/Jobben

55,1

21,7

13,9

6,1

3,1

1,80

1,08

zu Gott beten

57,3

24,0

10,4

4,9

3,4

1,73

1,05

in einem Musik- oder Gesangsverein mitmachen

73,4

8,2

5,5

6,4

6,6

1,65

1,23

in der freiwilligen Feuerwehr mitmachen

83,2

3,4

1,8

2,9

8,7

1,51

1,23

in einer Kirchengemeinde mitmachen

73,8

13,3

5,6

3,7

3,6

1,50

1,01

ins Jugendzentrum gehen

79,4

9,3

4,0

4,0

3,3

1,43

0,98

irgendwelche Sachen im Ort kaputt machen

83,6

9,6

3,5

1,5

1,8

1,28

0,76

im Schützenverein mitmachen

91,5

4,6

1,3

0,6

1,9

1,17

0,66

im Deutschen Roten Kreuz mitmachen

92,4

3,2

1,7

1,2

1,5

1,16

0,65

In einem zweiten Schritt können diese Freizeitbeschäftigungen in einer lebens­stilorientierten Perspektive analysiert werden, um diejenigen, die nicht teilnehmen wollen, näher zu beschreiben. Dazu werden in Abbildung 2 die aufgeführten Items mit den beiden Werte­dimensionen „Selbst-Transzendenz vs. Selbst-Steigerung“ und „Offenheit für Wandel vs. Bewahrung“ korreliert. Dadurch kann bestimmt werden, welche Freizeitpräferenzen die verschiedenen Lebens­stil­segmente haben. Jugendliche oben/rechts sind am ehesten religiös und machen in der Kirchen­gemeinde mit. Dieses Profil zeigt sich auch in anderen Studien als Merkmal dieses Feld­bereichs (Gennerich, 2017a, S. 53). Unten/rechts zeigt sich mit „vor dem Computer sitzen“ eine eher passive Freizeit­orientierung. Passivität prägt auch sonst eher Jugendliche mit geringerer Bildung (vgl. Gennerich, 2010, S. 165). Oben/links votieren die Jugendlichen am häufigsten für „anderes“. Die damit angesprochenen eher aktiven Freizeit­beschäftigungen entsprechen dem tendenziell höheren Bildungsgrad der Jugendlichen oben/links. Jugendliche unten/links benennen eher unkonventionelles Freizeitverhalten aus der Erwachsenen­perspektive: mit der Bahn rumfahren, Sachen kaputt machen. Die Freizeit­optionen Jobben (9% „oft“ u. „sehr oft“), Mitmachen im Schützenverein (3% „oft“ u. „sehr oft“), bei der frei­willigen Feuerwehr (12% „oft“ u. „sehr oft“) und dem DRK (3% „oft“ u. „sehr oft“) zeigen kaum eine besondere Profilierung, weil die die beteiligten Jugendlichen hier offenbar eine heterogene Gruppe darstellen.

Es mag mit Blick auf den Lebensstilbereich unten/links ungewöhnlich erscheinen, dass 21% („gelegentlich“ bis „sehr oft“) der „autonomen“ Jugendlichen „mit der Bahn rumfahren“ und 7% „irgendwelche Sachen im Ort kaputt machen“ als Freizeitaktivitäten angeben. Flohé und Knopp (2009, S. 29) beschreiben den zugrundeliegenden Sinn: Der öffentliche Raum sei nicht-kontrolliert und mit Unsicherheit behaftet, so dass ihm auch eine Qualität des Abenteuers aneigne. Die Präferenz für öffentliche Räume durch die „Autonomen“ unten/links entspricht daher durchaus ihrer höheren Neigung zu Stimulationswerten bzw. ihrem „Sensation seeking“ (vgl. Gennerich, 2010, S. 53). Darüber hinaus weisen Flohé und Knopp (2009, S. 35) darauf hin, dass die Wiederaneignung öffentlicher Räume durch Jugendliche häufig einen illegalen Charakter habe, so dass Jugendliche sich meist kriminalisiert sehen und damit einhergehend Verantwortung für den Raum verhindert werde (vgl. hier „Sachen im Ort kaputt machen“). Es stellt sich damit die Frage, warum vor allem die Jugendlichen unten/links in der Kirchen­gemeinde nicht mitmachen.

 

Abbildung 2:Freizeitverhalten in Korrelation mit den beiden Wertedimensionen bei Gennerich (2018, S. 44)

Mit Blick auf die ausbaufähige Partizipation an der kirchlichen Jugendarbeit bzw. Angeboten der Kirchengemeinde wurde daher nach möglichen Barrieren einer Teilnahme gefragt. Tabelle 2 zeigt, dass bei Addition der beiden oberen Antwortkategorien („trifft eher zu“ u. „trifft völlig zu“) 44% der Jugendlichen kein Interesse an den Angeboten der Kirchen­gemeinde haben, so dass die weiter aufgeführten Barrieren möglicherweise nur zweitrangige Hürden darstellen. So bekunden 36% der Jugendlichen, dass sie lieber etwas ohne Aufsicht machen und 11% bekunden, dass ihnen die Angebote zu teuer sind. Auffällig ist, dass die Jugendlichen bezogen auf die Kirchengemeinde stärker als bei einer parallelen Frage zum Sport­verein in der gleichen Studie ihre Nicht-Teilnahme damit rechtfertigen, dass sie lieber etwas ohne Aufsicht machen. Das zeigt möglicherweise, dass die soziale Kontrolle im Gemeinde­kontext stärker als beim Sportverein empfunden wird und daher die Abgrenzung deutlicher ausfällt (vgl. Gennerich, 2018, S. 51–53).

Tabelle 2:Barrieren für eine Teilnahme bei der Kirchengemeinde (10–18-Jährige, M = 12,93; 49% männlich, 51% weiblich; N = 795)

Für Kirchengemeinden gilt für mich:

(Angaben in %)

trifft gar nicht zu

trifft eher nicht zu

weder noch

trifft eher zu

trifft völlig zu

M

SD

Das Angebot interessiert mich nicht.

27,2

11,7

16,8

13,8

30,5

3,09

1,60

Ich mache lieber etwas ohne Aufsicht.

31,3

11,2

21,8

10,9

24,8

2,87

1,57

Ich kenne niemand, der dort hingeht.

34,2

17,8

13,3

12,0

22,6

2,71

1,58

Da hinzugehen ist uncool.

36,0

12,4

18,9

11,6

21,1

2,70

1,56

Neben der Schule habe ich dafür keine Zeit.

37,2

14,2

15,8

12,8

20,0

2,64

1,56

Mir ist das zu verpflichtend.

39,8

13,9

19,5

9,5

17,3

2,51

1,51

Ich vertrage mich nicht mit den Jugendlichen dort.

43,9

12,9

22,6

8,6

12,0

2,32

1,41

Mir ist das zu teuer.

62,2

10,5

16,0

3,5

7,9

1,84

1,27

Abbildung 3: Einstellungen zur Kirchengemeinde in Korrelation mit den beiden Werte­dimensionen bei Gennerich (2018, S. 54)

In der Lebensstilperspektive zeigt Abbildung 3, dass für „Autonome“, d.h. für Jugendliche unten/links, die Kirchen­gemeinde keine Option darstellt. Die Struktur der Angebote der Kirchen­gemeinde wird als zu verbindlich und kontrollierend wahrgenommen. Die dortige Lebens­stil­gruppe wird der eigenen gegenüber als fremd beschrieben („uncool“, „kenne niemand“). Das fehlende Interesse ist das Resultat. Mit Blick auf die Altersentwicklung im Feld (siehe Abb. 13) stellt sich diese Differenz einschließlich der Betonung der persönlichen Autonomie, die in der Zurückweisung von Kontrolle zum Ausdruck kommt, auch als entwicklungs­gemäßer Alterseffekt dar, insofern sich im Feld unten/links vor allem die 15- bis 18-jährigen Jugendlichen finden (Gennerich, 2018, S. 21).

Weil der Wunsch, etwas ohne Aufsicht zu machen, auch im Vergleich zu den parallelen Fragen zum Sportverein und zum Jugendzentrum eine besonders deutliche Zustimmung findet, ist hier auf das Potential und möglicherweise auch auf die Grenzen von kirchlichen Jugendverbänden hinzuweisen. Denn anders als in Vereinen, bei denen die Kontrolle durch Erwachsene dominiert, ist bei Jugendverbänden die Aufsichtsfunktion Erwachsener minimiert, da hier Jugendliche sich wesentlich selbst organisieren und verwalten (vgl. Sedlmeier, 2006, S. 158). Andererseits gibt es in der kirchlichen Jugendarbeit eine Mitarbeiter-Teilnehmer-Relation von 1:4 bzw. 1:5, so dass die soziale Kontrolle sehr ausgeprägt sein kann (vgl. Ilg & Kaiser, 2013, S. 281).

Ebenso zeigt sich in Abbildung 3, dass Jugendliche unten/rechts sich nicht mit Jugendlichen vertragen, die in der Kirchengemeinde aktiv sind. Mutmaßlich spielen hier Lebens­stil­differenzen eine wichtige Rolle, die ihre Grundlage bei Jugendlichen unten/rechts in ihrer geringeren Bildung haben (vgl. Gennerich, 2010, S. 56–57). Schwab (1994, S. 155) berichtet über entsprechende Ereignisse in einem kirchlichen Jugend­freizeit­heim, das Anlaufstelle ist für gebildetere kirchliche Jugendliche und weniger gebildete nicht-kirchliche Jugendliche, so dass beide Gruppen aufeinander treffen. Kirchliche Jugendliche sagen dort über die anderen Besucher des Freizeitheims: „Naja, im Freizeitheim, die sinken ja total ab, ich mein, die meisten, die da drin sind, ich mein, die saufen halt nur noch und kiffen...“ Oder: „... da gehen die ganzen Penner von der Hauptschule hin. ...Oh Gott, die Schlimmsten überhaupt, das ist echt der Ausschuß“. Umkehrt urteilen die nicht-kirchlichen Besucher des Freizeit­heims über die Jugendlichen der kirchlichen Jugendarbeit: „Das sind doch nur Idioten, die was da drin sind, das gibt’s ja gar nicht. Da bin ich mal mitgefahren, das waren nur Lutschies, ich schwör’s da konntest du gar nichts machen mit denen, das war Kindertopf.“ – Oder: „Alles die voll Braven und so, lauter Streber“ (Schwab, 1994, S. 155). An derartige Konfliktlagen wird man zu denken haben, wenn Jugendliche unten/rechts von einem „nicht vertragen“ sprechen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der angewendeten Lebensstilanalyse die „Weg­bleiber“ vor allem unten/links in der Lebensstilgruppe der „Autonomen“ lokalisiert werden konnten. Jugendliche in dieser Lebensstilgruppe sind weniger religiös (d.h., sie beten weniger) und formulieren als Grund des Wegbleibens, dass die Angebote der Kirche „zu verpflichtend“ und „zu kontrollierend“ (im Sinne von Aufsicht durch Erwachsene) sind. Insofern diese Jugendliche insgesamt auch weniger „Interesse“ an kirchlichen Angeboten haben, wäre es erforderlich, um diese Jugendlichen zu erreichen, Angebote passend auf sie zuzuschneiden. Zu bedenken ist dabei, dass die Lebensstilgruppe der „Autonomen“ stärker problem­belastet ist als andere Lebensstilgruppen (vgl. Streit mit Eltern, Gewalt, Drogen und Alkohol, Gennerich, 2018, S. 33; depressive Symptome und abweichendes Verhalten, Gennerich, 2010, S. 102 u. 105), so dass Kompetenzen der Sozialen Arbeit in der Arbeit mit diesen Jugendlichen gefragt sind. Das Konzept der „mobilen Jugendarbeit“ erscheint hier angemessen und zielführend. Denn auch in den parallelen Analysen zu Angeboten der Sportvereine und Jugendzentren bei Gennerich (2018) zeigt sich, dass Jugendliche unten/links lieber etwas ohne Aufsicht von Erwachsenen machen und entsprechend schwer durch klassische Angebote der Jugendarbeit, die auf Gruppenangebote basiert, erreicht werden. Krafeld (2005, S. 189) plädiert daher für eine offene Jugendarbeit. Sie zielt darauf, mit einer neuen Angebotsstruktur bisher nicht erreichte Jugendliche anzusprechen. An den sich im Jugendalter bildenden Cliquen orientiert, versucht man, Jugendliche kritisch zu begleiten und Kompetenzen der Alltags­bewältigung zu unterstützen (S. 191). Dabei ist vor allem auf ihre kritische Reserve gegenüber Erwachsenen zu achten. So gehört es zur Erfahrung mobiler Jugend­arbeit, dass mobile Jugend­arbeiterinnen und -arbeiter mit der Frage konfrontiert sind, „was wollen die“, verbunden mit dem Misstrauen, dass es um Kontrolle ihrer Aktivitäten geht (Keppeler, 1997, S. 122). Nach Keppeler sollte daher die pädagogische Arbeit darauf zielen, dass das Angebot der mobilen Jugend­arbeit als eine Optionserweiterung wahrge­nommen wird („was bringen sie uns“, S. 122). Entscheidend sei also, dass der jugendliche Rückzugs­raum erhalten bleibe und die Jugend­arbeiter sich ihrer Gastrolle in der Lebenswelt der Jugendlichen bewusst seien. Das Angebot, z. B. die Hilfe bei der Raumsuche, kann dann die Autonomie der Jugendlichen stärken und dazu beitragen, sie vor Stigmatisierungs­prozessen zu schützen (S. 123).

Mit Blick auf die Lebensstilgruppe der „Statussuchenden“ bedarf es einer alternativen Strategie. Sie gehört ebenfalls zu den „Weg­bleibern“ (vgl. für einen ergänzenden Beleg Gennerich, 2018, S. 80–82), jedoch mit der Begründung sich nicht mit den Jugendlichen in der Kirchengemeinde zu vertragen. In dieser Lebensstilgruppe benennen die Jugendlichen auch häufiger als andere, dass sie Probleme haben, Freunde zu finden und eher als andere Opfer von Gewalt durch Peers sind (Gennerich, 2018, S. 33 u. 37). Hier legt sich nahe, diese Jugendlichen etwa durch Sozialkompetenztrainings zu erreichen. Entsprechende Angebote sind denkbar in der schulbezogenen Jugendarbeit (vgl. z.B. Ellinger, 2010, S. 242).

3.2 Jugendarbeit befindet sich in einer Konkurrenzsituation und ist abhängig von Vertrauensbeziehungen

In meiner Diplomarbeit (Gennerich, 1995) habe ich in einem großen Dorf sämtliche Freizeit­angebote und die Partizipation daran in verschiedenen Perspektiven analysiert. Dazu wurden mit einem Fragebogen 216 Personen des Dorfes in einer repräsentativen Alters- und Geschlechts­verteilung zu ihren Teilnahmeverhalten im Ort befragt (13–84 Jahre, M = 42,63; 45% männlich, 55% weiblich). Einige der analysierten Veranstaltungen können mit ihren Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Wertefeld positioniert werden, weil sie am Veranstaltungs­ort selbst befragt wurden. Abbildung 4 zeigt den Befund (vgl. Gennerich, 2003, S. 61).

Abbildung 4:Faktorscore-Mittelwerte pro Gruppe bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedener Veranstaltungen bzw. Orte (Gennerich, 2003, S. 61)

Abbildung 4 verortet die Teilnehmenden verschiedener Veranstaltungen im Wertefeld. Das durch­schnittliche Alter der Teilnehmenden wurde jeweils zusammen mit der Anzahl der befragten Personen mitangegeben. Es zeigt sich, dass die acht Teilnehmenden der kirchlichen Jugend­gruppe ihren Ort deutlich im Segment oben/links haben. Diese Positionierung dürfte am progressiven Pfarrer des Orts liegen, der hier wohl einen entsprechenden Einfluss auf die Jugendlichen hat. Die Fußballer und Volleyballer liegen erwartungs­konform im Segment unten/links im Bereich der Wertesegmente Leistung und Hedonismus. Die Teilnehmenden der Gymnastik liegen unten/rechts bei den Sicherheitswerten. Gymnastik wird hier zum Erhalt der Gesundheit praktiziert. Die vier Jugendlichen, die auf dem Spielplatz befragt wurden, befanden sich dort in einer Tätigkeit, die man als „rumhängen“ bezeichnen könnte. Sie finden einen extremen Ort im Raum, der besonders stark im Widerspruch zum Ort der Kirchen­vorsteher, die prosoziale und traditionsorientierte Werte vertreten (vgl. auch in Abb. 2 „auf Spiel­plätzen treffen“), steht. Die „mitarbeitenden Eltern im KU“ sind Personen, die an einer neuen Form des Konfirmanden­unterrichts mitwirken. Im vierten Schuljahr wird hier das erste Konfirmanden­unterrichts­jahr in Kleingruppen von Eltern geleitet, die vorher zu Vorbereitungsstunden mit dem Pfarrer zusammen­kommen. In gewisser Hinsicht handelt es sich dabei um ein Gemeinde­aufbau­programm, weil Kirchenmitglieder als Eltern zur Mitarbeit angesprochen werden, die sonst eher weniger Berührungspunkte zum Gemeinde­leben haben. Für die vier erfassten KU-Eltern zeigt sich, dass in der Tat auch Eltern mitarbeiten, die nicht besonders konservativ sind. Insgesamt zeigt die Abbildung, dass die Teilnehmenden der Kirchen­gemeinde in den beiden oberen Segmenten zu suchen sind und die Teilnehmenden des Sportvereins in den beiden unteren (vgl. den äquivalenten Befund bei einer Analyse eines Jugend­kirchentags: Gennerich, 2018, S. 69–83). Mit dem Werteraum lässt sich die Teilnahme an verschiedenen Angeboten im unter­suchten Dorf vorhersagen.

In einer weiteren Perspektive hat Gennerich (1995) die Daten einer Wettbewerbs-Image-Struktur-Analyse nach Trommsdorff (1992) unterzogen. Der Kerngedanke dieser Analyse ist, dass es nicht hinreicht, das Image von einem Angebot isoliert von Konkurrenzangeboten zu analysieren, wenn man zuverlässig die Partizipation am Angebot vorhersagen will. Dafür hat Gennerich (1995, S. 100–103 u. 116) auf der Basis von Interviews zu den Entscheidungs­kriterien bei einem Veranstaltungsbesuch einen Fragebogen mit den relevanten Image­aspekten von Veranstaltungsangeboten entwickelt. Eine Faktorenanalyse entdeckte in einem weiteren Schritt fünf relevante Imagefaktoren. (1) Der erste Faktor beinhaltet die beiden Items „es kommen viele, genug Personen da“ und „ich fühle mich verantwortlich, es ist nötig hervorzutreten“ ab. Er wird „geteilte Verantwortung“ genannt. (2) Die zwei Items („persönlich“ und „Gespräch, Unterhaltung oder Diskussionen möglich“) ergeben in Kombination den Faktor „Möglichkeit zum persönlichen Gespräch“. (3) Einen eigenen Faktor bildet das Item „die ganze Familie kann teilnehmen“. (4) Bei dem vierten Faktor vereinen sich die Items „Spaß, Freude, Vergnügen“, „ich kenne Freunde da“ und „sportlich, Bewegung“. Ich habe diesen Faktor „Freizeitspaß“ genannt. (5) Der Faktor „Alltags­transzendierung“ umfasst schließlich die Aspekte „feierlich“, „es werden Worte gefunden, nach denen die Seele dürstet“ sowie „ernsthaft, Bildung“.

Abbildung 5 zeigt beispielhaft für die Jugendgruppe, dass für sie das Gespräch der wichtigste Image­faktor ist. Es ist in einer Marktperspektive ihr größtes „strategisches Potential“. Darüber hinaus haben die Jugendlichen, die besonderes Gefallen an der Jugend­gruppe haben, gleichzeitig ein höheres Gefühl der Verantwortung und meinen, dass auch genug Personen kommen, um Aufgaben auf verschiedene Schultern zu verteilen. Mit Rück­griff auf die beschriebene Behavior-Setting-Theorie Barkers lässt sich hier annehmen, dass die Tatsache „genug Personen da“ eine „Verantwortungs­über­nahme“ annehmbar macht, so dass beide Items in der angewendeten Faktoren­analyse einen Faktor bilden, der eine positive Motivation für die Teilnahme darstellt.

Die Familiendimension des Fußballs/Volleyballs stellt dagegen eine Imagebedrohung für die Teilnahme­häufigkeit an der Jugendgruppe dar. Dies lässt sich am besten damit erklären, dass für die 13- bis 22-jährigen Jugendlichen im Sportverein zahlreiche Teilnahme­möglich­keiten bestehen. In der Kirchen­gemeinde beschränkt sich das Angebot auf die Jugendgruppe, die schon lange besteht und von den Nichtteilnehmern nicht als Teilnahmemöglichkeit gesehen wird.

Abbildung 5: Strategische Potentiale und Bedrohungen der Jugendgruppe; signifikante β-Gewichte einer Regressionsanalyse zur Vorhersage der Teilnahme und des Gefallens (N = 216; Gennerich, 1995, S. 125)

In einer erweiterten Perspektive ist jedoch nicht nur das Image der Jugendgruppe und der konkurrierenden Gruppen für Teilnahmeentscheidungen bzw. das Wegbleiben relevant, sondern in der Perspektive des Relationship-Marketing sind dies auch und gerade die sozialen Beziehungen (McKenna, 1992; Vavra, 1992). Es wurde daher auch die Beziehung zum örtlichen Pastor über eine Messung der Ähnlichkeit von Selbstbildung und Fremdbild operationalisiert, weil davon auszugehen ist, dass mit Ähnlichkeit Vertrauen und Sympathie einhergeht (Gennerich, 2000, S. 26–27).

Für die Teilnahme an der Jugendgruppe ist neben dem Faktor „Gespräch“ insbesondere die Ähnlichkeit zum Pfarrer auf der für Jugendliche relevanten Wertedimension „Selbst­ent­faltung/Engage­ment“ von Bedeutung. Abbildung 6 gibt diesen Befund wieder. Darüber hinaus zeigt die Abbildung, dass die beiden Imagefaktoren 30% der Varianz des Teilnahme­verhaltens aufklären können. Das ist ein relevanter Anteil der Unter­schiedlichkeit im Teilnahmeverhalten der Befragten.

Abbildung 6: Aufklärung der Teilnahmehäufigkeit an der Jugendgruppe durch Vertrauen und Image; signifikante β-Gewichte einer Regressionsanalyse zur Vorhersage der Teilnahme jeweils für den Einflussfaktor bei den Pfeilen (N = 216; Gennerich, 1995, S. 132)

Bei der Vorhersage des Gefallens gewinnt gemäß Abbildung 7 die Komponente „Geteilte Verantwortung“ noch zusätzliches Gewicht. Dass das Verantwortungsgefühl für das Gefallen eine besondere Rolle spielt, passt gut zur Wertorientierung der Jugendlichen. Die Selbst­entfaltungs­dimension enthält als Teilkomponente das Engagement. Beim „Gefallen“ kann sogar 48% der Varianz aufgeklärt werden. Das liegt daran, dass sich das „Gefallen“ wie auch die Imageaspekte auf der Einstellungsebene befinden und daher aufgrund der Ähnlichkeit der Messungen die Vorhersage statistisch leichter ist.

Abbildung 7:Aufklärung des Gefallens an der Jugendgruppe durch Vertrauen und Image; signifikante β-Gewichte einer Regressionsanalyse zur Vorhersage des Gefallens jeweils für den Einflussfaktor bei den Pfeilen (N = 216; Gennerich, 1995, S. 133)

Zwischenfazit: In der ersten Analyse ließ sich zeigen, dass Jugendliche vor allem während der Alter­sphase von 15 bis 18 Jahren wegbleiben und eher eine Freizeitgestaltung suchen, die nicht durch Erwachsene kontrolliert und normiert wird. Die Imageanalyse von Angeboten einer dörflichen Kirchengemeinde hat gezeigt, dass hier die Position der partizipierenden Jugendlichen deutlich im Feldbereich oben/links lag, was u.a. darauf zurückzuführen ist, dass ein progressiver Pfarrer hier acht Gymnasiasten an sich gebunden hat. Das zeigt sich auch in einer regressionsanalytischen Vorsage der Teilnahme und des Gefallens an der Gruppe, die aufdeckt, dass die Beziehung zum Pfarrer eine wichtige Komponente der Partizipation darstellt. Die Wettbewerbs-Strukturanalyse hat darüber hinaus gezeigt, dass auch kon­kurrie­rende Angebote einen relevanten Effekt auf die Teilnahme haben. Es lässt sich damit festhalten, dass offenbar die kirchliche Jugendarbeit in einer Marktsituation mit kon­kurrierenden Angeboten befindet, so dass es erforderlich ist, zielgruppengenaue Angebote zu konzipieren. Konkurrenz auf dem Mark erfordert eine Abstimmung mit anderen Anbietern von Jugendarbeit und eine bewusste Positionierung des eigenen Angebots.

Insgesamt haben die vorgeführten Befunde aus der dörflichen Kirchengemeinde zum Phänomen des Wegbleibens Folgendes gezeigt: (1) Die Lokalisation der Jugendgruppe zeigt, dass diese relativ umstandslos in der oberen Feldhälfte sowohl beim Pol „Bewahrung“ wie beim Pol „Offen­heit für Wandel“ positioniert werden kann (so auch der Befund bei Gennerich, 2018, S. 81, zur Teilnahmestruktur an einem Jugendkirchentag). Die Frage ist hier, ob nicht auch Positionierungen in den unteren Feldbereichen möglich wären. Denn es gilt nach Hirschman, dass passende Angebote die Bereitschaft steigern, einen höheren Aufwand für die Teilnahme in Kauf zu nehmen. (2) Was die Konkurrenz macht, hat einen Einfluss auf die Teilnahme­wahr­schein­lich­keit. Es ergibt sich, dass es nicht günstig ist, in einem Ort oder einer Region Angebote ohne Abwägung parallel zu andern Angeboten zu positionieren, weil dann für beide Angebote die potentiell Teilnehmenden weniger werden. Besser ist die Suche nach einer Nische ohne Konkurrenz­angebote für die Positionierung des eigenen Angebots, weil dann die Qualität alternativlos ist und die Bereitschaft steigt, höhere Kosten für die Teilnahme in Kauf zu nehmen. (3) Ausgehend von dem Konzept der Loyalität bei Hirschman und dem Ansatz des Relation­ship-Marketings kann darüber hinaus angenommen werden, dass die Entwicklung von vertrauens­vollen Beziehungen die Wahrscheinlichkeit steigert teilzunehmen bzw. ein „Weg­bleiben“ unwahr­scheinlicher macht. (4) Im Regelfall dürfte bei den typischen Weg­bleibern davon auszugehen sein, dass ihnen wenig an den Angeboten liegt. Es empfiehlt sich daher, dass entweder wie im Fall des Vertrauens oder wie im Fall einer passendenden Qualität Angebote so weiterzuentwickeln, dass nicht bereits geringe „Kosten“ zum Wegbleiben führen. (5) Besonders auffällig zeigte sich hier des Weiteren bei der analysierten Jugend­gruppe, dass die möglichst optimale Besetzung des Settings eine bedeutsame Rolle für die Teilnahme­entscheidungen spielt. Besonders interessant ist, dass in den qualitativen Interviews, in denen ich die Aspekte exploriert habe, die zur Entscheidung einer Teilnahme führen, der Faktor „genug Teilnehmer da“ unabhängig von einer Kenntnis der Theorie Barkers formuliert wurde. Relevant scheint hier zu sein, dass man Settings, die nicht genug Teilnehmende zum Kommen bewegen, grundsätzlich in Frage stellt und Alternativen abwägt.

3.3 Und wer bleibt beim Weihnachtsgottesdienst weg?

In der fünften EKD-Studie wurde schließlich danach gefragt, warum die Befragten ggf. nicht am Weihnachtsgottesdienst teilgenommen haben. Tabelle 3 dokumentiert den Befund.

Tabelle 3: Mittelwerte (und Streuungen) der Begründungen des Wegbleibens vom Weihnachtsgottesdienst in der fünften EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaft

Meinung zum Heiligabend: Warum besuchen Sie an Heiligabend keinen Gottesdienst? An Heiligabend besuche ich keinen Gottesdienst, weil ...

14- bis 25-Jährige (N = 57)

26- und Ältere (N = 207)

es mir in der Kirche an Heiligabend zu voll ist.

2,91 (1,14)

2,62 (1,28)

es zeitlich nicht in den Ablauf des Abends passt.

2,54 (1,18)

2,60 (1,29)

ich keinen Bezug zur Kirche habe.

2,12 (1,05)

1,64 (1,01)

ich allein zur Kirche gehen müsste.

2,07 (1,05)

1,87 (1,16)

mir der Stil der angebotenen Gottesdienste nicht gefällt.

1,84 (1,01)

1,51 (0,88)

ich in der Vergangenheit schlechte Gottesdienste erlebt habe.

1,70 (0,98)

1,44 (0,83)

es mir aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist.

1,32 (0,74)

1,60 (1,12)

Tabelle 3 zeigt, dass sowohl bei den Jugendlichen wie bei den Erwachsenen „Kosten“ für den Nichtbesuch angeführt werden. D.h., der Weihnachtsgottesdienst ist für die Nicht-Besucher schlicht nicht relevant. Die Qualitätsitems zu Stil und schlechter Qualität in der Ver­gangen­heit finden dagegen kaum Zustimmung. Will man dies ändern, müssten vergleichbar zur mobilen Jugendarbeit radikal alternative Weihnachts(gottesdienst)konzepte entwickelt werden, die von der Qualität her zu weniger traditionellen Personen passen, so dass die Kosten für sie nicht mehr auschlaggebend sind (vgl. zu Perspektiven, Weihnachten jenseits der Konven­tionen plural zu denken, Fuchs, 2017; Odenthal, 2015).

4 Abmelden

In einer Wertefeldanalyse zeigen Gennerich, Riegel und Ziebertz (2008), dass Jugendliche im religiös-affinen Wertefeldbereich oben/rechts am meisten Zustimmung zum Religions­unterricht signalisieren, wohingegen Jugendliche im Feldbereich unten/links ihre Ablehnung des RU ausdrücken. In der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie wird nun vergleichbar nach den Erfahrungen mit dem Religionsunterricht und der Christen­lehre gefragt. Eine Wertefeld­analyse ist hier möglich, weil eine inhaltlich repräsentative Auswahl von Werteitems angeboten wurde (siehe Gennerich, 2001, für Details zum berechneten Wertefeld). Die folgenden Abbildungen 8 bis 10 zeigen die Befunde.

Abbildung 8: Erfahrung mit dem Religionsunterricht in Korrelation mit den Werte­dimensionen in der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie (N = 1744)

Abbildung 8 zeigt, dass vor allem im Bereich oben/links die Befragten den Religions­unterricht attraktiv fanden (z.B. „RU hat mich dem Glauben näher gebracht“). Im Feldbereich unten/links wird der Religionsunterricht dagegen gar nicht geschätzt („RU war für mich vertane Zeit“).

Abbildung 9: Erfahrung mit der Christenlehre in Korrelation mit den Wertedimensionen in der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie (N = 315)

Abbildung 9 zeigt, dass vor allem im Bereich oben/rechts die Befragten die Christenlehre attraktiv fanden (z.B. „in CL manches wichtige gelernt“). Im Feldbereich unten/links wird die Christenlehre dagegen gar nicht geschätzt („CL war für mich vertane Zeit“). Im Vergleich zu Abbildung 8 liegt die Position der Items zur Christenlehre minimal weiter links.

Dieser Befund spiegelt sich nun auch in der tatsächlichen Teilnahme (siehe Abb. 10).

Abbildung 10:Faktorscores beider Wertedimensionen der vier möglichen Gruppen bezogen auf den Besuch des Religionsunterrichts (RU) und der Christenlehre (CL) in der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie

Abbildung 10 zeigt, dass der Religionsunterricht von den meisten Befragten besucht wurde und keine besondere Profilierung zeigt. Die Christenlehre weist demgegenüber eine klare Profilierung im Bereich oben/rechts auf und diejenigen, die keinen Unterricht besucht haben, lokalisieren sich vor allem unten/links.

Zusammenfassend wäre also davon auszugehen, dass das Phänomen der Abmeldung primär im Lebens­stil­bereich unten/links verortet ist, d.h. einem Bereich, in dem das Interesse an Religiosität am geringsten ist ebenso wie die Bereitschaft, „Kosten“ für eine Teilnahme in Kauf zu nehmen. Unter den möglichen Kosten wäre hier aufzuführen, dass ggf. schlechtere Noten in Kauf genommen werden oder man auch bereit ist, Unterrichtsangebote zu besuchen, die auf Randstunden gelegt sind. Ob und wie sich Schülerinnen und Schüler beim Phänomen der Abmeldung verhalten, haben Gennerich und Zimmermann (2016) genauer untersucht.

Gennerich und Zimmermann (2016) haben die Abmeldung vom Religionsunterricht anhand von Verwaltungsstatistiken und mit Blick auf die Erfahrungen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler und der Lehrerinnen und Lehrer unter­sucht. Tabelle 4 zeigt, wie bei den Schülerinnen und Schülern (N = 325; 10–19 Jahre, M = 14,88; 49% männlich, 51% weiblich) unterschiedlichen Begründungen für die Abmeldung zuge­stimmt wird. Globale inhalts­bezogene Items („Die Themen im Ethik­unter­richt/Philo­sophie­unterricht waren interessanter“) finden die höchste Zustimmung gefolgt von konkreten inhaltsbezogenen Items („In den Interpretationen der Bibel und des Lebens im Religionsunterricht kann ich mich nicht wiederfinden“). Inhaltsunabhängige Begründungen wie Noten, Uhrzeiten und Konflikte in der Klasse sind weniger relevant.

Tabelle 4: Gründe für die Abmeldung (Häufigkeiten, Mittelwerte, Streuung) bei vom RU abgemeldeten Schülerinnen und Schülern (Gennerich & Zimmermann, 2016, S. 87)

Du findest mögliche Gründe in dieser Liste, die damals zu Deiner Abmeldung aus dem Religionsunterricht geführt haben können. Wie stark treffen diese Gründe auf Dich zu?

Trifft gar nicht zu

Trifft sehr zu

M

S

Die Themen im Ethikunterricht/Philosophieunterricht waren interessanter.

5

11

18

29

37

3,80

1,20

Die Themen im Religionsunterricht haben mich nicht mehr interessiert.

4

13

17

32

34

3,79

1,16

Der Religionsunterricht ist langweilig.

7

8

22

31

33

3,76

1,18

In den Interpretationen der Bibel und des Lebens im Religionsunterricht kann ich mich nicht wiederfinden.

8

12

22

20

38

3,68

1,30

Der Stoff des Religionsunterrichts hatte nichts mit der Wirklichkeit außerhalb der Schule zu tun.

11

14

23

27

25

3,41

1,30

Für das, was ich denke und fühle, sind mir im Religions­unterricht keine Texte, Bilder oder Argumente begegnet.

13

11

30

23

23

3,33

1,30

Der Lehrer/die Lehrerin im Ethik-/Philosophieunterricht war besser.

17

14

21

22

26

3,26

1,42

Ich glaube nicht mehr an Gott.

26

15

14

11

34

3,12

1,63

Ich musste Dinge lernen, die ich nicht für richtig halte.

23

19

16

20

22

2,98

1,48

Mein früherer/meine frühere Religionslehrer/in lag mir nicht.

29

17

17

15

22

2,83

1,53

Meine Freunde waren auch im Ethik-/ Philosophieunterricht.

31

17

22

17

13

2,62

1,40

Die Noten im Ethik-/Philosophieunterricht waren besser.

38

17

28

7

10

2,33

1,31

Ich habe ärgerliche Erfahrungen mit der Kirche außerhalb der Schule gemacht.

63

17

8

6

6

1,76

1,21

Die Klasse im Religionsunterricht hat mir nicht gefallen.

68

14

10

3

5

1,63

1,10

Der Religionsunterricht fand zu einer ungünstigen Uhrzeit statt.

81

4

8

2

5

1,44

1,04

Ich hatte Konflikte mit früheren Mitschülern des Religionsunterrichts.

85

9

2

2

2

1,27

0,79

Weiterführend stellen Gennerich und Zimmermann (2016) die Frage, ob die Begründungen für die Abmeldung feldabhängig sind? Um diese Frage zu beantworten, haben sie die Bedeutungs­struktur von 16 Antwort­vorgaben zur Begründung der Abmeldung analysiert. Das ist möglich, indem die 16 Begründungsitems korrelativ mit den beiden Werte­dimensionen in eine Beziehung gesetzt werden. Das Ergebnis der Analyse ist in Abbildung 11 dargestellt.

Abbildung 11: Korrelation der ipsatierten Begründungsitems mit den beiden Werte­dimensionen bei Gennerich und Zimmermann (2016, S. 100)

Abbildung 11 zeigt, dass abhängig von ihren Werthaltungen die Abmelder unterschiedliche Begründungs­muster ihrer Entscheidung präferieren. Zur Analyse wurden dabei die Rohdaten vor der Berechnung der Korrelationen ipsatiert. D.h., von jedem Ratingwert wurde der Mittelwert aller Begründungsitems subtrahiert, um die relative Präferenz von Begründungen gegenüber den anderen vorgegebenen Begründungen darzustellen.

Die Ergebnisse im Detail: Im Bereich oben/rechts werden vor allem soziale Gründe für eine Abmeldung akzeptiert, wie Konflikte mit Mitschülerinnen oder Mitschülern, ein Missfallen der Klasse oder im positiven Sinne Freundinnen und Freunde, die sich abgemeldet haben. Dieser erste Abmeldertyp benennt offenbar primär keine Ursachen, die im Religionsunterricht selbst begründet liegen. Da die deskriptive Analyse der Items in Tabelle 4 gezeigt hat, dass generell Freund­schafts­beziehungen gegenüber Konflikten häufiger als Begründungen genannt werden, steht ein der­artig begründeter Wechsel in einem relativ spannungsfreien Verhältnis zur religiösen Selbst­verortung dieser Schülerinnen und Schüler. Dies entspricht durchaus der konservativ-prosozialen Werthaltung dieses Bereichs, die mit einer besonderen Nähe zur Kirche und kirchlichen Aktivitäten einhergeht (vgl. z.B. Feige & Gennerich, 2008, S. 125).

Im Feldbereich unten/rechts lokalisieren sich ebenfalls Gründe, die die Abmeldung nicht im Religionsunterricht selbst verorten. Hier profiliert sich besonders stark die Uhrzeit des Religions­unterrichts, die Noten und der Lehrer im Ethik- bzw. Philosophieunterricht. Der bessere Lehrer bzw. die bessere Lehrerin werden dabei am häufigsten genannt (siehe Tab. 4). Die Gründe haben daher einen tendenziell eher äußerlichen, inhalts­unab­hängigen Charakter.

Im Feldbereich unten/links lokalisieren sich vor allem Begründungsfiguren, die die persönliche Distanz zum Glauben dokumentieren: Besonders klar signalisiert dies das Item „Ich glaube nicht mehr an Gott“. Aber auch Ärger über die Kirche hat einen distanzierenden Charakter gegenüber Glaubensdingen. Ebenso drückt die Ansicht, dass der Religions­unterricht nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun habe, eine solche Distanz aus.

Im Feldbereich oben/links schließlich werden Überzeugungskonflikte bezogen auf die Inhalte des Unterrichts genannt. Auch hier sind es also inhaltliche Gründe, die mit dem Religions­unterricht direkt zusammenhängen. Darüber hinaus werden hier die Religions­lehrerinnen und -lehrer als Ursache und das Interesse an Themen des Ethik- und Philosophie­unterrichts genannt. Das deutet darauf hin, dass hier keine prinzipielle Distanz zum christlichen Glauben wie im Feldbereich unten/links vorliegen muss.

Es zeigt sich damit insgesamt, dass die konventionelle Inhaltsstruktur des Religions­unterrichts für Schüle­rinnen und Schüler mit autonomieorientierten Werten am Pol „Offenheit für Wandel“ einen wichtigen Grund der Abmeldung darstellt. Die konservativeren Schülerinnen und Schüler neigen dagegen weniger dazu, ihre Abmeldung inhaltlich zu begründen. Für sie spielen Konflikte mit Mitschülerinnen und Mitschülern, Noten und die Platzierung des Religions­unterrichts in Randstunden die größere Rolle. Die besonders gängigen Begründungen „Interesse/Langeweile“ differenzieren dagegen nicht zwischen den Typen. Offenbar handelt es sich um sehr allgemeine Kategorien, die von sehr unter­schied­lichen Schülerinnen und Schülern herangezogen werden können.

In Anwendung des Modells von Hirschman (1974) können Lernende als Mitglieder der Organisation „Religions­unterricht“ verstanden werden. Die Abmeldung (exit) wäre dann eine Reaktion auf die Verschlechterungen der Qualität des Unterrichts im Sinne einer guten Entsprechung der Unterrichtseigenschaften und den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler. Der Abmeldungen gegenüberstehende loyalitätsbegründete „Wider­spruch“ (voice) wäre zu verstehen als kritische Partizipation im Unterricht, bei der die eigene Perspektive so zur Geltung gebracht wird, dass ein persönlicher Entwicklungsfortschritt erzielt werden kann. Religionsdidaktisch ist nun freilich der „Widerspruch“ wünschenswert und es stellt sich die Frage, welche Faktoren die Entscheidung für die Optionen „Abmeldung“ oder „Wider­spruch/kritische Partizipation“ bedingen.

Wie oben erläutert, stellen nach Hirschman die „Kosten“ und die „Qualität“ die entscheidenden vermittelnden Variablen dar, die beeinflussen, ob sich in unserem Fall die Schülerinnen und Schüler für die Abmeldung oder die kritische Partizipation entscheiden. So erscheint es als ein Kostenproblem, wenn im schulischen Religions­unterrichts nicht jeder Widerspruch zum Erfolg führt: „Ich wollte immer diskutieren, was im Religions­unterricht nicht gerne gesehen wurde, da ich immer so kritisch war. Als dann noch die Geschichte mit den Missbrauchs­vorwürfen kam, wollte ich mich von der Kirche erst mal distanzieren, da dieses Thema im Religionsunterricht auch nie von der Lehrkraft angesprochen wurde, obwohl ich dieses Thema angerissen habe“ (S-Pbn 286). Gegenüber solchen Erfahrungen könnte jedoch der Widerspruch nach Hirschman durchaus bei niedrigen Kosten sehr wirksam sein. Daraus folgt, dass die Schülerinnen und Schüler zum kritischen Widerspruch ermutigt werden müssten und so entdecken könnten, dass sie ihren Religions­unterricht verändern können. So schätzen Lehrerinnen und Lehrer den Wider­spruch durchaus und schreiben ihm möglicher­weise mehr als die Schülerinnen und Schüler dies tun, eine wichtige Rolle zu: „Schade! (Häufig sind es sehr reflektierte, kritische Schüler, die sich vom RU abmelden, weil sie von der Institution enttäuscht sind)“ (L-Pbn 47) oder „Schade, meist fehlt ein interessanter ‚sperriger‘ Kopf, oft kluge Jugendliche“ (L-Pbn 49). Eine kritische Partizipation wird also seitens der Lehrerinnen und Lehrer durchaus gewünscht (gegen­teilige Äußerungen finden sich unter den zitierten freien Äußerungen nicht).

Für den Fall, dass einer Schülerin oder einem Schüler besonders wenig am Angebot gelegen ist, kann des Weiteren angenommen werden, dass sie oder er bei einer „Kosten­erhöhung“ am ehesten aussteigt, – zum Beispiel wenn der Religionsunterricht auf Rand­stunden gelegt wird oder die Leistungsanforderungen steigen. Unsere Befragung hat in dieser Beziehung jedoch aufdecken können, dass aus Schülersicht die „Kosten“ keine bedeutsame Motivations­quelle für die Abmeldung darstellen. So wird der Grund der Uhrzeit des Religions­unterrichts von den Abmeldern mit einem Mittelwert von M = 1,44 deutlich abgelehnt. Auch die Begründung „Noten“ – und der damit implizit verbundene Lern­aufwand für das Fach Religion – wird eher abgelehnt (M = 2,33). Demgegenüber benennen die Schülerinnen und Schüler die Qualität des Religionsunterrichts jedoch als hoch bedeutsame Ursache der Abmeldung („langweilig“ M = 3,76; „Themen“ M = 3,79; „sich nicht widerfinden können in den Interpretationen der Bibel und des Lebens“ M = 3,68). Es lohnt sich daher die Variable der Qualität näher zu betrachten.

Denn nach Hirschman gibt es Personen, die gegenüber Qualitätsveränderungen besonders empfindlich sind, jedoch unempfindlich gegenüber Aufwandserhöhungen. Dabei mag man zuerst im Fall des Religions­unterrichts an die religiösen Schülerinnen und Schüler denken, denen der Religions­unterricht nicht fromm genug ist. Die allgemein sehr hohe Bejahung von inhaltlichen Gründen für die Abmeldung legt jedoch die Annahme nahe, dass für Lernende generell die Qualitäts­variable von entscheidender Bedeutung ist. Es sei daher im Folgenden das damit angesprochen Passungsproblem näher in den Blick genommen.

Wir haben gezeigt, dass im Wertefeld vor allem die Schülerinnen und Schüler auf der linken Feldhälfte inhaltliche Differenzen und damit Qualitätsmerkmale des Religions­unterrichts für ihre Abmeldung anführen (vgl. Abb. 11). Offenbar werden also durch den Religions­unterricht besonders Schülerinnen und Schüler mit Werten für „Offenheit für Wandel“ schlechter erreicht als konservativere Schülerinnen und Schüler. Wie Gennerich und Zimmermann (2018, S. 110) zeigen, unterschätzen jedoch die Lehrenden die Relevanz der inhaltlichen Merkmale des Unterrichts für die Lernenden. Könnte es sein, dass die Lehrerinnen und Lehrer die Schülersicht nicht für „eigentlich“ verhaltensrelevant halten?

Ob sich die ausgedrückten inhaltlichen Differenzen zum Religionsunterricht nun auch im Handeln der Schülerinnen und Schüler auf der linken Feldhälfte zeigen und somit als „echte“ Gründe zu werten sind, kann empirisch genauer geklärt werden. So erlauben Daten aus Baden-Württemberg für Gymnasien eine Darstellung der Entwicklung von der 5. bis zur 13. Klasse über 10 Jahre hinweg. Die Abbildung 12 stellt über zwei Schuljahre gemittelt die Befunde von Gennerich und Zimmermann (2018, S. 37) dar:

Abbildung 12: Abmeldungen aus dem ev. RU an Gymnasien in Baden-Württemberg (Mittelwerte der Schuljahre 2001/02 und 2010/11)

Von der 9. bis zur 13. Klasse nimmt die Zahl der evangelischen Schülerinnen und Schüler, die sich aus dem Religionsunterricht abgemeldet haben, im Durchschnitt zu. Die Abmelde­quote zeigt also etwa mit dem 15. Lebensjahr einen deutlichen Sprung auf über 10 Prozent. Zwischen der 9. Klasse und der 13. Klasse liegt die Abmeldequote an Gymnasien in Baden-Württemberg dann bei durchschnittlich 18 Prozent bezogen auf die Gesamtzahl der Abgemeldeten in den dargestellten Schuljahren.

Dieser Verlauf lässt sich nun auch im Wertefeld darstellen. Eine Jugendstudie aus Bamberg mit mehr als 3000 Befragten erlaubt eine Beschreibung der Altersentwicklung im Wertefeld (siehe Gennerich, 2010, S. 428-429): Abbildung 13 zeigt, dass Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr deutlich stärker als 13- bis 14-Jährige autonomieorientierte Werte am Pol „Offenheit für Wandel“ bejahen. Dies gilt sowohl für männliche als auch weibliche Jugendliche. Dieser Befund fällt mit der erhöhten Abmeldequote vom Religionsunterricht zusammen. Es sind also die 15- bis 19-Jährigen, die eher als die jüngeren Schülerinnen und Schüler die Erfahrung machen, dass der Religionsunterricht an ihren persönlichen Fragen und Bedürfnissen vorbeigeht. Der Stoff des Religionsunterrichts wird offenbar als im Wider­spruch stehend mit persönlichen Bedürfnissen nach Autonomie erfahren und entsprechend melden sie sich ab. Es spricht also alles dafür zu fragen, wie die 15- bis 19-Jährigen besser erreicht werden können bzw. wie Lernenden auf der linken Feldhälfte Perspektiven des Persönlichkeitswachstums und der Freiheit im Religionsunterricht erschlossen werden können.

Abbildung 13:Geschlechts­spezifische Entwicklung im Wertefeld anhand der Faktor­score-Mittel­werte der Bamberger Jugendstudie 1996 (12–30jährige; N = 3275; aus Gennerich, 2010, S. 52)

Zusammenfassend zeigt sich für das Phänomen der Abmeldung, dass eine Abmeldung vom Religions­unterricht nicht ausschließlich nach der Logik funktioniert, dass etwa die wenig religiösen Schülerinnen und Schüler die Zumutung eines Religions­unterrichts meiden, der auf Rand­stunden gelegt ist. Sondern es wird deutlich, dass der Religions­unterricht von der inhaltlichen Angebotsgestaltung her nicht die adoleszente Autonomie­ent­wicklung in einem hinreichenden Maße nachvollzieht. Da die befragten Lehrerinnen und Lehrer von diesem Phänomen offenbar nichts ahnen, könnte eine Entwicklungsperspektive in der Tat darin liegen, die progressiven Aspekte z.B. der biblischen Tradition besser und offensiver heraus­zustellen, ohne freilich sich einseitig gegen die eher konservativen Schülerinnen und Schüler zu stellen. Es müssten hier die Unterrichtsangebote inhaltlich pluraler gestaltet werden, so dass das Angebot der tatsächlichen Heterogenität der Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler gerecht wird.

5 Austreten

5.1 Der Austritt aus dem Jugendverband

Teutenberg (2014) ist der Frage nachgegangen, warum Jugendliche den DPSG (Deutsche Pfad­finderschaft Sankt Georg) verlassen. Auffällig ist nach ihren Befunden, dass anders als die befragten Leiterinnen und Leiter in der Verbandsarbeit, die die Ursachen in externen Gründen sehen (andere Freizeitangebote, Schulstress oder ein schlechtes Image der DPSG), die ehemaligen Mit­glieder interne Gründe benennen, und zwar, dass das Programm zu unstrukturiert und „unpfad­finderisch“ war (z.B. Kickern und Döner essen, statt in die Natur gehen), dass die Leiterinnen und Leiter mit der Gruppe keine Aktivitäten erarbeiten konnten (z.B. dass die Leiterinnen und Leiter sich gegen­über destruktiven Verhaltensweisen von Gruppen­mitgliedern nicht durchsetzen konnten) und dass durch eine rigide Handhabung von Alters­grenzen bei den Gruppen Freundschaften mit den eigenen Peers nicht aufrechterhalten werden konnten. Kurz, die ausgetretenen Jugend­lichen haben den Verband dem Modell von Hirschman entsprechend nicht wegen der hohen Kosten verlassen, sondern weil ihnen wichtige Qualitätsmerkmale verloren gegangen sind. Eine befragte Jugendliche ist sogar zu einem evangelischen Jugendverband gewechselt, weil sie dort schon mit 16 Jahren Leitungs­(mit)verantwortung übernehmen konnte. Die Mitgliedschaft darf also etwas kosten (z.B. Weg­strecken, Verantwortungs­übernahme, anstrengendes Zeit­manage­ment), wenn die Qualität stimmt.

Mit Rekurs auf die Theorie von Barker lässt sich des Weiteren erklären, warum überhaupt die beschriebene Leitungsproblematik auftritt. Wenn es weniger Teilnehmende sind, dann können und müssen Personen mit abweichendem Verhalten eher toleriert werden, jedoch muss diesem Verhalten entsprechend häufiger entgegengesteuert werden, womit jugendliche oder ehrenamtliche Leiterinnen und Leiter mitunter über­fordert sind. Das Phänomen ist kein Einzelfall. So findet Schmidtchen (1973, S. 37) in seiner Unter­suchung, dass mit zunehmender Gemeinde­größe der Konsistenzdruck steigt, „das heißt das Bedürfnis, sein Verhältnis zur Kirche möglichst konsistent zu regeln: wenn man Widersprüche zwischen Kirche und Gesellschaft empfindet, dann der Kirche fernbleiben; und sich der Kirche zuwenden, wenn man die Wertsysteme als kongruent betrachten kann. Je größer die Gemeinde, desto mehr werden die Denk- und Gefühls­systeme bereinigt.“ Diese Tendenz zur Homogenität lässt sich mit Barker als Ergebnis folgender Mechanismen erklären: 1) Ein Behavior Setting gibt allen Teilnehmenden einen ähnlichen Input. 2) Die Motive und Erfahrungen der eintretenden Personen sind ähnlich. 3) Teilnehmende mit inadäquatem Verhalten werden durch das Behavior Setting ausgeschlossen. 4) Personen wählen Behavior Settings, die ihre Motive befriedigen und ihrem kognitiven Stil entsprechen (Barker, 1968, S. 196). Die Homogenität in unter­besetzten Settings ist dagegen geringer, weil Programm­abweichungen durch Abweichungs­korrekturen beantwortet werden und weniger durch Ausschluss von Teil­nehmenden (s.o.). So sind die inter­individuellen Differenzen größer, wodurch wiederum der Input für die Teilnehmenden verschieden­artiger ist und verschieden­artigere Motive durch das Setting befriedigt werden können. Das steigert die Komplexität und fordert entsprechende Leitungskompetenzen. Jugendliche bzw. ehrenamtliche Leiterinnen und Leiter können entsprechend überfordert sein, so dass Verbandsmitglieder aufgrund der unbefriedigenden Gruppensituation austreten.

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Sachverhalte sich auch beim Kirchenaustritt nachweisen lassen. Hier stehen neben einer Längsschnittstudie von Birkelbach (1999) und einer Interview­studie von Ebertz, Eberhardt und Lang (2013) Daten aus der dritten und fünften EKD-Studie zur Kirchen­mitgliedschaft zur Verfügung, die wir im Folgenden betrachten wollen.

5.2 Der Austritt aus der Kirche

In einer Längsschnittstudie konnte Birkelbach (1999) relevante Zusammenhänge für die Entscheidung zum Kirchenaustritt belegen. Demnach traten etwa 24 Prozent einer Kohorte von Gymnasiasten bis zum 43. Lebensjahr aus der Kirche aus (N = 1596 zur Wieder­befragung im 43. Lebensjahr). Auffällig sind die Muster des Austritts: die Katholiken traten biographisch später aus der Kirche aus als die Protestanten, bei denen der Austritt stärker an den Berufseintritt gekoppelt ist (S. 142–145). Jedoch zeigen sich auch im Zusammenhang mit der Einführung des Solidaritätszuschlags vermehrte Kirchenaustritte bei den Katholiken, so dass eben nur wegen der etwas stärken Kirchenbindung der Katholiken das ökonomische Motiv zeitlich später greift (S. 151). Auch zeigt sich, dass ein Unterschied zwischen Frauen und Männern erst nach dem 30. Lebensjahr nachweisbar ist, wobei die Männer dann etwas häufiger austreten. Es legt sich nahe, dass Frauen in der Kirche bleiben, wenn sie wegen der Kinder beruflich kürzer treten und so die Dienstleistungen der Kirche bei geringer oder keiner Kirchensteuer in Anspruch nehmen können. Wohingegen die Männer aus „familien­ökonomischen“ Gründen austreten, ohne einen nennenswerten Verlust an Dienstleistungen zu empfinden (S. 148). Nach Birkelbach sind es demnach im Wesentlichen ökonomische Motive, die den Kirchen­austritt bedingen.

Ebertz, Eberhardt und Lang (2013) differenzieren sechs verschiedene Austrittsprozesse, die sich im Anschluss an die Theorie von Hirschman durchaus in zwei grobe Gruppen differenzieren lassen. Die „Kirchenfernen (1) und die „Herausgezogenen“ (2) verlassen letztendlich wegen einer geringen Wichtigkeit ihre ehemalige Kirche in einer Situation, in der die Kosten ihnen zu hoch werden (sei es dass „Kirchenferne“ Kirchensteuern zahlen müssen oder dass die alte Mitglied­schaft der „Herausgezogenen“ in einer „neuen Gemeinde“ in Frage gestellt wird). In vier weiteren Typen spielen dagegen Qualitätsgesichtspunkte eine relevante Rolle: Bei den „engagierten Umdenkern“ (3) wird die Kirche in Folge eines vertieften Kennen­lernens als „nicht authentisch“ erlebt; bei den „Befreiten“ (4) wurde die Kirche als Zwang erlebt und bot keine Antworten auf die persönlichen Fragen; bei den „Enttäuschten“ (5) handelt es sich um Engagierte mit zunächst positiven Einstellungen, die in ihren Erwartungen enttäuscht werden; und bei den „Kurzeinsteigern“ steht der Austritt am Ende eine intensivierten Kirchen­beziehung, die zur Erkenntnis der persönlichen Distanz geführt hat. Soweit eine solche Interpretation der Typenbildung zulässig ist, finden sich demnach sowohl Ausgetretene, die aufgrund der Kosten aussteigen, wie solche, die aufgrund der Qualität aussteigen.

In der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie findet sich eine Teilstichprobe von 974 Jugend­lichen im Alter von 14 bis 25 Jahren. Von diesen geben 24 Jugendliche an, aus der Kirche ausgetreten zu sein. Darüber hinaus wurden 360 Ausgetretene gefragt, die 26 Jahre und älter waren. Wir betrachten zunächst deren Positionierung im Wertefeld, das sich für diese Mitglied­schaftsstudie berechnen lässt (vgl. Gennerich, 2001). Wie nun die Ausgetretenen, aber auch die schon immer Konfessionslosen und evangelische Kirchen­mit­glieder im Feld liegen, veranschaulicht Abbildung 14. Es zeigt sich, dass die Jugendlichen insgesamt im Feldbereich unten/links liegen, wobei die Kirchenmitglieder von ihnen in Relation zu den Nicht-Mitgliedern (Ausgetretene und schon immer Konfessionslose) mehr in Richtung oben/rechts verortet sind. Bei den Erwachsenen, die insgesamt mittiger lokalisiert sind, zeigt sich, dass die Kirchen­mitglieder oben/rechts liegen und die Nicht-Mitglieder (Ausgetretene und schon immer Konfessionslose) weiter in Richtung unten/links.

Abbildung 14: Plot der Faktorscores auf den Wertedimensionen von Ausgetretenen, immer Konfessions­losen und Kirchenmitgliedern differenziert nach Jugendlichen und Erwachsenen in der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie

Im zweiten Schritt können wir fragen, welche Austrittsgründe die Befragten benennen. Tabelle 5 dokumentiert die Zustimmungshäufigkeiten für die verschiedenen Gründe.

Tabelle 5:Mittelwerte für die Austrittsgründe für Jugendliche und Erwachsene in der dritten EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaft 

Austrittsgründe

14- bis 25-Jährige

(N = 24/6)

26- und Ältere

(N = 360/214)

Spare Kirchensteuer

5,54 (2,09) (N = 24)

4,67 (2,42) (N = 360)

Brauche keine Religion

5,33 (1,66)

5,03 (2,08)

Kirche ist mir gleichgültig (N = 24)

5,25 (2,03)

5,20 (2,01)

Orientierung an ethischen Werten

5,17 (1,99)

4,91 (2,08)

Kann mit Glauben nichts anfangen (N = 24)

5,04 (2,01)

4,88 (2,16)

Ärger über kirchliche Stellnahmen

4,92 (2,45)

3,43 (2,32)

Finde Religion unglaubwürdig

4,63 (2,00)

4,37 (2,04)

Christlich auch ohne Kirche

4,38 (2,45)

4,35 (2,28)

Freunde, Bekannte nicht in der Kirche

3,96 (2,27)

3,16 (2,11)

Ärger über Mitarbeiter

3,29 (2,18)

2,31 (1,87)

Habe andere Überzeugung gefunden

1,92 (1,38)

1,77 (1,56)

"Kirche" u. "DDR" waren unvereinbar (N = 6)

1,67 (1,63) (N = 6)

2,93 (2,30) (N = 214)

Wurde politisch unter Druck gesetzt (N = 6)

1,00 (0,00) (N = 6)

2,07 (1,86) (N = 214)

Scheu vor Auseinandersetzungen (N = 6)

1,00 (0,00) (N = 6)

2,66 (2,25) (N = 214)

Tabelle 5 zeigt für die Gruppe der Jugendlichen, dass der primäre Grund des Austritts die gesparte Kirchensteuer ist. Gleichzeitig wird die Kirche im persönlichen Leben als nicht wichtig gekennzeichnet. „Ärger“ über die Qualität von Inhalten und Mitarbeitern spielt dem­gegen­über eine zweitrangige Bedeutung. Bei den Erwachsenen verhält es sich im Prinzip vergleich­bar, wobei hier die Kirchensteuer und die anderen Gründe minimal zurückhaltender bejaht werden. Die Items, die bezogen auf Befragte in den neuen Bundesländern formuliert wurden, finden auch dort nur eine eher geringe Zustimmung.

Durch Korrelation mit den Wertedimensionen können Begründungspräferenzen den unter­schiedlichen Lebensstilgruppen zugeordnet werden. Abbildung 15 zeigt den Befund.

Abbildung 15: Korrelation der Austrittsgründe mit den beiden Wertedimensionen in der dritten EKD-Mitgliedschaftsstudie (N = 384 Ausgetretene)

Abbildung 15 zeigt, dass solche Ausgetretene, die tendenziell etwas weiter oben liegen, eher Qualitäts­aspekte als Gründe des Austritts anführen. Im extrem unteren Feldbereich wird dagegen das Desinteresse an Glaubens­fragen als Grund angegeben. Dem entspricht dann auch der Grund, dass diese Gruppe Ausgetretener Kirchensteuer sparen wollte. Denn bei Desinteresse sind Qualitäts­fragen nicht mehr entscheidend, sondern die Kosten. Auch hier zeigen sich also beide Phänomene einer Empfindlichkeit gegenüber Kosten und der Qualität des Angebots.

In der aktuellen fünften EKD-Mitgliedschaftsstudie findet sich keine nutzbare Wertemessung. Aller­dings liegt hier eine Teilstichprobe von 141 Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren vor, die ihre Austrittsgründe benannt haben. Tabelle 6 zeigt den Befund.

Tabelle 6:Mittelwerte der Austrittsgründe für Jugendliche und Erwachsene in der fünften EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaft

Austrittsgründe: Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ...

14- bis 25-Jährige (N = 141)

26- und Ältere (N = 423)

mir die Kirche gleichgültig ist

5,54 (1,91)

5,30 (1,92)

ich in meinem Leben keine Religion brauche

5,21 (1,98)

5,09 (2,08)

ich mit dem Glauben nichts mehr anfangen kann

5,19 (2,02)

4,97 (2,07)

die Kirche aus meiner Sicht nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt

5,07 (2,11)

4,83 (2,01)

ich die Kirche unglaubwürdig finde

5,02 (2,08)

5,39 (1,77)

ich dadurch Kirchensteuern spare

4,27 (2,36)

4,92 (2,23)

ich auch ohne die Kirche christlich sein kann

3,87 (2,42)

4,12 (2,31)

ich mich über kirchliche Stellungnahmen geärgert habe

3,58 (2,34)

3,78 (2,23)

meine Eltern das für mich als Kind entschieden haben

3,49 (2,61)

2,34 (2,13)

es in meinem Umfeld normal war/ ist, nicht in der Kirche zu sein

3,37 (2,22)

3,33 (2,14)

ich mich über Pastor/innen und/oder andere kirchlichen Mitarbeiter/innen geärgert habe

2,89 (2,23)

3,43 (2,30)

ich eine andere religiöse Überzeugung gefunden habe

2,16 (1,86)

2,00 (1,73)

ich politisch unter Druck gesetzt wurde

1,64 (1,45)

1,79 (1,60)

Tabelle 6 zeigt, dass die Jugendlichen als Hauptaustrittsgrund anführen, dass die Kirche ihnen gleich­gültig ist. Bei den Erwachsenen findet dagegen die inhaltliche Aussage, dass sie die Kirche unglaubwürdig finden, die größte Zustimmung. Ist bei den Erwachsenen damit teils auch ein Qualitätsaspekt relevant beim Austritt?

Es lohnt hier ein genauerer Blick auf das semantische Verständnis der aufgeführten Austritts­gründe bei den Befragten. Das leistet eine Faktorenanalyse der Austrittsgründe, deren Ergebnis in Tabelle 7 auf der Basis eines Scree-Tests, der eine Extraktion von vier Faktoren nahelegt, dargestellt ist.

Tabelle 7: Varimax Rotierte Faktorladungsmatrix der Austrittsgründe nach Hauptkomponentenanalyse in der fünften EKD-Mitgliedschaftsstudie (N = 564)

Austrittsgründe - Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ...

Komponente

1

2

3

4

ich in meinem Leben keine Religion brauche

,86

,03

-,01

-,10

ich mit dem Glauben nichts mehr anfangen kann

,85

,05

,00

-,12

mir die Kirche gleichgültig ist

,84

-,03

,04

,09

ich die Kirche unglaubwürdig finde

,73

-,08

,36

,21

die Kirche aus meiner Sicht nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt.

,70

,05

,28

,19

ich politisch unter Druck gesetzt wurde

,02

,81

,20

,02

ich eine andere religiöse Überzeugung gefunden habe

,07

,72

,29

,09

meine Eltern das für mich als Kind entschieden haben

-,26

,66

-,23

-,02

es in meinem Umfeld normal war/ ist, nicht in der Kirche zu sein

,39

,58

-,06

,27

ich mich über Pastor/innen und/oder andere kirchlichen Mitarbeiter/innen geärgert habe

,09

,12

,87

,03

ich mich über kirchliche Stellungnahmen geärgert habe

,18

,06

,86

,15

ich dadurch Kirchensteuern spare

,14

,03

-,04

,85

ich auch ohne die Kirche christlich sein kann

-,10

,18

,34

,75

Tabelle 7 zeigt, dass die „Unglaubwürdigkeit“ ein Aspekt des eigenen Des­interesses ist. Das Item lädt nicht auf den eigenständigen Ärger-Faktor, wobei Ärger sich in der Regel auf beschädigte und relevante Ziele bezieht, so dass hier der Qualitätsfaktor von Hirschman zu Buche schlägt. In der Konsequenz bedeutet das, dass in der fünften EKD-Mitgliedschafts­studie auch bei den Erwachsenen der Austritt auf Gleichgültigkeit basiert, so dass die Austritts­entscheidung durch die „Kosten“ gesteuert wird.

Des Weiteren lässt sich der Beziehungsfaktor „Vertrauen“ (s.o.) ebenfalls mit der fünften EKD-Studie analysieren. Denn hier wurde gefragt, ob bestimmte Beziehungen und Sach­verhalte sich eher positiv oder negativ auf die Kirchenbindung ausgewirkt hätten. Tabelle 8 zeigt mittels Korrelationen, wie diese Personen und Sachverhalte sich auf die Austritts­bereit­schaft ausgewirkt hatten.

In Tabelle 8 wurde die Austrittsbereitschaft fünfstufig skaliert gemessen von (1) „Für mich kommt ein Kirchenaustritt nicht in Frage“ bis (5) „Ich werde bestimmt so bald wie möglich austreten“ und korreliert mit der Einschätzung, ob sich verschiedene Personen, Institutionen oder Dinge eher positiv oder negativ auf die Einstellung zu Kirche oder Religion ausgewirkt haben. Es zeigt sich, dass die Eltern und kirchliche Bezugspersonen bei den Jugendlichen die wichtigste Rolle spielen. Bei den erwachsenen Befragten ist die Erfahrung in christlichen Kinder­gärten oder einer Jugendgruppe nicht mehr so relevant, sondern stattdessen gehört zu den Top vier neben Mutter, Vater und kirchliche Mitarbeiter der eigene Partner/die eigene Partnerin. D.h. insgesamt, die kirchlichen Bezugspersonen sind offenkundig relevanter als die eigenen Großeltern und Freunde. Das bestätigt die Annahme des Relationship-Marketings, dass der vertrauensvolle Beziehungs­aufbau der Amtsträger zu den Mitgliedern von entscheidender Bedeutung ist für die Loyalität und die Resistenz gegenüber Austrittsgedanken.

Diese Annahme ist nun freilich nicht selbstverständlich, insofern auch Empfehlungen gegeben werden, die dem zu widersprechen scheinen. Zum Beispiel argumentiert Wendt (1996, S. 64) bezogen auf das Anwendungsfeld der Jugendarbeit, dass „Beziehungsarbeit“ an Gewicht verliere, wenn man auch marginalisierte Jugendliche erreichen will, denn hier käme es vor allem auf passgenaue Angebote an. Dabei ist zu bedenken, dass Beziehungsarbeit im Kontext traditioneller Gruppenangebote eben nicht in der Lage ist, eine neue Zielgruppe zu erreichen, sondern dass für ein solches Anliegen eben ein angemessenes neues Konzept erarbeitet werden muss. Ist ein solches neues adäquates Konzept gegeben, dann ist davon auszugehen, dass vertrauensvolle Beziehungen wiederum die belegte Relevanz für die Partizipation der Jugendlichen am Angebot hat.

Tabelle 8:Korrelationen verschiedener Einflussfaktoren der Kirchenbindung mit der Austrittsbereitschaft in der fünften Kirchenmitgliedschaftsstudie

Bitte geben Sie für die folgenden Personen, Gruppen und sozialen Zusammenhänge [oder Dinge] an, ob Ihre Einstellung zu Religion, Glauben und Kirche durch sie eher positiv, eher negativ oder gar nicht beeinflusst wurde.

14- bis

25-Jährige (N = 500)

26- und Ältere (N = 1507)

meine Mutter

,46

,36

mein Vater

,43

,33

christliche Kindergarten- oder Jugendgruppe

,40

,25

kirchliche Mitarbeitende (Pfarrer/in, Kantor/in, Jugendgruppenleiter/in ...)

,42

,30

Bücher über Religion oder mit religiösen Inhalten

,35

,28

Filme, Fernseh- oder Radiosendungen über Religion oder mit religiösen Inhalten

,33

,22

Kirchenmusik/Musik mit religiösem Bezug

,33

,19

der Religionsunterricht

,32

,25

mein Freundeskreis

,31

,22

meine Großeltern

,28

,28

mein(e) Ehemann/Ehefrau Partner / Partnerin (auch feste(r) Freund(in))

,28

,32

meine Geschwister

,27

,23

Internetseiten, Foren oder Blogs über Religion oder mit religiösen Inhalten

,27

,20

Zeitungs-/Zeitschriftenartikel über Religion oder mit religiösen Inhalten

,26

,18

mein(e) Kinder

,23

,18

6 Diskussion

Im Gang der Analyse hat sich gezeigt, dass über verschiedene Kontexte hinweg unter­schiedliche Befunde zu den Phänomenen des Wegbleibens, Abmeldens und Austretens mit den theoretischen Annahmen des Organisationsmodells von Hirschman (1974) und der Behavior Setting Theorie von Barker (1968) erklärt werden konnten. Zusätzlich trug die Lebensstil­analyse dazu bei, die Menschen, die nicht mehr dabei sein wollen, mit ihren Motiven näher zu beschreiben.

Im praktischen Interesse erweisen sich dabei vor allem die folgenden Zusammenhänge als relevant: (1) Menschen, denen der thematische Gegenstand wichtig ist, reagieren schnell mit „Abwanderung“ auf eine mangelnde Qualität bzw. Passung des Angebots zur ihren Bedürfnissen. Im Jugendalter erweist es sich als entscheidend, dass die Angebote das gesteigerte Autonomiebedürfnis der 15- bis 19-Jährigen in einem hinreichenden Ausmaß spiegeln. (2) Menschen, die wenig Interesse an einem Angebot haben, reagieren sensibel auf die Kosten der Teilnahme. Bei Gruppenangeboten spielt dabei eine wichtige Rolle, dass „genug Leute da sind“. Beim Kirchenaustritt spielt die Kirchensteuer auf den ersten Verdienst bei Jugendlichen eine relevante Rolle. (3) Loyalität, die in sozialen Beziehungen zum Ausdruck kommt, wirkt der Abwanderung entgegen. (4) Verfügbare Alternativangebote senken die Hürde der Abwan­derung, da die Kosten für eine Abwanderung dann geringer sind. (5) Im Speziellen hat eine rückläufige Teilnehmerzahl einen sich selbst verstärkenden Effekt, weil weniger Teil­nehmende die Qualität eines Angebots deutlich verändern und auch mit höheren Kosten (im Sinne von Verantwortlichkeiten) einhergeht.

Daraus ergeben sich im Prinzip drei verschiedene Bewältigungsstrategien:

  1. Gestalte pass­genaue Angebote, für die die Teilnehmenden entsprechend auch bereit sind, hohe Kosten in Kauf zu nehmen.

  2. Analysiere die Angebote der Konkurrenz und gestalte ein Angebot, dass nicht primär die gleiche Zielgruppe anspricht. Dann kommen mehr Leute und die Problematik unterbesetzter Settings ist geringer.

  3. Investiere in soziale Beziehungen, wo dies möglich ist, weil sich dadurch die Loyalität zu den Angeboten erhöht und die Bereit­schaft steigt, sich kritisch-konstruktiv einzubringen und nicht gleich bei Schwierig­keiten wegzubleiben.

Mit Blick auf das vielfach diagnostizierte Wegbleiben der Jugendlichen nach der Kon­firman­den­zeit, d.h. der 15- bis 18-Jährigen, empfiehlt sich die Integration „mobiler“ Methoden und Strategien, die in der Lage sind, die Mehrheit der Jugendlichen in dieser Alters­gruppe in ihrer Lebenswelt zu erreichen. Im Kontext Schule zeigt die gleiche Gruppe der 15- bis 18-Jährigen eine erhöhte Abmeldequote. Hier dürfte es darum gehen, dass sich die Autonomie­entwicklung der Schülerinnen und Schüler auch im angebotenen Unterrichtsstoff spiegelt.

Wie sind nun die Phänomene zu bewerten? Die Abwanderung ist mit „Desinteresse“ assoziiert. Muss sich hier die Religionspädagogik überhaupt zuständig fühlen. Mit Käbisch (2014, S. 2) und unter der Voraussetzung einer Didaktik des Perspektivwechsels ist davon auszugehen, dass religiösen wie areligiösen Schülerinnen und Schülern religiöse Bildung gleicher­maßen zugänglich ist, so dass auch die „religiös Desinteressierten“ religions­pädagogisch adäquat adressiert werden können. In der Perspektive der schulischen Religions­pädagogik ist die Abwanderung aber auch mit einer Qualitätskritik assoziiert. Diese geht auf die Autonomie­entwicklung der Schülerinnen und Schüler zurück und ist daher entwicklungs­gemäß und entsprechend als Heraus­forderung zu begreifen, der sich die Religionspädagogik stellen muss. Die theologischen und didaktischen Möglichkeiten dafür hat die Religions­pädagogik in dieser Beziehung jedenfalls, da auch für autonomieorientierte Schülerinnen und Schülern entwicklungsförderliche Unterrichtsangebote entwickelt werden können (vgl. Gennerich, 2010).

In einer gemeindepädagogischen Perspektive treten erweiternd die Belastungen der Wegbleibenden in den Blick (siehe Abschnitt 3.1), so dass die Gemeinde­pädagogik sich diesen Menschen in einer diakonischen und gemeinwesen­orientierten Perspektive verant­wortlich fühlt (Breitbart & Zitt, 2006; Keßler, 2012, S. 289–294; Piroth, 2000). Klassische Konzepte der religionspädagogischen Arbeit sind jedoch im Kontext offener und mobiler Ansätze der Jugendarbeit nicht möglich, da religiös explizite Formen wie religiöser Unter­richt, kerygmatische Formen der Seelsorge oder liturgisch-gottesdienstliche Angebote zu hohe Hürden für die eher wenig religiösen Adressatinnen und Adressaten darstellen. Es bedarf daher einer Erweiterung des religionspädagogischen Denk- und Handlungshorizonts, den ich darin sehe, auf einer impliziten Ebene im Kontext eher beiläufiger Kommunikationen mit den Adressatinnen und Adressaten religionspädagogisch zu arbeiten (siehe für entsprechende Beispiele Gennerich, 2017b, p. 179–181).

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