1 Analysen zum religiösen Feld in Bosnien Herzegowina nach Bourdieu

Schulbücher vermitteln nicht nur Kompetenzen und Inhalte zu religiösen Fragen, unter der Hand wird mit ihnen auch ein Habitus transportiert, der mit dem weiteren sozial-religiösen Feld in einem mehr oder weniger engen Verhältnis steht. Dem soll hier am Beispiel Bosnien und Herzegowinas (Bosna i Hercegovina, BiH) nachgegangen werden. Den theoretischen Referenzrahmen bildet dabei Pierre Bourdieu.[1] Nach einer Aufarbeitung des Hintergrundes werden vor allem muslimische Schulbücher untersucht. Am Ende folgt eine übergreifende Einordnung. Dabei wird sich zeigen, dass man von einer Diskrepanz zwischen dem intendierten Schulbuch-Habitus und dem weiteren Feld ausgehen muss.

Wir beginnen mit der folgenden Eingangsfrage: Wie lässt sich der soziale Referenzrahmen des religiösen Feldes von BiH skizzieren und theoretisch begründen? (Vgl. auch zu Entwicklung des religiösen Feldes Seibert, 2010).

1.1 Erhebung des religiösen Feldes und des „nomos“

Im Rahmen einer random house survey (N 500) wurde im ersten Schritt die religiöse und soziale Kompetenz in BiH erfragt. Befragt wurden Bewohner der größten Städte Sarajevo, Mostar, Banja Luka und Tuzla. Dadurch wurde sowohl die religiöse als auch die regionale Schnittmenge gewährleistet.[2] Nach verschiedenen Faktoranalysen ließ sich das religiöse Feld durch vier Cluster rekonstruieren:

a)    den faith based organisations: Forum Bosnae, Mladi Muslimani (Jungmuslime), Kewser;

b)    den diakonischen Organisationen: Caritas, Merhamet, Kruh Sv. Ante (Das Antoniusbrot), Kolo srpskih sestara (Der Kreis der serbischen Schwestern), La Benevolencija und die Jüdische Gemeinschaft[3];

c)     den historischen Religionsgemeinschaften: Katholische Kirche, Serbische Orthodoxe Kirche, Islamische Gemeinschaft und

d)    dem Interreligiösen Rat (Medjureligijsko Vijeće) (Für die Abbildug des religiösen Feldes in BiH siehe Seibert, 2010, S. 113).

Relevant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass sich in allen Clustern Vertreter der meisten in BiH vorhandenen Religionen finden lassen. In anderen Worten: Es lassen sich z.B. islamische Akteure sowohl bei den historischen Gemeinschaften, den diakonischen Organisationen, bei den faith based organisations sowie im Interreligiösen Rat finden.

Die höchste Glaubwürdigkeit gehe mit einer größtmöglichen Identität mit dem nomos (laut Bourdieu „der wahren Religion“) des religiösen Feldes einher. Mit anderen Worten: der stärkste Akteur bestimmt latent die Semantik und damit das, was unter „der Religion“ gesellschaftlich verstanden wird und dadurch wiederum den nomos des Feldes (Bourdieu & Waquant, 1996, S. 110; Seibert, 2010, S. 110). Hier ist das der Interreligiöse Rat, der sich vor allem auf den interreligiösen Dialog, konfessionellen Religionsunterricht der historischen Religionsgemeinschaften und auf weitere Themen, die für die lokalen Kirchen und Religionsgemeinschaften von gemeinsamem Interesse sind, konzentriert. Dieser Rat stellt einen Zusammenschluss einzelner Vertreterinnen und Vertreter der historischen Kirchen und Religionsgemeinschaften dar: die Jüdische Gemeinschaft, die Islamische Gemeinschaft, Katholische Kirche und die Serbische Orthodoxe Kirche umfasst.

Wenn die genannten Kirchen und Religionsgemeinschaften (insbesondere die Islamische Religionsgemeinschaft, Katholische Kirche und Serbische Orthodoxe Kirche) alleine für sich stehen, sind sie im Cluster historischer Religionsgemeinschaften zu finden. Obwohl die genannten Religionsgemeinschaften stark organisiert sind, ist deren Glaubwürdigkeit – im Sinne der religiösen und der sozialen Kompetenz – im Vergleich mit anderen (siehe insb. die diakonische Organisationen oder der Faith-based-Organisationen) relativ niedrig.

Auf die hohe Glaubwürdigkeit des Interreligiösen Rates (gerade auch in Vergleich mit den Gemeinschaften) und damit die Ausrichtung des nomos in eine interreligiös orientierte Sichtweise der Bevölkerung werden wir unten zurückkommen.

1.2 Das religiöse Feld als Produktionsfeld im Rahmen des Religionsunterrichts

Alle genannten Akteure im religiösen Feld arbeiten mit verschiedene Religions- und Bildungskonzeptionen, und teilen diese mit der Öffentlichkeit über eigene Aktivitäten mit. Hier ist insbesondere das Foruma Bosnae zu erwähnen, die jährliche Konferenzen z. B. zum Thema interreligiöse Bildung und Versöhnung organisiert und entsprechende Broschüren publiziert. Aus demselben Cluster (faith-based) kommt auch die Frauenorganisationen Kewser, deren Religionsbegriff eine große Bandbreite islamischer Positionen in BiH deutlich macht (Štimac, 2011):

„Religionen unterscheiden sich weder in deren Spiritualität noch im Kern der Lehren. [...] Ich studierte und studiere Gnosis ... mm ... weiß nicht ... die christliche, buddhistische, orthodoxe und islamische Gnosis. All das ist so ähnlich. Der Unterschied untereinander ist nur in der religiösen Rechtsprechung.“ (ebd., S. 251)

Diese Ansicht tauchte in ähnlicher Form in vielen Interviews mit Mitgliedern von Kewser auf und kann somit als stellvertretend für den Habitus der Organisation verstanden werden.

Auch in dem Cluster der diakonischen Akteure lassen sich spezifische Religions- und Bildungskonzeptionen und -positionen finden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die bosnischen Franziskaner zu erwähnen, die als ein stark interreligiös eingestellter Teil der katholischen Kirche zu verstehen sind (Štimac, 2017, S. 117). Aus diesen Reihen kam die Kritik des konfessionellen und Unterstützung sowohl des interkonfessionellen wie auch des religionskundlichen Unterrichts in öffentlichen Schulen.

Trotz dieser Vielfalt der Religionsverständnisse können nur bestimmte Akteure Religion in der öffentlichen Bildung definieren. Dazu gehören nur die Organisationen aus dem Cluster der historischen Religionen, die für den Religionsunterricht eigene Ämter innehaben: Die Islamische Gemeinschaft, die Katholische Kirche und die Serbisch Orthodoxe Kirche. In diesem Cluster ist der konfessionelle Religionsunterricht ein relevantes Thema, wird jedoch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht gemeinsam, sondern durch jeweils separaten Unterricht beantwortet (Štimac, 2010, S. 125).So hat z.B. die zentrale Bildungsstelle der Islamischen Gemeinschaft Rijaset ein absolutes Monopol über das Erstellen (Curricula, AutorInnen) und Publizieren (eigene Verlage) der Schulbücher für den islamischen Religionsunterricht (Štimac, 2010). Die obengenannten Positionen verschiedener anderer islamischer Akteure in BiH lassen sich in den Schulbüchern nicht finden. Aus diesem und aus anderen Gründen kritisieren einzelne Angehörige der Fakultät für Islamstudien in Sarajevo, dass sie an den Entstehungs- und Entscheidungsvorgängen für den islamischen Religionsunterricht nicht beteiligt waren. Sie kritisieren kontraproduktive Inhalte der Schulbücher, mangelnde Sensibilität für die Gegenwartskulturen, die Lehrerausbildung und viele andere Elemente (ebd., S. 122–124).

Es wird deutlich, dass die Schulbuchproduzenten für den konfessionellen Religionsunterricht zum Cluster der wenig glaubwürdigen Akteure gehören. Offen bleibt jetzt die Frage, ob die Schulbuchinhalte auch gegen das nomos des Feldes sprechen, oder ob es eine Überschneidung gibt. Für die folgende Analyse wird die Islamische Religionsgemeinschaft gewählt. Nach dem jüngsten Krieg erfuhr sie die stärksten inhaltlichen und vor allem organisatorischen Veränderungen. Sie versteht sich inzwischen sowohl als Hüterin der religiösen als auch der nationalen Identität. In dieser Funktion beteiligt sie sich auch an den öffentlichen Diskursen, die in Zusammenhang mit dem jüngsten Krieg stehen. Da die muslimische Bevölkerung die größten Kriegsverluste erfuhr, stellt sich hier insbesondere die Frage, ob und wie der vergangene Krieg und die Gewalt in den Schulbüchern thematisiert werden.

2 Schulbuchanalyse als Analyse des zukünftigen Habitus?

2.1 Warum Habitus?

Habitus ist laut Bourdieu die „Verinnerlichung eines bestimmten Typs von sozialen und ökonomischen Verhältnissen“ (Bourdieu & Waquant, 1996, S. 136). Dementsprechend kann Habitus als eine Anhäufung kognitiver, affektiver und somatischer Dispositionen verstanden werden, anhand derer Situationen gedeutet und beurteilt werden, aus denen ethische und ästhetische Normen entwickelt werden und aus denen schließlich gehandelt wird. Diese Dispositionen werden einerseits z. B. durch alltägliche Situationen, gesellschaftliche und private Ereignisse und soziale Interaktionen ausgelöst. Andererseits wirken sie über Wahrnehmung, Urteil und Handlung direkt auf die Situationen und den Kontext der Akteure zurück. Somit funktionieren die Dispositionen des Habitus als Operatoren der „praktischen Logik“ und sind dadurch Teile der sozialen Praxis der Akteure (Bourdieu, 1987, S. 107). Die Habitus-Analyse der oben genannten Akteure lässt auf vielfältige inhaltliche und organisatorische Symmetrien zurückschließen, die Akteure aufweisen, wenn sie sich in ähnlichen gesellschaftlichen und sozialen Lagen befinden – ungeachtet der Unterschiede in der Religion (Seibert, 2013).

Da Habitus durch eine bestimmte Art der Sozialisation (z.B. Bildung) inkorporiert wird (Bourdieu & Waquant, 1996, S. 136), wird das Konzept gerne in der Bildungsforschung verwendet. Wie lässt sich jedoch mit einem Konzept, das als eine Folge vergangener Wahrnehmungen und Handlungen und als relativ träge zu bezeichnen ist, in der Schulbuchanalyse arbeiten? In der Erziehungs- und Bildungsforschung wird der Begriff kritisch rezipiert, auf den jedoch immer wieder zurückgegriffen wird, weil er eine Verbindung von Individuum und Gesellschaft ermöglicht und komplexe Relationen zwischen Wahrnehmungen, Sinngebungen und Handlungen und ihren sozialen Bedingungen aufzeigt (Höhne, 2013). Der Habitusbegriff kann hier unter anderem als ein Aneignungsmodus verstanden werden, der hilfreich ist, einerseits um Sozialisationspraxis und andererseits um Individualisierungsprozesse zu verstehen (vgl. Böhnisch, Lenz & Schröer, 2009).[4] Die Analyse der Schulbücher kann in diesem Zusammenhang auch als ein Beitrag zur Habitusgenese verstanden werden, da dort der von den Schulbuchautorinnen und -autoren „beabsichtigte“ Habitus implizit oder explizit ausformuliert wird. Da dieser jedoch zur Zeit der Ausformulierung und des Lernens nicht in aller Konsequenz entwickelt ist, bietet sich eine nachträgliche Untersuchung an, um feststellen zu können, ob der Versuch der Habitus-Prägung durch Bildung und durch Schulbücher erfolgreich war.

2.2 Habitus-Analyse in der Schulbuchforschung

Um die Frage beantworten zu können, wie Konflikt und Versöhnung in Religionsbüchern der Islamischen Gemeinschaft dargestellt werden und wie Bewältigungsstrategien in diesem Zusammenhang ausfallen, werden qualitative Vorgehensweisen kombiniert. Dadurch kann die Grundstruktur der Texte aufgegriffen und die wichtigsten Relationen können rekonstruiert werden. Dazu wird die Methode der Habitus-Analyse, die aus der empirischen Sozialforschung kommt und im Rahmen der Religionsforschung von Heinrich Wilhelm Schäfer an der Universität Bielefeld entwickelt wurde (Schäfer, 2003, S. 161), als Ausgangsposition gewählt und als hermeneutisches Verfahren angewandt. Zentral für die Analyse sind neben den Begriffen und deren Negationen vor allem die Relationen zwischen den Begriffen und Aussagelogiken, die dabei entstehen. Das Besondere an diesem Vorgehen – und das Wichtige aus der Perspektive der Schulbuchforschung – ist eine Verbindung zweier Perspektiven. Auf der einen Seite steht die Gesellschaft, in der nach Bourdieu die „Logik der Praxis“ – im Sinne eines „so läuft es“ – zu finden ist (Bourdieu, 1987, S. 107). Auf der anderen Seite wirken laut Schäfer entweder Individuen oder kollektive Akteure mit ihrer eigenen „praktischen Logik“ – einem „so, wie ich/wir es machen“ – identitätsstiftend und handelnd in die Gesellschaft hinein (Schäfer, 2005). Diese zwei Perspektiven sind mittels des tatsächlichen oder mittels des in den Schulbüchern beabsichtigten und in der Zukunft zu entwickelnden Habitus miteinander verbunden. Um Habitus-Analyse durchzuführen, werden vier grundsätzliche Fragen gestellt und in Relation zu einander gebracht.[5] Schäfer (2015) sagt dazu:

„[Dies Vorgehen] setzt Wahrnehmung, Urteil und Handeln […] miteinander in Beziehung.Es entstehen „Schemata“ in dem strengen Sinne Kants: dass nämlich „Begriff und Erfahrung“ miteinander verbunden werden. Die Wahrnehmung der Erfahrung wird in einem ersten Schema zur Veränderungsperspektive und damit zum Urteil in Verbindung gebracht. Daraus kann die neue Position gegenüber den Missständen abgeleitet werden. Diese wird in einen Handlungsentwurf umgewandelt, indem sie in Beziehung zu den Ursachen der Missstände abgeleitet wird.“ (S. 285)

Mit anderen Worten: Das Subjekt nimmt Stellung, indem es etwas vollständig affirmiert, vollständig negiert, teilweise negiert oder teilweise affirmiert. Das Modell besteht also aus den grundlegenden Ebenen der Erfahrung der Praxis und der Deutung derselben, wie auch aus der positiven und negativen Prägung dessen. In der Analyse der Transformationen von Erfahrungen wird von der Frage nach den relevantesten Problemen (experience negative) ausgegangen (Schäfer, 2003, S. 458). Die Aussagen zu den negativen Erfahrungen werden mit den höchsten (religiösen) Hoffnungen und wichtigsten (religiösen) Erlösungsvorstellungen und Motiven (interpretation positive) gekoppelt. Aus diesen positiven Elementen schöpfen die Akteure und Akteurinnen ihre Identität (epistemic oriented transformation). Die Strategie des kollektiven Akteurs kann beginnend mit der positiven Erfahrung (experience positive) rekonstruiert werden. Ausgehend von ihren Glaubensvorstellungen, ihrer Praxis und Institution setzt sich eine Gruppe oder eine Bewegung mit gegebenen Missständen auseinander und schreibt diesen bestimmte Ursachen und Gründe zu (interpretation negative). Wenn die Ursachen für Missstände bekannt sind, können Strategien entwickelt werden, um diese zu bekämpfen (action oriented transformation). Ob es möglich ist, mit diesem Modell die Identitäts- und die Strategiebildung eines Akteurs durch Texte zu rekonstruieren, wird anhand gewählter Schulbücher erprobt.

3 Islamische Religionsbücher und der erwünschte religiöse Habitus

Entsprechend dem oben beschriebenen Modell der Habitus-Analyse und den Fragen über die relevanten Probleme, Ursachen dieser Probleme wie auch positiven Erfahrung werden an die Schulbücher entsprechende Fragen gestellt. Mit welchen Inhalten in Bezug auf Krieg und Frieden wird der zukünftige Habitus der bosnischen Muslime im gegenwärtigen Staat modelliert? Welche Strategien werden mithilfe von Schulbüchern suggeriert, um diesen Habitus zu prägen?

Im ersten Analyseschritt kann festgestellt werden, dass Krieg und Gewalt nicht explizit thematisiert werden. Es finden sich jedoch einige implizite Darstellungen, die sich hinter den Aussagen zum eigenen Staat, zu den Nachbarstaaten und/oder zu den gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Kompetenzen und Qualitäten, welche zukünftige Muslime entwickelt haben sollten, verbergen. Im Gegensatz dazu finden sich auch viele Inhalte, die als positive Erfahrung gedeutet werden können. Unter diesen können ebenfalls implizite Hinweise auf Krieg gefunden werden, was später noch thematisiert wird. Da die Gewichtung der Schulbuchinhalte deutlich in Richtung positiver Erfahrungen ausfällt und diese stets explizit dargestellt werden, werden diese zuerst analysiert. Der Fokus wird auf verschiedene religiöse Aussagen gelegt, die sich direkt auf die Gesellschaft auswirken, wie z. B. die Aussagen zum Alltag, zur Lebenswelt und zur globalen Umwelt (Natur inbegriffen), zum Staat BiH, zum nationalen Kulturerbe und zu den national-religiösen Feierlichkeiten.

Analysiert werden die aktuell zugelassenen Schulbücher für den islamischen Religionsunterricht in der achtjährigen Grundschule in BiH. Die Grundschule erstreckt sich über acht Jahrgänge, die so etwas wie eine Primar- und Sekundarstufe I darstellen. Für jede Schulstufe gibt es nur ein Schulbuch, da nur der Verlag El-kalem der Islamischen Gemeinschaft diese Schulbücher konzipiert und publiziert. Genehmigt werden diese vom Bildungsministerium in Sarajevo. Seit 2008 wird in der Föderation BiH sukzessive die neunjährige Grundschule eingeführt.

3.1 Positive Erfahrung

3.1.1 Islamische Welt und islamische Umwelt

In den ersten zwei Grundschulklassen wird der Beginn des Religionsunterrichts mit einer betont positiven Erfahrung markiert – mit dem „Tragen eines islamischen Namens“ (Religionsbuch für die erste Klasse, Seite 5, im Folgenden R1, S. 5)[6] und mit dem islamischen Gruß in der lokalen Sprache „es selamu alejkum“ (R1, S. 7). Die anderen Menschen werden mit „Guten Morgen“ oder „Guten Tag“ begrüßt (R1, S. 9). In der 1. Klasse sind alle Inhalte auf eine Einführung in die islamische „Katechese“ konzentriert. Darüber hinaus handeln die Lektionen vom eigenen Glauben, dem Aufbau einer Moschee, Auswendiglernen verschiedener Suren sowie dem Schreiben der Suren auf Arabisch und der religiösen Feste.

In der 2. Klasse sollen in der Lektion „Meine neuen Schulfreunde“ eigene Freunde vorgestellt werden. Die Lektion gibt keine Namen vor, sondern lässt den Raum im Schulbuch offen, um diese Namen einzutragen (R2, S. 15). Allerdings wird aus den Alltagsbeispielen deutlich, dass die Freunde ausschließlich Muslime sind. Unter der Überschrift „Wir helfen uns gegenseitig“ gehören zu diesem Alltagssituationen z. B. das Helfen beim Lernen, beim Tragen eines schweren Rucksacks, ein Krankenbesuch und das Schlichten eines Streits. Der Kommentar dazu: „Wer seinem islamischen Bruder hilft, wenn er Hilfe bedarf, dem wird Allah in seiner Sorge helfen“ (R2, S. 23). Anschließend folgt eine Lektion über eine religiöse Gruppe von Muslimen, die gemeinsam zur Schule und in die Moschee gehen und eine religiöse und moralische Einheit darstellen (R1, S. 41-43). Später, in der 8. Klasse, werden verschiedene Formen des islamischen gemeinsamen Lebens zusammengefasst – Familie, lokale religiöse Gemeinschaft und Umma – die als Ausdrücke des sozialen Lebens verstanden werden (R8, S. 101). Glaubt man dem Buch für die 2. Grundschulklasse, sind auch alle Nachbarn Muslime. In der Lektion „Sich um die Nachbarn kümmern“ wird gutes Benehmen thematisiert und als positive Erfahrung dargestellt (gutes Benehmen und Feste feiern) (R2, S. 125). Erst in der 5. Klasse in der Lektion „Verschiedenheit [različitost]  in meiner Nachbarschaft“ werden zum ersten Mal Nachbarn erwähnt, die eine andere Religion als den Islam haben. Über deren Feste wie Weihnachten, Ostern, Sabbat, Passah und Chanukka berichtet ein islamischer Junge, der Christen und Juden kennengelernt hat (R5, S. 115-117). Für die hier verfolgte Fragestellung ist die Richtigkeit der Informationen über andere Religionen nicht relevant. Relevant ist jedoch die im Schulbuch intendierte Haltung diesen Religionen gegenüber. So sollen die Jugendlichen einen Brief mit Lückentext ergänzen, den sie an einen christlichen oder jüdischen Freund oder eine Freundin schreiben. Der Text lautet:

„Ich bin ein Muslim[7] und ich [liebe] meine Bräuche. Mit diesen fühle ich mich [wohl]. In meinem Land leben sowohl [Christen] als auch [Juden]. Sie alle haben eigene religiöse [Bräuche]. Ich bin sicher, dass sie sich alle mit ihren eigenen Bräuchen [wohl] fühlen. Deshalb respektieren wir die Bräuche von [anderen]. So geht es uns allen [gut]. Deshalb ist mein Land BiH [toll].“ (R5, S. 118; kursive Ergänzungen der Lücken in eckigen Klammern durch die Verfasserin)

Das Entscheidende an dieser Aufgabe wird in der Zielsetzung deutlich. Das Resultat soll – entsprechend einer zusätzlichen Erklärung – auf den sechsten Vers der Sure Al-Kafirun (Die Ungläubigen) „Ihr habt eure Religion, und ich die meine“ hinauslaufen. Was in der frühen Grundschulklasse nach Respekt anderen Religionen gegenüber klingt, endet in einer gänzlichen Trennung der Religionen voneinander in der 6. Klasse. Dort wird diese Sure in voller Länge abgedruckt:

„(1) Sag: Ihr Ungläubigen! (2) Ich verehre nicht, was ihr verehrt (3) und ihr verehrt nicht, was ich verehre. (4) Und ich verehre nicht, was ihr (bisher immer) verehrt habt, (5) und ihr verehrt nicht, was ich verehre. (6) Ihr habt eure Religion, und ich die meine.“ (R6, S. 89) [8]

Es kann gefolgert werden, dass moralische Werte nur durch die Religion des Islams zu erreichen sind. Die Anhänger anderer Religionen sind Ungläubige, zu denen jedoch ein korrektes Verhältnis existieren sollte.

Dass die Muslime sich im Sinne der Umma gegenseitig helfen sollen, verdeutlicht zum ersten Mal das Schulbuch für die 6. Klasse. Hier werden die expliziten Normen der Gemeindeordnung von Medina aufgezählt – so wie diese von den Autoren verstanden werden; Quellen werden nicht angegeben. Alle Muslime sollen eine Einheit bilden, sie sollen sich gegenseitig helfen, ohne zu sündigen und ohne ungerecht zu sein. Sie sollen eine Gesellschaft mit den besten und gerechtesten Gesetzen erschaffen; das Recht auf Religionsausübung und auf Eigentum der Nicht-Muslime garantieren; die Verbrecher nicht dulden; einen Staat erschaffen, in dem jeder das Recht auf Bewegungsfreiheit hat und in dem sowohl Muslime als auch Nicht-Muslime das gemeinsame Land beschützen (R6, S. 78). Mittels eines Gedichts wird die affektive Lernebene angesprochen, um die Botschaft zu übermitteln (R6, S. 79).

Es gibt zwar Aussagen, wie z.B., dass die Unterschiede von Rasse, Nation, Hautfarbe und Religionszugehörigkeit Gottes Geschenk an die Menschheit seien (R7, S. 24), die eindeutig zu den positiven Erfahrungen gezählt werden könnten. Allerdings werden diese nur beiläufig und zusammenhanglos erwähnt und sind nicht mit positiven Handlungsempfehlungen verbunden. Eine Ausnahme ist in Zusammenhang mit „Nicht-Muslimen“ als Minderheit in der Lektion „Zwischenmenschliche Beziehungen“ zu finden (R7, S. 49): Falls diesen andersgläubigen Menschen etwas zustoße oder sie ungerecht behandelt werden, solle sich ein Muslim am Tag des Jüngsten Gerichts für diese einsetzen, so wie dies Muhammad getan habe. Weiterhin wird im selben Buch festgehalten, der Islam lehre, vor Gott seien alle Menschen gleich, aber sie unterschieden sich in ihren Taten (R7, S. 97).

3.1.2  Das eigene Land – islamisch, osmanisch, gut

Der eigene Staat BiH wird bereits im Religionsbuch der 2. Grundschulklasse thematisiert (R2, S. 16–17) und als Teil der positiven Erfahrungen gedeutet. Für diese Zwecke werden die Fahne und das Wappen von BiH abgebildet und die Städte Sarajevo, Trebinje, Jajce, Mostar, Blagaj und Višegrad genannt. Die Auswahl ist Programm, denn Blagaj ist keine in BiH relevante Stadt, sondern ein kleines Dorf mit einem Derwisch-Haus, das als ein islamischer Wallfahrtsort bekannt ist. Die Städte werden mittels Zeichnungen symbolisch dargestellt. Mit einer Ausnahme stellen alle Zeichnungen das Kulturerbe aus der osmanischen Zeit dar.[9] Auch wenn BiH tatsächlich stark vom osmanischen Erbe geprägt ist, ist das vorhandene Kulturerbe des Landes wesentlich älter und wesentlich reicher als diese Zeichnungen signalisieren. Die Engführung auf das osmanische Religions- und Kulturerbe kann in diesem Zusammenhang nur als eine Pointierung der eigenen Religion gedeutet werden. Das religiös pluralistische BiH ist in diesen Zeichnungen nicht zu erkennen.

Der eigene Staat wird auch im Schulbuch für die 3. Klasse thematisiert und erneut mit positiven Adjektiven beschrieben. Auch wenn dieses Mal viele Städte erwähnt werden, bleibt das kulturelle Erbe auch in dieser Lektion nur auf die Zeit der osmanischen Herrschaft konzentriert. Dies ist an der Aufzählung der architektonischen Elemente wie z. B. „sebilj“, Wasserspender, „šadrvan“, Reinigungsbrunnen, „hamam“, Dampfbad, „bezistan“, Markthalle deutlich (R3, S. 152). Zwar wird erwähnt, dass in BiH verschiedene Völker leben, aber diese Tatsache scheint keine besondere Bedeutung zu haben. Auch auf den Abbildungen, die im Schulbuch nicht weiter beschrieben werden, sind vor allem lokale Moscheen, aber auch solche aus der arabischen Welt zu sehen. In der Beschreibung der Alten Brücke in Mostar (R3, S. 163–164) wird zwar die vorherige ältere Hängebrücke kurz erwähnt. Es gibt jedoch keine Informationen dazu, aus welcher Zeit diese stammte und wer sie erbauen ließ (Zeit der bosnischen Könige). Das „islamischen Mostar“ wird wieder in der 4. Grundschulklasse affektiv thematisiert. So wird die Altstadt mit der Alten Brücke als „warmes Nest“ beschrieben und alle Schönheit als Allahs Geschenk an die Menschen gedeutet (R4, S. 14).

In der weiterführenden Lektion „Der stolze Bosniake“ spricht ein Mann namens Ali von seinem Stolz auf BiH mit seinen osmanischen Kulturdenkmälern und von dem Stolz, in seinem Volk geboren worden zu sein (R3, S. 158). Spätestens in dieser Lektion wird deutlich, dass positive Erfahrungen sehr stark mit der eigenen Nation und vor allem der eigenen Religion zusammenhängen. Keine nennenswerten Unterschiede sind in der „Heimat-Lektion“ für die 4. Klasse zu finden. Auch hier wird die Liebe dem eigenen Land gegenüber beteuert und betont, dass „jeder Muslim sein Land liebt, beschützt und verteidigt“ (R4, S. 128). Wie ein Land in den Zeiten des Friedens verteidigt wird, bleibt offen. Eine indirekte Antwort – und eine weitere Form der positiven Erfahrung – bieten Lektionen, die z. B. bekannte Schriftsteller und Wissenschaftler (nur männliche) thematisieren. Darin sind nur Muslime zu finden (R4, S. 129).

In der 8. Klasse wird vor allem der Aufbau der „šeher“ bzw. der osmanischen Städte thematisiert (R8, S. 115), der sich auch auf andere Religionsgruppen positiv ausgewirkt haben soll. Innerhalb dieser Städte existierten damals serbisch-orthodoxe, jüdische und katholische Siedlungen (R8, S. 116). Als Hauptmerkmal dieser vergangenen Lebensform wird die Bedeutung von guter Nachbarschaft betont. In der gegenwärtigen Lebensform wird die Nachbarschaft zu Serbisch-Orthodoxen, Katholiken und Juden nicht thematisiert. Abschließend kann gesagt werden, dass es zum Osmanischen Reich ausschließlich positive Konnotationen gibt. Ältere Epochen (Antike, Mittelalter etc.) werden an keiner Stelle thematisiert. Auch nicht das Spätmittealter – die Zeit der Bogumilen und der Entstehung der Bosnischen Kirche, die von einigen bosniakischen Historikern als Vorläufer des Islams verstanden wird (Štimac, 2004).

3.1.3 Ästhetik, Ökologie, islamische Menschenrechte

Die Schönheit im Allgemeinen und insbesondere die Schönheit der Natur spielt in den analysierten Schulbüchern eine wichtige Rolle. Ab der 1. Klasse wird diese nicht nur beschrieben, sondern mit ethischen und ökologischen Fragen verbunden (R1, S. 38–41). Wie kann der Mensch die Natur pflegen und erhalten? In welcher Art und Weise vergiftet und vernichtet der Mensch die Natur? Im Religionsbuch für die 4. Klasse befinden sich einige Lektionen, die z. B. die Natur in verschiedenen Jahreszeiten thematisieren, die Qualitäten verschiedener Tiere darstellen, die Nützlichkeit von Wind und Wasser, Sonne und Wolken für die gesamte Natur beschreiben (R4 S. 25–40). Auch wenn diese Themen für die gesamte Gesellschaft relevant sind und sich viele Möglichkeiten bieten, ein Gespräch zwischen verschiedenen Religionen in Hinblick z. B. auf Erhaltung der Schöpfung und auf ökologische Nachhaltigkeit zu initiieren, bleibt es allein bei der islamischen Perspektive: Allah hat das alles für die Menschen geschaffen (R4, S. 38) und die Muslime kümmern sich sinnvoll um die Natur (R4, S. 140–142).

Im Kontext der Erhaltung der Natur werden als wichtige Elemente auch „Der Koran und die Menschenrechte“ (R7, S. 46–48) und „Die universellen Rechte der Menschen“ gesehen (R7, S. 69–71). In der ersten genannten Lektion werden die Rechte der Menschen im Koran und in der Sunna ausführlich dargestellt. Ergänzt wird diese Lektion mit jeweils mehreren Zeilen über die Gemeindeordnung von Medina, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam (1981), die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990), die UN-Menschenrechtscharta (1948) und die Europäische Menschenrechtskonvention (1950). In den Aufgaben wird vor allem die islamische Perspektive thematisiert (R7, S. 47). Als Projektarbeit sollen anschließend alle Perspektiven nebeneinander gestellt werden (R7, S. 48). In der zweiten Lektion werden jedoch die Rechte der Kinder und die Pflichten der Eltern den Kindern gegenüber nur aus der koranischen Perspektive thematisiert (verschiedene Suren werden hierzu zitiert). Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Leben, auf Nicht-Diskriminierung der Geschlechter, das Recht auf Nahrung und medizinische Versorgung, auf einen „schönen [islamischen] Namen“, das Recht auf Erziehung und Bildung. Die UN-Kinderrechtskonvention wird als ergänzende Quelle in wenigen Zeilen erwähnt (R7, S. 71), während die allgemeinen Menschenrechte nicht inhaltlich thematisiert werden. Es wird deutlich, dass in den Schulbüchern die Religion des Islams neben allen anderen Vorzügen auch als Quelle vielfältiger Menschenrechte verstanden wird.

3.2 Negative Erfahrungen und die Vielfalt negativer Ursachen

Negative Erfahrungen wie z.B. Krieg und Gewalt werden in den untersuchten Religionsschulbüchern, wie oben schon erwähnt, nicht explizit thematisiert. Was jedoch zu finden ist, ist eine Benennung von negativen Ursachen von Krieg und Gewalt, so dass die negativen Erfahrungen rekonstruierbar sind. Im Buch für die 2. Klasse wird im Rahmen des Ramadan-Festes ein islamischer Feiertag, der „Tag der Helden“ („Dan šehida“) thematisiert.[10] Dieser wird am zweiten Tag des Zuckerfestes „Bajram“ gefeiert und so dargestellt, als ob dies ein Nationalfeiertag in BiH wäre. Es wird explizit gesagt, dass die Bosniaken – also nicht nur Muslime – auf islamische Friedhöfe gehen und für die im jüngsten Krieg gefallenen Soldaten beten, „deren Leben für die Würde und Freiheit der eigenen Heimat [geopfert wurden]“ (R2, S. 113). Weder der Krieg an sich noch gar Kriegsopfer auf anderen Kriegsseiten sind dabei Thema. In dieser Lektion wird nahegelegt, dass die Kinder sich selbst organisieren und an diesem Feiertag einen Friedhof besuchen sollen (R2, S. 114). Im Schulbuch für die 3. Klasse wird empfohlen, die Friedhöfe der gefallenen muslimischen Soldaten sauber zu halten und dort bestimmte Gebete zu sprechen (R3, S. 160). Im Buch für die 7. Klasse wird ein affektiver Zugang gewählt: Die Jugendlichen sollen sich über die Gefühle austauschen, die sie beim Lesen eines Gedichtes über die Kriegshelden empfinden. Zusätzlich sollen sie die Ursachen dieser Gefühle thematisiert (R7, S. 63). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Krieg als Thema des Religionsunterrichts durchaus seinen Raum bekommt, wenn auch nicht als expliziter Schulbuchinhalt. Aus den vorausgehenden positiven Erfahrungen, wie auch aus den beschriebenen negativen, ist jedoch die einseitige Perspektive auf dieses Thema erkennbar. So sollen die Schülerinnen und Schüler beschreiben, was und wer die Kriegshelden des Gedichts sind. Ergänzend wird eine Erklärung gegeben: „Šehid – eine Person, die ihr Leben für das Leben der Anderen opferte, um Würde, Eigentum, Heimat, islamische Werte und allgemeine Menschenrechte zu schützen“ (R7, S. 63). Es ist offensichtlich, dass sowohl die Helden als auch die Opfer nur auf der „eigenen“ religiösen und/oder nationalen Seite verortet werden.

Über die Geschichte und Gegenwart der Islamischen Gemeinschaft gibt es Schulbuchinhalte in der 8. Grundschulklasse (R8, S. 103–109). Dabei werden verschiedene negative Erfahrungen genannt: Die Trennung der bosnischen Muslime von der Umma als Folge der Annexion BiHs seitens der österreich-ungarischen Monarchie, die negativen Erfahrungen der Islamischen Gemeinschaft mit dem Königreich der Serben, Kroaten und der Slowenen (SHS), mit dem Königreich Jugoslawien und auch mit dem Sozialistischen Jugoslawien. Zur Zeit der verschiedenen Systeme erfuhr die Islamische Gemeinschaft viele Veränderungen, im genannten Schulbuch wird aber nur bemängelt, dass die Scharia-Gesetze, der Besuch religiöser Schulen und der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen verboten wurde (R8, S. 104–105). Die negativen Erfahrungen werden verschiedenen politischen Systemen zugerechnet. Das gegenwärtige politische System, in dem sich die Islamische Gemeinschaft sehr wohl entwickeln kann, wird nicht weiter beschrieben, stattdessen wird ausschließlich auf die heutige Struktur und auf die bildungsrelevanten Institutionen der Islamischen Gemeinschaft verwiesen (R8, S. 108). Aus verschiedenen oben genannten Inhalten wird jedoch deutlich, dass auch dieses System eher negativ als positiv begriffen wird.

4 Schlussbetrachtung

Das religiöse Feld eines Landes steckt, wie im Falle von BiH, den Resonanzraum ab, in welchem sich unterschiedliche religiöse Bildungsakteure bewegen, miteinander in Beziehung stehen und um ein bestimmtes Thema wirken. In BiH lässt sich gut beobachten, wie das religiöse Feld und das Feld der Schulbuchproduktion für den Religionsunterricht zusammenfallen. Nachdem der nomos des religiösen Feldes – in diesem Falle der interreligiöse Dialog – rekonstruiert ist (siehe oben Ende Kap.1.1), lässt sich schließen, inwiefern die eine oder die andere Form der religiösen Bildung und des Religionsunterrichts vom nomos abweicht. Die untersuchten Schulbücher der Islamischen Religionsgemeinschaft zeigen, dass sie inhaltlich wenige Bezügen zum nomos des Feldes aufweisen. Konkret bedeutet dies, dass sich an den untersuchten Inhalten zu Krieg und Frieden eindeutig ablesen lässt, dass sie die Idee des interreligiösen Dialogs nicht verfolgen. Es wundert daher nicht, dass sie von der Bevölkerung in BiH zu den deutlich weniger glaubwürdigen Akteuren des Clusters der historischen Gemeinschaften gezählt werden. Dies ist nicht der wichtigste Grunde, aber sicherlich ein relevanter und zählt in unterschiedlichem Maße auch für andere Akteure im Cluster: Indem der nomos mit seiner eher interreligiösen Ausrichtung von den Religionsgemeinschaften vernachlässigt wird, sinkt deren Glaubwürdigkeit.

Über die Inhalte der Schulbücher lässt sich grundsätzlich sagen, dass diese den Staat BiH als gänzlich islamisch skizzieren. Darin sind alle Facetten des Lebens religiös bestimmt und werden als Quellen positiver Erfahrungen erlebt. Folgerichtig ist Gott die ultimative Ursache aller positiven Erfahrungen. Zu eine weiteren positiven Ursache wird die Osmanische Herrschaft gezählt, die als eine Quelle der Identität skizziert wird. Alle anderen religiösen Positionen werden in den untersuchten Texten vernachlässigt, mit Ausnahme der einzelnen Passage wenn Christen[11] und Juden – die stets als Minderheitsreligionen präsentiert werden – im Schulbuch genannt werden. Auch bei den ökologischen Themen – die es ermöglichen, religiöse und konfessionsfreie Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen – wird die Chance nicht genutzt, interreligiöse Themen zu diskutieren. Um die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler nachdrücklich zu prägen, werden verschiedene Strategien verwendet: Umdeutung der Geschichte, Vermeiden historischer Fakten, Engführung des Weltbildes, Überhöhung der eigenen Religion und des eigenen Volkes wie auch Emotionalisierung und Romantisierung von Inhalten.[12]

Die negativen Erfahrungen wie z.B. Krieg, Gewalt, Vertreibung und deren Ursachen werden implizit ab der 2. Klasse im Zusammenhang mit den islamischen Kriegshelden thematisiert. Mithilfe von Heldengedichten beabsichtigen die SchulbuchautorInnen, starke emotionale Wirkung auf die Jugendlichen auszuüben. Implizit wird dadurch zwar der Krieg kritisiert, zugleich aber auch alles, was sich gegen die Religion des Islam wendet. Zu den Ursachen der negativen Erfahrung zählen diejenigen politischen Systeme, die auf dem Territorium des heutigen BiH nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches existierten.

Aus den analysierten Elementen lassen sich in den Religionsschulbüchern mehrere Strategien rekonstruieren. Dazu gehört z.B. die gesellschaftliche Einkapselung in die eigene islamische Familie und das eigene Volk. Darüber hinaus gibt es eine Konzentration ausschließlich auf die „islamische Welt“ und auf die Umma. Die Vereinnahmung des Landes BiH im Sinne nur einer Religion suggeriert, dass dies die beste aller Lebensvarianten sei, für die es sich auch mit Waffen zu kämpfen lohnen kann. Nach dem jüngsten Krieg kann dies für eine gewisse Zeit als eine durchaus logische Strategie erscheinen, um die eigenen Reihen zu konsolidieren.

Wissend, was in den Schulbüchern als positive Erfahrungen und als deren Ursachen verstanden wird, stellt sich aus der Perspektive der relationalen Analyse die Frage: Welche Strategie entwickeln die Schulbücher, um negative Ursachen zu bekämpfen? Wenn die kurzfristige Strategie „religiöse Einkapselung“ lautet, implizieren die Schulbücher als die langfristige Strategie ein Vorgehen „mit Islam gegen (ausgewählte) Politik“. Das diese Strategie langfristig problematische Folge zeigen könnte, muss nicht weiter diskutiert werden.

Der Habitus wurde in diesem Aufsatz anhand der gegenwärtigen Schulbuchinhalte analysiert. Dadurch wurde erprobt, ob der Habitus-Begriff eine theoretische Erweiterung durch Schulbuchforschung erfahren kann. In der Tat konnte der Habitus rekonstruiert werden, der von den Schulbuchproduzenten intendiert ist und sich erst in der Zukunft entfalten kann, zugleich aber dem nomos entgegensteht, so dass offen bleibt, wohin die zukünftige Ausrichtung gehen wird. Die Habitus-Analyse kann neben dieser theoretischen Erweiterung des Habitusbegriffs für die Schulbuchanalyse auch in folgenden Punkten fruchtbar gemacht werden. Erstens bietet sie einen Einblick in die emische Gewichtung der Inhalte: Worauf wird der Schwerpunkt gelegt? Was ist umkämpft? Was ist relevant? Zweitens bietet sie einen Einblick in die Inhalte, die nur implizit thematisiert oder gänzlich vermieden werden. Die ausgelassenen Inhalte werden dank der verschiedenen logischen Relationen folgerichtig rekonstruiert. Aus diesen Relationen wiederum wird nicht nur eine inhaltliche Aussage rekonstruierbar, sondern drittens eine konkrete Handlungsstrategie, die in den Schulbüchern so gut wie nie explizit genannt wird. Naturgemäß gibt es bei dieser Vorgehensweise auch Schwierigkeiten zu umschiffen. Können die unterschiedlichen Quellen wie z. B. Bilder, Zeichnungen und Karten ähnlich ausgewertet werden wie die Texte? Wie soll mit unterschiedlichen Perspektiven und Beobachtungspositionen im Schulbuch umgegangen werden? In welchem Verhältnis stehen die Inhalte der Schulbücher und die der Lehrerbände? Wie diese Fragen zeigen, bleibt noch viel Raum für weitere Analysen und Diskussionen.

Literaturverzeichnis

Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bourdieu, P. & Waquant, L. (1996). Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Böhnisch, L., Lenz, K. & Schröer, W. (2009). Sozialisation und Bewältigung. Eine Einführung in die Sozialisationstheorie der zweiten Moderne. München: Juventa.

Höhne, T. (2013). Der Habitusbegriff in Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung. In A. Lenger, C. Schneickert & F. Schumacher (Hrsg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven (S. 261–284). Wiesbaden: Springer.

Paret, R. (2007). Der Koran. 10. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.

Schäfer, H. W. (2003). Zur Theorie von kollektiver Identität und Habitus am Beispiel sozialer Bewegungen. Eine Theoriestudie auf der Grundlage der interkulturellen Untersuchung zweier religiöser Bewegungen. Berlin: Humboldt-Universität.

Schäfer, H. W. (2005). Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf am Beispiel religiöser Bewegungen im Bürgerkrieg Guatemalas. Berliner Journal für Soziologie 15(2), S. 259–282.

Schäfer, H. W. (2015). Identität als Netzwerk. Habitus, Sozialstruktur und religiöse Mobilisierung. Wiesbaden: Springer.

Seibert, L. (2010). Glaubwürdigkeit als religiöses Vermögen. Grundlagen eines Feldmodells nach Bourdieu am Beispiel Bosnien-Herzegowinas. Berliner Journal für Soziologie 20(1), S. 89–117.

Seibert, L. (2013). Religious Credibility under Fire. A Praxeological Analysis of the Determinants of Legitimacy in Postwar Bosnia and Herzegowina. Universität Bielefeld: Dissertation.

Štimac, Z. (2018). Feld, Habitus, Schulbuch. Praxeologischer Zugang zur Schulbuchanalyse im multireligiösen Kontext. In Z. Štimac & R. Spielhaus (Hrsg.), Schulbuch und religiöse Pluralität. Interdisziplinäre Perspektiven (S. 251–272). Eckert. Die Schriftenreihe 143. Göttingen: V&R unipress.

Štimac, Z. (2017). From Vrhbosna to Brussels. Catholic Religious Education between Local and European Perspectives. In J. Jozelić & G. Ognjenović (Hrsg.), Education in Post-Conflict Transtion. Politicization of School Textbooks (S. 99–128). London: Palgrave Macmillan.

Štimac, Z. (2011). Frauenorganisation Kewser. Zwischen der islamischen spirituellen Erweckung und der Frauenemanzipation. In M. Selçuk & I. Wunn (Hrsg.), Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad – neue Wege für Musliminnen in Europa? (S. 241–259). Stuttgart: Kohlhammer.

Štimac, Z. (2010). Islamische Religionstradierung im Kontext der EU-Integration und Bildungsreform in Bosnien und Herzegowina. In C. Voß & J. Telbizova-Sack (Hrsg.), Islam und Muslime in Südosteuropa im Kontext von Transformation und EU-Erweiterung (S. 101–126). München: Otto Sagner Verlag.

Štimac, Z. (2004). Bosnische Kirche. Versuch eines religionswissenschaftlichen Zugangs. Münster: LIT.

Schulbücher (chronologisch nach Erscheinen)

R1: Begović, I. (2005). Vjeronauka za prvi razred osnovne škole [Religionsunterricht für die erste Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R2: Tinjak, M. (2006). Vjeronauka za drugi razred osnovne škole [Religionsunterricht für die zweite Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R3: Pleh, M. u. a. (2006). Vjeronauka za treći razred osnovne škole [Religionsunterricht für die dritte Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R4: Nistović, H. u. a. (2007). Vjeronauka za četvrti razred osnovne škole [Religionsunterricht für die vierte Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R5: Prljača, M. & Halilović, N. (2008). Vjeronauka za peti razred osnovne škole [Religionsunterricht für die fünfte Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R6: Grabus, E. & Bašić, M. (2009). Vjeronauka za šesti razred osnovne škole [Religionsunterricht für die sechste Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R7: Sulejemanovi, Š. & Husić S. (2010). Vjeronauka za sedmi razred osnovne škole [Religionsunterricht für die siebte Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

R8: Grabus, E. u. a. (2011). Vjeronauka za osmi razred osnovne škole [Religionsunterricht für die achte Grundschulklasse]. Sarajevo: El-kalem.

 

Dr. phil. Zrinka Štimac ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. Von 2013-2017 koordinierte sie das Arbeitsfeld „Religiöse Vielfalt und gesellschaftlicher Diversität“ und von 2018-2019 das Forschungsteam „Religion im Plural“. Ihre Schwerpunkte sind Religion und Bildung, Religion und Politik, schulische Bildungsmedien und Religionsgeschichte. 

 


  1. Im Rahmen des Projektes „Der Ethos religiöser Friedensstifter“ an der Universität Bielefeld wird diese Frage mit Bourdieu beantwortet.

  2. Bei seinem Feldmodell arbeitet Leif Seibert mit den Analysefaktoren Organisiertheit und Glaubwürdigkeit (Fremdzuschreibung): Unter Organisiertheit ist einerseits „die Potenz religiöser Akteure in ihrer Funktion als Multiplikatoren sozialer Dynamik“ zu verstehen (Seibert, 2010, S. 106). Dazu zählen neben den Experten bzw. den aktiven Mitglieder einer Religionsgemeinschaft auch die Laien bzw. die passiven Mitglieder. Glaubwürdigkeit wird dabei analog zur Stiltreue nach Bourdieu verstanden und bezeichnet eine Eigenschaft, die solchen Akteuren zugesprochen wird, die in ihrem Handeln nicht oder nur sehr wenig durch feldexterne Interessen geprägt zu sein scheinen.

  3. Dass die Jüdische Gemeinschaft in diesem Cluster gefunden werden kann, liegt vor allem an der starken öffentlichen Präsenz und Wirkung der jüdischen Hilfsorganisation La Benevolecija. An den Resultaten der Befragung wurde deutlich, dass diese zwei Organisationen von den Befragten nicht klar unterschieden werden.

  4. Zwar wird hier Kritik an dem deterministisch verstandenen Habituskonzept von Bourdieu geübt, jedoch im Umkehrschluss das Prozesshafte des Habitus in den Vordergrund gestellt.

  5. Modell der Transformationen nach Schäfer (2015, S. 285).

  6. Die entsprechenden Schülbücher sind den Signaturen R1–R8 in der Liste der analysierten Schulbücher mit den bibliographischen Angaben zugeordnet.

  7. Text7

  8. In den hier verwendeten Quellen wird nur die männliche Form verwendet, die hier beibehalten wird.

  9. Sarajevo ist dargestellt mithilfe einer islamischen Religionsschule, Mostar mithilfe der Alten Brücke, Blagaj mithilfe einer Tekke (Zentrum einer Sufi-Bruderschaft) und Višegrad mithilfe der osmanischen Brücke über der Drina.

  10. Der Tag wurde proklamiert vom Rijaset der Islamischen Gemeinschaft am 23.01.1995.

  11. Auch die interislamische Kritik weist auf deutliche Mängel des Religionsunterrichts hin. Siehe Štimac (2010, 121–124).