„Will politische Bildung mehr sein als nur eine Bestätigung und Verteidigung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse (...), so muß ihr Ziel sein, zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Emanzipation der Menschen beizutragen. Demokratisierung bedeutet insbesondere den Abbau überflüssiger und daher irrationaler Herrschaft von Menschen über Menschen (...). Erziehung zur Demokratie bedeutet demnach Stärkung des Widerstandes gegen Ausbeutung und Herrschaft im Zusammenhang einer nicht demokratisch kontrollierten Reproduktion der Gesellschaft“ (Schmiederer, 1971, S. 37–38). Was Rolf Schmiederer hier als politikdidaktische Maxime postuliert, darf sicher als die Maxime einer auf Ideologiekritik, Emanzipation, engagierte politische Praxis und Demokratisierung ausgerichteten Politikdidaktik betrachtet werden. Schmiederer gewinnt damit emblematische Bedeutung für eine Politikdidaktik im Kontext der von politischer Leidenschaft für gesellschaftliche, politische und kulturelle Veränderungsprozesse aufgeheizten Debatten der 1968 Jahre (Görtler, 2017; Nassehi, 2018).

Das ist lange her – und gewinnt doch derzeit in der Politikdidaktik wieder unerwartete Brisanz. Geradezu traditionell und bis heute wirksam ist der Konflikt zwischen der Demokratiepädagogik und der Politischen Bildung, also zwischen einer kommunitaristisch basierten Erfahrungspädagogik einerseits und einer auf kritisch-rationale Urteilsbildung abhebenden Politikdidaktik andererseits. Das muss, ja darf m.E. kein Widerspruch sein, setzt aber die Akzente jeweils diametral anders. Nun aber profiliert sich mitten in diesem Konflikt mit wachsender Intensität ein Konzept, das sich „Kritische Politische Bildung“ nennt, und das in den Spuren der Kritischen Theorie eine starke Normierung vornimmt (Widmaier & Overwien, 2013; Görtler, 2017). Politikdidaktik zielt demnach auf Ideologiekritik, auf Emanzipation, Mündigkeit sowie auf kritische Selbstaufklärung der Macht-, Rassismus- und Ausbeutungsstrukturen, denen sie selber verhaftet bleibt. Sie zielt, so Bettina Lösch, „auf Demokratisierung und den Abbau von Unterdrückung, sozialer Ungleichheit und auf die Überwindung sozialer Ausgrenzung. Sie fordert die Ausweitung gesellschaftlicher und demokratischer Teilhabe und begreift gesellschaftliche Verhältnisse als von Menschen gemacht und somit als politisch veränderbar. Kritische Gesellschaftsanalyse eröffnet in ihren Analysen Alternativen und Perspektiven, wie eine zukünftige Gesellschaft gestaltet sein kann. Eine kritische politische Bildungspraxis will darauf aufbauend ermöglichen, dass die Subjekte die Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen, in die sie eingebunden sind. Sie sollen Handlungsmöglichkeiten entwickeln können, diese Verhältnisse zu gestalten und verändern. Dafür ist es notwendig, dass sich die politische Bildung kritisch und kontrovers mit den aktuellen Verhältnissen auseinandersetzt“ (Lösch & Thimmel, 2001, S. 8).

Dieses strikt auf Emanzipation verpflichtete und auf die komplexen Aufbrüche der radikalen Demokratietheorie (Comtesse u.a., 2019) anschlussfähige Konzept ist nun allerdings insbesondere von Seiten der Politischen Bildung einer grundstürzenden Dekonstruktion unterzogen worden. Hier läge, so insbesondere Wolfgang Sander als einer der prominenten Vertreter, nicht nur ein Verstoß gegen den Beutelsbacher Konsens vor, dessen Postulat der Kontroversität des Unterrichts wie der Pluralität der ihm zugrundeliegenden Bezugstheorien unterschlagen würde. Hier sei eine geradezu bekenntnishaft weltanschaulich aufgeladene, hoch parteipolitisch instrumentalisierte Inanspruchnahme des Kritikbegriffs am Werke, die nicht nur übersehe, dass jede politische Bildung per se bereits kritisch zu nennen sei, sondern die vor allem die Eigenlogik der pädagogischen Praxis unterlaufe, die „sich von der Logik politischen Handelns unterscheidet“ (Sander, 2013, S. 247).

Manche werden sich bei solchen Überlegungen an die Debatten um Problemorientierung und Emanzipatorische Religionspädagogik erinnern. Unversehens sind wir an einem Punkt angelangt, wo sich gegenwärtige und historische Debatten um eine ungebührliche Politisierung von Religionspädagogik bzw. Politikdidaktik überlagern. Es geht um die intrikate Frage, inwieweit Politik oder – mit Hanna Arendt auf einen weiten Politikbegriff bezogen – das Politische in den Kern, ja in die Axiomatik der Religionspädagogik hineingehört. Der alles entscheidende Punkt ist dabei nun, wie, in welchem Ausmaß, mit welcher Hermeneutik? Hierbei sehe ich zwei Extreme: Dort wo Religionspädagogik primär aus der Perspektive des Politischen und ihres Beitrags dazu konzipiert würde, wo das Religiöse nur zugeordnet würde, wäre sie dann als solche bereits eine Politische Religionspädagogik. Hier wäre das am Werk, was ich versuchsweise eine „religionspädagogische Vermengungshermeneutik“ nenne. Dabei geht es wohl gemerkt zwar nicht um schlichte Verschmelzung, also nicht um eine direkte Ableitung des Religiösen aus dem Politischen oder dessen Instrumentalisierung. Aber es geht um Vermengung im Sinne einer Politisierung, die der relativen Eigenlogik des Religiösen nicht hinreichend gerecht wird. Genau eine solche Politisierung wurde ja der Problemorientierung vorgeworfen – in ihren Grundzügen durchaus zu Unrecht, wie Thorsten Knauth herausgearbeitet hat (Knauth, 2003).

Doch es gibt noch ein anderes Extrem. Sind es am Ende nicht doch kategoriale Unterschiede, die Religionspädagogik von dem Politischen trennen, weil eben Religion und Politik zwei verschiedenen Welten sind? Die eine Welt, die eben auf das Politische und damit auf die machtgeleitete Regelung von Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft abzielen, die andere Welt, die es eben mit der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz zu tun hat, die im Feld der christlichen Religion integral auf die Gotteshoffnung rekurriert. Aufgabe der Religionspädagogik wäre es dann, auf Unterschiede, auf Differenz zu setzen. Es gilt demnach Zweisprachigkeit zu kultivieren, aber es geht auch darum, zwischen diesen Welten zu übersetzen, um deren Bezugslosigkeit und Abstraktion voneinander zu verhindern. Aber auch hier entstehen Einwände: Stimmt die vorausgesetzte Suggestion einer letzten Trennung von Religion und Politik aus theologischer Perspektive? Unterschätzt man nicht die überbordende, holistische Kraft der Religion, die Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Rawls als comprehensive doctrine bezeichnet hat, eine Kraft, die Religion erst so befreiend, so sinnstiftend und orientierend für die Subjekte, aber eben auch so brandgefährlich macht? Die transformatorische Kraft des Evangeliums für gesellschaftliche, kirchliche und eben pädagogische Aspekte würde durch diese Unterscheidungshermeneutik im Ansatz dekonstruiert.

Offensichtlich steht die Religionspädagogik zwischen zwei Alternativen, zwischen zwei Idealtypen im Sinne Max Webers: auf der einen Seite ihre Politisierung, auf der anderen ihre Entpolitisierung. Beide gilt es zu vermeiden. Doch wie?

Sie merken,  tue mich schwer, mit der Fragestellung, die mir als Thema meines Vortrags auf diesem GWR-Kongress zugespielt wurde: Religiös und politisch zweisprachig – was heißt das? Sprach- und Gesprächsfähigkeit im Kontext politischer Religionspädagogik. Denn sie arbeitet genau mit der hermeneutischen Voraussetzung einer Zweisprachigkeit, die ich eben problematisiert habe und zugleich mit dem ebenfalls angefragten Begriff einer politischen Religionspädagogik. Um hier weiter zu kommen, greife ich stattdessen auf den Titel des Gesamtkongresses zurück. Der spricht eben nicht von politischer Religionspädagogik, sondern von politischen Dimensionen religiöser Bildung. Das eröffnet interessante Möglichkeiten, weiterführende Perspektiven und Kritik, was mich nun zu meiner These führt: Sprach- und Gesprächsfähigkeit der Religionspädagogik ergibt sich gerade erst durch die Überwindung einer religiös und politischen Zweisprachigkeit. Hierfür sind freilich eine politische Dimensionierung der Religionspädagogik und eine kritisch-selbstreflexive Übersetzungstheorie von elementarer Bedeutung. Erst so kann die Religionspädagogik sich mit ihrem Profil im Dienste der Subjekte religiöser Bildung artikulieren und realisieren, was man eine Kritische Öffentliche Religionspädagogik nennen kann.

Um diese These zu erläutern und zu begründen, will ich drei Schritte mit Ihnen gehen: Zunächst werde ich die Ausdifferenzierung von Unterscheidungshermeneutik und Vermengungshermeneutik noch weiter ausführen, dann stelle ich dem eine kritische Korrelierungshermeneutik im Rahmen eines integralen Bildungsbegriffs gegenüber, der eine politische Dimensionierung der Religionspädagogik erlaubt und werde abschließend wenigstens Hinweise auf eine kritisch-selbstreflexive Übersetzungstheorie als Hintergrund religionspädagogischer Sprachfähigkeit geben.

1. Zwischen Unterscheidungs- und Vermengungshermeneutik

Wohl kaum einer warnt mit einer solchen Verve vor einer Moralisierung oder auch einer religiösen Überhöhung von Politik wie derzeit Armin Nassehi. Immer wieder macht er vor dem Hintergrund der Theorie funktionaler Differenzierung auf die Immanenz und Unterscheidung der verschiedenen Teilsysteme aufmerksam. Zentral nimmt er dabei die Systemtheorie Luhmanns auf, die im Kern eine Theorie der Moderne ist. Differenzierung soll gerade vor Unterkomplexität schützen und die Eigenlogik der jeweiligen Systeme wahren (Nassehi, 2017, S. 67–159; Nassehi, 2019, S. 48–55). Genau darin aber wird diese systemtheoretische Begründungsfigur für das relevant, was ich eben religionspädagogische Unterscheidungshermeneutik genannt habe. Sie steht im Hintergrund einer prominenten religionspädagogischen Bildungstheorie, wobei das Charakteristische darin liegt, sich die Systemtheorie durch die Brille Schleiermachers anzueignen. Statt der problemorientierten Ausrichtung, auf das als Emanzipation und Gesellschaftskritik zugespitzte Politische, setzt dieses Konzept die performative Anbahnung religiöser Erfahrung als Weltbetrachtungsexperiment. Religion zu zeigen, nicht aber „Glauben zu lehren, Identität zu stiften oder Weltprobleme aller Art zu lösen“, sei die bildungstheoretische Aufgabe des RU (Dressler, 2007, S. 284). Während es in der politischen Bildung um Fragen gehe, die alle in den Raum öffentlicher Erörterung gehören und deren Erörterung selber noch einmal einen wesentlichen Teil der Politik ausmache, sind religiöse Fragen als letzte Fragen, die auch immer mit einer existentiellen Praxis zusammenhängen, einem prozeduralen Entscheidungsprozess enthoben. Im Anschluss an Habermas betont Bernhard Dressler, dass der liberale Verfassungsstaat auf motivationale Ressourcen angewiesen sei, die dieser sich selber nicht geben könne. Deshalb sei es gerade „die Unterscheidung zwischen Politik und Religion und zwischen politischer und religiöser Bildung“, die die „politische Bedeutung religiöser Bildung sichtbar macht“ (Dressler, 2008, S. 77). Gerade durch seine Unterscheidung fände die religiöse Bildung ihre politische Kraft.

Meines Erachtens ist diese Unterscheidungshermeneutik in zweifacher Hinsicht problematisch:

  1. Eine solche Unterscheidungshermeneutik fällt bei aller Relevanz, einer performativen Erfahrungsorientierung durch ihre lediglich indirekte Form von Gesellschafts- und Ideologiekritik, hinter die politische Brisanz der christlichen Botschaft zurück. Politisch-strukturelle Zusammenhänge, in denen die Religionspädagogik ja schon steht, erfordern strukturell situierte, wenigstens aber an Strukturen anschlussfähige Kategorien.

  2. Systemtheoretisch wird gerade von Nassehi der Verdienst darin gesehen, „die letzte Stunde der Wahrheit“ zu markieren, also einen übergreifenden, universalen Wahrheitsanspruch gerade zu dementieren. Er artikuliert dies auch kritisch gegenüber jener Ökologiebewegung, die wie „Fridays for future“ meint, aus Sorge um das Klima aus der Ökologie übergreifende, also die Gesellschaft insgesamt prägende Orientierungen abzuleiten. Dies hält er gleichermaßen für moralisierend wie naiv (Nassehi, 2017, S. 256–297).Ohne auf die philosophischen Aspekte eingehen zu können, die ja bis heute den Streit zwischen Kritischer Theorie und der Systemtheorie prägen: Theologisch wird dies dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens nicht gerecht, der eben das ganze Leben, die Existenz, die Gemeinschaft wie die Gesellschaft aus dem Geiste einer inneren Verbindung von Mystik und Politik, oder von Beten und dem Tun des Gerechten heraus prägen will (Metz, 2006, S. 150–250). Dann entsteht natürlich sofort die Frage, wie man dann einen solchen Wahrheitsanspruch denken kann in einem nachmetaphysischen Zeitalter. Gleichwohl bleibt für die Unterscheidungshermeneutik eine ganz erhebliche Klärungsbedürftigkeit ihrer Wahrheitsfähigkeit.

Andererseits liegt in dieser Unterscheidungshermeneutik ein kritischer Stachel gegen jene Vermengungshermeneutik, die sich aktuell in der Religionspädagogik in bestimmten Reformulierungen einer Problemorientierung, oder einer Ideologiekritischen Religionspädagogik artikuliert. Wird tatsächlich die These der Komplexität des Verhältnisses zwischen Religion und Politik gerecht, dass ein Problemorientierter RU nach wie vor den gelungenen „Testfall für die Verbindung von politischem und religiösem Lernen in einem gesellschaftsbezogenen Ansatz von Religionsunterricht“ darstellt, wie Thorsten Knauth meint (Knauth, 2003, S. 15). Mindestens müsste genauer präzisiert werden, was eine reaktualisierte Konzeption des Problemorientierten RU konkret meinen würde,

„durch hermeneutisch-theologische Rückbesinnung auf Alltag und religiöse Tradition eine eigene Logik und Agenda des Politischen entwickeln. Auf dieser Agenda stehen – bleibend und dringlich – die ineinander verschränkten Fragen von Gerechtigkeit und Anerkennung in der kulturellen, sozialen, aber auch zunehmend ökologischen Dimension der Thematik. Im Blick auf diese großen Schlüsselthemen wird eine problemorientierte Religionspädagogik nicht umhinkommen, in der Tradition kritischer Theorie den globalen Modus einer kapitalistischen Vergesellschaftung in seinen verdinglichenden, entfremdenden und exkludierenden Auswirkungen auf Menschen und Verhältnisse verstehen, thematisieren und kritisieren zu müssen.“ (Knauth, 2018, S. 140–141)

Wie wäre hier die wahrheitsfähige Kraft der religiösen Tradition selber tatsächlich ideologiekritisch, wie produktiv im Dienste der Subjekte einzuspielen?

Zudem liegt im Aspekt der Non-Funktionalität ein elementarer Bereich religiöser Bildung, wie er in Ästhetik, in Liturgie, in symbolischen Erfahrungsprozessen des RU zum Ausdruck kommt, der eben nicht ohne Verlust zu instrumentalisieren ist. So bleibt Peter Biehls Warnung weiterhin bedenkenswert:

„Ästhetische Phänomene und Bedürfnisse z.B. sind aber nicht ohne Rest unter politische Kategorien subsumierbar’ [...]. Auch die theologischen Kategorien sind nicht ‚ohne Rest’ unter politische Kategorie subsumierbar, wenn nicht der Sinn politischer Emanzipation verloren gehen soll [...]. Die Theologie hält beispielsweise gerade die Erfahrung offen, dass der Mensch nicht in dem aufgeht, was er produziert und durch politische Praxis herstellbar ist. Sie nimmt diese Dimension des menschlichen Lebens, die nicht mehr durch Praxis gedeckt werden kann, auch ausdrücklich durch ihre Rede von Gott wahr; denn die These, der Mensch sei das, was er aus sich macht, ist im Blick auf alle ‚Praxisunfähigen’ inhuman.“ (Biehl, 1973, S. 34)

So stehen wir vor einer Spannung zwischen einer Unterscheidungs- und Vermengungshermeneutik. Wie wäre eine weiterführende Perspektive zu gewinnen? Hier kommt nun der Begriff der Dimension ins Spiel.

2. Kritische Korrelierungshermeneutik

Anstatt einer voreiligen, bildungspolitisch wie historisch verhängnisvollen Politisierung der Religionspädagogik das Wort zu reden (Könemann, 2018, S. 15–23; Herbst, 2019, S. 28–41), wäre das Politische als Dimension eines integrativen religiösen Bildungsbegriffs anzusetzen. Es geht um eine politische Dimension die in einem korrelativen Verhältnis mit anderen Dimensionen steht. ‚Integrativ’ bedeutet, dass hier die ästhetisch-kulturhermeneutische, kognitiv-reflexive, religiöse wie strukturell-politische Dimension religiöser Bildung in nicht-hierarchischer Weise kritisch wie produktiv, spannungsvoll und dynamisch aufeinander bezogen werden. Ich nenne dieses Verhältnis eine kritische Korrelierungshermeneutik. Immer sind in dieser kritischen Korrelierungshermeneutik die je anderen Dimensionen mitzudenken. Damit wird einerseits der Eigenständigkeit verschiedener Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitszugänge Rechnung getragen, wie es der funktionalen Differenzierung der Moderne entspricht. Politik ist eben doch etwas Anderes als Religion und darf nicht aus ihr abgeleitet werden (Grümme, 2009, S. 148–156). Dies war eines der zentralen Argumente, die oben gegenüber einer Politisierung der Bildung genannt wurden. Andererseits wird dadurch markiert, dass wir es mit dieser Eigenständigkeit lediglich mit einer relativen Eigenständigkeit zu tun haben, die eine strikt separierende Zuschreibung der Dimensionen unterläuft. Die Wechselwirkung sozialer, kultureller, ökonomischer, identitätslogischer wie politischer Faktoren wird auf diese Weise kategorial berücksichtigt. Vor allem aber hat Religion durchaus auch im öffentlichen Diskurs und eben nicht nur im Privaten ihren Platz (Grümme, 2018, S. 171–212). Der Religion sind, so schon Karl Ernst Nipkow,

„erhellende sinnstiftende kognitive und ethisch orientierende, soziale und ästhetische Seiten eigen. Sie sind daher auch religiöser Bildung gleichursprünglich inhärent. Die ethische, soziale und politische Seite religionspädagogisch grundsätzlich festzuhalten, entspricht insbesondere den Sachstrukturen unserer biblisch-christlichen Gesamtüberlieferung“. (Nipkow, 2003, S. 246)

Eine ethische, eine sozial-politisch-orientierte, eine reflexive und eine ästhetisch orientierte Dimension religiöser Bildung wären also integrativ zu korrelieren.

Durch diesen integrativen Bezug der Dimensionen aufeinander werden ästhetische, oder symbolpädagogische Elemente unter der Konfrontation mit politischen Kategorien reflexiv für die politischen Instrumentalisierungszusammenhänge, in denen sie stehen. Kulturhermeneutik wird kritisch wie produktiv mit Kriterien konfrontiert, die dieser erst eine trennscharfe „Unterscheidung der Geister“ erlaubt. Sie vermag damit nicht nur faktisch, sondern eben vor allem intentional ihre ideologiekritische Potenz in gesellschaftlich-strukturellen Kategorien zu entfalten. Dies ermöglicht eine Verbindung von Mystagogie und Politik im religiösen Lernen, das gegenüber den in der Religionspädagogik derzeit dominierenden performativ-kulturalistischen Ansätzen sein kritisches Profil und seine weiterführende Dynamik gewinnt. Dazu gehört auch die Anschärfung der religionsdidaktisch dominanten Kategorie des sozialen Lernens, etwa in der Compassionpädagogik, dem Diakonischen Lernen, oder im Vorbildlernen durch politische-systemische Kategorien (Wohnig, 2017, S. 23–113; Lösch & Thimmel, 2011). Denn die Reduktion auf das Soziale unterläuft die grundstürzende, transformatorische, kritisch-befreiende Pointe des Evangeliums, die auch die gesellschaftlich-ökonomischen Strukturen kritisch reflektiert. Nicht wird das Soziale immer schon ins Politische hinein übersteigert oder - umgekehrt - das Politische ohne das Soziale gedacht. Die Interdependenz zwischen der sozialen und politischen Ebene verdankt sie der Einsicht in die unüberholbare Bedeutung lebensweltlicher Erfahrungen gegenüber rein strukturell-institutionellen Vernetzungen. Aber erst durch politisch-strukturelle Kategorien werden intersubjektive, partizipatorische Lernerfahrungen zu Wegen eines auch politisch kompetenten, praktischen Urteilsvermögens (Sander, 2008, S. 160–164; Schlag, 2010, S. 496–537; Grümme, 2009, S. 40–43.180–182).

Ohne die Tragweite einer solchen politischen Dimension für die Religionspädagogik weiter ausführen zu können, wird jedoch jetzt schon eines klar: Die Spannung zwischen Unterscheidungs- und Vermengungslogik kann nicht durch eine Einsprachigkeit in der einen, oder in der anderen Richtung aufgelöst werden. Es geht weder um eine schlichte religionspädagogische Zweisprachigkeit noch um eine eindimensionale Monolingualität. Sich mal religiös, mal politisch artikulieren zu können, das bleibt hinter dem hier skizzierten Ansatz der Religionspädagogik zurück, für den eben Religion und Politik auf die eben entwickelte Weise zusammenhängen. Aber dann wird die Ausgangsfrage erst recht brisant nur, dass sie jetzt präzisiert werden kann: Wie kann unter den gegebenen Bedingungen der Spätmoderne und der Post-Traditionalität eine politisch dimensionierte Religionspädagogik überhaupt sprachfähig sein?

An dieser Stelle kommt nun die Kategorie der Übersetzung ins Spiel. Sie scheint die Voraussetzung für die Sprach- und Gesprächsfähigkeit der Religionspädagogik insgesamt zu bilden, zu der eben das Religiöse und das Politische in deren spezifischen Bezogenheit gehören. Das macht zum Abschluss nun in aller Kürze die Thematisierung des Übersetzungsbegriffs erforderlich.

3. Selbstreflexive Übersetzungstheorie. Perspektiven

Im gegenwärtigen Zeitalter der Post-Traditionalität Traditionen zu Gehör zu bringen, dafür braucht es Übersetzung. Übersetzungen machen Unverständliches zugänglich, öffnen tradierte Gehalte für Neues und ermöglichen ihnen eine neue, manchmal ganz unerwartete Zeitgenossenschaft. Ohne Übersetzungen blieben Traditionen stumm, auch ihre kritischen Seiten. In den heterogenen, unübersichtlichen Lebenswelten wie in der Ausdifferenzierung distinkter Wirklichkeitsdimensionen avanciert Übersetzung zur Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation, Wahrheitsfähigkeit und Sinn. Dies wird auch dem Religionsunterricht abverlangt, jedenfalls insofern er sich im Kontext der Heterogenität von religiösen und säkularen Überzeugungen nicht als rein informierender Unterricht in der Perspektive der 3. Person, sondern als erfahrungsbezogener Unterricht in der Teilnehmerperspektive der 1. Person versteht. In einem besonderen Maße wird die Religionslehrkraft als Übersetzerin gefragt. Ihr obliegt es, zwischen den heterogenen Erfahrungen der Schülerinnen und Schülern und der wiederum in sich hoch ausdifferenzierten religiösen, biblischen wie theologischen Tradition zu übersetzen (Mendl, 2015). Eine solche Übersetzungsfähigkeit ist unter Professionalisierungsaspekten wohl deren entscheidende Kompetenz in der Spätmoderne, wie Manfred Pirner oder Bernd Schröder betonen (Schröder, 2013, S. 400; Pirner, 2015, S. 446–458).

In diesem Zusammenhang wird ein interdisziplinärer Blick relevant:

Die gegenwärtige Kulturtheorie reflektiert die Relevanz von Übersetzung insbesondere in der Situation fragmentierter pluraler Gesellschaften. Hatte sich die moderne Theorie der Übersetzung längst von der letztlich objektivistischen Annahme verabschiedet, Übersetzung hieße, ein Traditionsgut der Vergangenheit ungebrochen und werkgetreu in die Gegenwart zu transferieren, so wird zunehmend der interaktionale wie konstruktivistische Akzent von Übersetzung markiert, der die Grenzen zwischen Original und Übersetzung porös werden lässt (Nassehi, 2017, S. 197–201). Tradition wird im Übersetzungsprozess überliefert wie zugleich durch die tradierenden Subjekte transformiert. Belehrt durch den Postkolonialismus zeigt sich die gegenwärtige Kulturwissenschaft überdies sensibel für die machtförmigen Strukturen jeder Übersetzung: Übersetzen heißt doch immer auch Fremdes zu repräsentieren, für dieses zu sprechen. Sie kann eine Bereicherung, eine Erweiterung des Eigenen sein, kann zur Verständigung beitragen, kann aber auch Moment einer einseitigen Assimilation und machtgeprägter Hermeneutik werden (Müller-Funk, 2016, S. 189–220; Renn, 2002, S. 9; Pirner, 2012, S. 79–88). Die Einsicht, die Pierre Bourdieu gegenüber der Sprechakttheorie geltend gemacht hat, wird übersetzungstheoretisch hoch brisant: Sprechakte bilden „nicht die Wirklichkeit ab, sondern greifen in die soziale Welt selbst ein und beteiligen sich auf diese Weise an der Aushandlung neuer Ordnungen“ (Rieger-Ladich, 2017, S. 38).

Neben diesen Konstruktionscharakter von Übersetzung tritt ein weiteres Moment: Wird Tradition durch Übersetzung verändert wie angeeignet, so muss andererseits sich die Gegenwart offen für das Sperrige, das Nichtübersetzbare der Tradition halten. Dabei sind aber andererseits nun gerade jene Momente von Desorientierung und Bruch von Wichtigkeit, durch die Traditionen zugleich ihre machtkritische Dynamik entfalten können, bieten sie doch durch ihren Impuls der Unterbrechung des Gegebenen und der Kontinuitäten immer auch überraschende Horizonte und ungeahnte Perspektiven auf Neues, Verdrängtes, Exkludiertes. Übersetzung in diesem Sinne, so etwa Judith Butler, „führt denn auch an die epistemischen Grenzen jedes gegebenen Diskurses, indem sie den Diskurs in eine Krisis hineinzieht, aus der er sich durch keine Strategie der Assimilation und Einhegung der Differenz befreien kann“ (Butler, 2013, S. 23). Übersetzung besitzt so gesehen eine machtkritische Pointe, die Raum für die im Diskurs Ausgeschlossenen eröffnet (Werner, 2018, S. 183; Butler, 2013, S. 21–24).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Religionspädagogik muss eine selbstreflexiv kritische Übersetzungsfähigkeit gewinnen, um unter den gegenwärtigen, hoch heterogenen Bedingungen der Spätmoderne wahrgenommen, verstanden und wirksam werden zu können. Selbstreflexiv deshalb, weil sie wahrscheinlich immer noch nicht radikal genug die Machtdynamik der performativ-wirklichkeitskonstituierenden Kraft begriffen hat, die mit sprachlichen Operationen vollzogen wird. In dem Maße, in dem sich der Übersetzungsgedanke von objektivistischen Vorannahmen gelöst und in intersubjektive Konstruktionsprozesse eingetragen hat, in dem Maße rückt das Subjekt ins Zentrum. Von Bourdieu, von der Diskursanalyse Foucaults wie vom Poststrukturalismus Judith Butlers her wäre zu lernen, dass sich weder diese Übersetzungsprozesse noch der Subjektgedanke selber hegemonialen Tendenzen zur Gänze entwinden können. Jede Übersetzungstheorie hätte deshalb ihre eigenen machtheoretischen Implikationen selbstreflexiv aufzuklären. Zugleich aber muss sie sich selber offen halten, muss sich veränderungsbereit, wahrnehmungsfähig, irritationsfähig halten. Diese intrikate Verbindung einer solchen Kommunikabilität einerseits und kritischen Selbstreflexivität andererseits ist erst die Basis für eine kritisch-produktive Zeitgenossenschaft der Religionspädagogik. Das meine ich, wenn ich von einer kritisch-selbstreflexiven Übersetzungsfähigkeit spreche.

Es ist demnach, und damit komme ich zum Schluss, eine solche kritisch-selbstreflexive Übersetzungsfähigkeit, die die Religionspädagogik sprach- und gesprächsfähig macht und von der aus sie erst die spezifischen Konturen einer Kritisch-Öffentlichen Religionspädagogik gewinnt. Als solche kann sie sich in die derzeitigen Debatten um Demokratisierung, Emanzipation und Partizipation aus der biblischen Tradition und ihrer transformatorischen wie identitätsstiftenden Kraft heraus in den diversen Öffentlichkeiten von Politik, Gesellschaft, Medien, Schule und Unterricht zur Geltung bringen – lernbereit und sprachfähig.

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Dr. Bernhard Grümme, Professor für Religionspädagogik und Katechese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum