1 Zur Genese des Schulprojekts „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken“

Das Projekt „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken“ wurde im Jahre 2003 an der Offenbacher Theodor-Heuss-Schule, einem Berufsschulzentrum mit ca. 2000 Schüler*innen aus rund 70 Nationen, initiiert.

Ausgangspunkt der Überlegungen, den bisherigen Religions- und Ethikunterricht in anderer Form zu gestalten, war sowohl der schulinterne wie auch der gesellschaftliche Kontext.

Nach dem im Jahr 2001 verübten Attentat auf das World Trade Center und nach Büchern wie Huntingtons „Kampf der Kulturen“ hatte sich das gesellschaftliche Klima verschärft. Religionen, vor allem aber Muslime, standen unter dem Generalverdacht, latent gewaltbereit zu sein. Gleichzeitig wurden zu dieser Zeit überall, auch in verschiedenen Stadtteilen Offenbachs, „Runde Tische“ ins Leben gerufen.

Die Frage war daher auch für die Schule, wie Strukturen geschaffen werden konnten, die geeignet sind, junge Menschen in einen qualifizierten Dialog zu bringen. Dafür musste das Konzept des Religions- und Ethikunterrichts verändert werden. Die Schüler*innen sollten nicht mehr nach Religions- und Konfessionszugehörigkeiten getrennt, sondern im Klassenverband unterrichtet werden. Gleichzeitig war es uns wichtig, die Unterschiede deutlich zu machen, die zwischen Schüler*innen, die einer bestimmten Konfession, Religion oder keiner Religion angehören, bestehen. Wir wollten keinen „Einheitsbrei“ und auch keinen wertneutralen Unterricht kreieren, sondern den Überzeugungen und Traditionen, wie auch den Zweifeln und Fragen der Schüler*innen Raum geben und vor allem mit den bestehenden Differenzen arbeiten. Das heißt, die Schüler*innen sollten ihre Mitschüler*innen mit ihren unterschiedlichen Traditionen und Überzeugungen nicht als zu überzeugende Diskussionspartner*innen ansehen, sondern in ihnen und ihrer Andersartigkeit eine Ressource entdecken.

Diese Perspektiverweiterung ermöglichte es, die eigene Positionalität kritisch zu reflektieren und sich weiterzuentwickeln und neue Dimensionen zu entdecken. In der Fächergruppe von Religion und Ethik wurde diese Frage unter inhaltlichen, fachdidaktischen und organisatorischen Perspektiven bedacht und in dem Projekt „Verschiedenheit achten Gemeinschaft stärken“ konzeptionelle entfaltet (genaue Dokumentation der Inhalte in RPI, 2017).

Das Projekt ist nicht fertig, sondern entwickelt sich stetig weiter. Manches wirkt daher retroperspektiv klarer und eindeutiger als es sich in der Praxis darstellte. In diesem Aufsatz sollen die Grundentscheidungen für eine solche innovative Organisationsform in der Fächergruppe Religion und Ethik darlegt werden. Dazu werden die Dimensionen der Vielfalt, die in den Lerngruppen auftreten, analysiert und dann die elementaren didaktischen Prinzipien entfaltet. Diese werden mit praktischen Beispielen ergänzt.

2 Drei Grundentscheidungen und eine Problemanzeige

2.1 Gleichwertigkeit von religiöser und religionsungebundener Weltsicht

In den meisten Bundesländern werden die Fächer Religion und Ethik nicht gleichwertig betrachtet. In Westdeutschland ist meist Religion Ethik vorgeordnet, in den Bundesländern Berlin und Brandenburg ist es umgekehrt. Eine der Grundvoraussetzungen des Offenbacher Projekts ist die Gleichwertigkeit religiöser und philosophisch-ethischer Weltanschauungen.

Bei allen Differenzen zwischen philosophischen und religiösen Überzeugungen ist der unterrichtliche Prozess der Selbstpositionierung auf Schülerseite in beiden Fächern sehr ähnlich. Durch das Paradigma der Kompetenzorientierung lassen sich sowohl übergreifend über Konfessionen bzw. Religionen als auch übergreifend über Religion und Ethik gemeinsame Curricula bestimmen. 

2.2 Lernen in Begegnung

Menschen lernen auf unterschiedlichen Wegen. Besonders intensiv wird in direkten Begegnungen gelernt. Daher ist die religiös-weltanschauliche Heterogenität der Lerngruppen kein Mangel, sondern bietet zahlreiche Lernanlässe. Das besondere des Offenbacher Modells liegt darin, dass wir als Lehrpersonen die Vielfalt in den Klassen spiegeln. Teamteaching gehört zu den Grundcharakteristika des Projekts. Die Lehrkräfte bilden die Zusammensetzung der Schülerschaft ab, in dem es ev. und kath. Religionslehrer*innen und Ethiklehrkräfte sowohl mit dem Schwerpunkt Philosophie als auch islamischer Theologie gibt. (Darüber sichern wir auch die Konfessionalität des RU.) Die Schüler*innen lernen zum einen verschiedene religiös/weltanschauliche Positionen durch Vertreter*innen derselben kennen und können zum anderen erleben, wie die Lehrkräfte mit ihren Differenzen umgehen. Stephan Leimgruber bezeichnet die Begegnung nicht umsonst als „Königsweg“ interreligiösen Lernens (Leimgruber, 2007, S. 101). Dies lässt sich selbstverständlich auch auf weitere Bezüge übertragen.

2.3 Individuum und Gemeinschaft

Ein zentraler Ansatzpunkt für die didaktische Konzeption ist die Subjektorientierung. Ein Ziel des Unterrichts ist die Identitätsentwicklung und -bildung der Lernenden. Doch der Blick auf den Einzelnen übergeht nicht gemeinschaftliche Einbindungen und Bezüge. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gestaltet sich in diversen gesellschaftlichen Gruppen, Milieus und Kulturen unterschiedlich. Autonomie, Individualität und Zugehörigkeit sowie Gemeinschaftserleben sind daher spannungsvoll aufeinander bezogen, ohne dass ein Aspekt normativen Vorrang haben sollte.

2.4 Eine Problemanzeige: Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft

Wir streben einen Dialog auf Augenhöhe an. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass die meisten christlichen Lehrkräfte gleichzeitig Repräsentant*innen der Mehrheitsgesellschaft sind, während die meisten muslimischen Lehrkräfte (und Schüler*innen) zur Minderheitsgesellschaft gehören. An manchen Stellen beginnen sich diese klaren Zuweisungen aufzulösen. Allerdings sind die materiellen und personellen Unterstützungsstrukturen, die für evangelischen und katholischen Religionsunterricht zur Verfügung stehen, um ein Vielfaches höher als die für Ethik bzw. islamischen RU. Dieses Ungleichgewicht wird noch länger bestehen bleiben.

3 Drei Dimensionen der Vielfalt im Berufsschulreligions- und Ethikunterricht

3.1 Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen

In jedem Klassenzimmer einer Berufsschule finden sich Schüler*innen verschiedener Religionen und Weltanschauungen. In der Zusammensetzung gibt es regionale und schulformbezogene Unterschiede. In zahlreichen Klassen bildet keine Gruppe mehr eine Mehrheit. Es existieren verschiedene religiöse und weltanschauliche Gruppen nebeneinander. Die meisten Lernenden erleben dies nicht als problematisch, sondern seit ihren KiTa-Tagen als Normalität.

Aufgrund der Zusammensetzung gibt es ein hohes Interesse am Austausch und am Kennenlernen des Anderen. Das Gefüge der Lerngruppen bringt selbst eine eigene Anforderungssituation mit sich. Im Unterricht ist anzustreben, jede Religion und Weltanschauung in ihrer Eigensicht und Vielschichtigkeit zu Wort kommen zu lassen. Die Lernenden sollen nicht nur den Blick von außen kennenlernen, sondern auch die Binnenperspektive einer Religion bzw. Weltanschauung.

3.2 Vielfalt innerhalb einer Religion bzw. Weltanschauung

Keine Religion oder Weltanschauung ist homogen. Im Gegenteil – der Traditionsschatz einer Religion oder Philosophie ist vielfältig und facettenreich und oft in sich widersprüchlich. Daher können eine einzelne Position bzw. ein einzelner Text eine Religion oder Weltanschauung nur bedingt repräsentieren. Im interreligiösen Lernen ist die Beschäftigung mit dem Wissen um die Vielfalt und Ambiguität der eigenen Religion / Weltanschauungen eine bisher nicht ausreichend erschlossene Ressource.  Fremdheit schon im eigenen und vermeintlich Vertrauten zu entdecken, hilft mit „Fremdheit“ in anderen Religionen bzw. Weltanschauungen umzugehen.

3.3 Pluralismus innerhalb eines religiös bzw. weltanschaulich geprägten Individuums

Auch das einzelne Subjekt ist nicht religiös bzw. weltanschaulich homogen.  In Menschen existieren nebeneinander sich zum Teil widersprechende religiöse bzw. weltanschauliche Teilidentitäten, -zugehörigkeiten oder -bekenntnisse. So haben auch religiös geprägte Menschen religionsunbezogene Weltdeutungsmuster und agnostische Menschen leben mit magischen oder mystischen Vorstellungen. Dieses Mischungsverhältnis verändert sich im Laufe eines Lebens und die unterschiedlichen Überzeugungen werden in unterschiedlicher Intensität gelebt. 

Der letzte Punkt verdeutlicht, warum auch konfessionell „reine“ Lerngruppen religiös und weltanschaulich heterogen sind.

4 Die didaktischen Prinzipien „Differenz“ und „Dialog“

In der Planung, Entwicklung und didaktischen Durchführung des Projekts „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken“ haben sich zwei Prinzipien als elementar erwiesen: Differenz und Dialog. Beide Prinzipien waren und sind in jeder Phase der Konzeption und des Unterrichts präsent.

4.1 Zur Bedeutung von Differenz

Differenz heißt anzuerkennen, dass es aufgrund unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Selbstverortung ganz unterschiedliche Perspektiven des Weltzugangs und -verstehens gibt. Diese Unterschiede bestehen hinsichtlich der Religionen und Weltanschauungen insgesamt, innerhalb einer Religion / Weltanschauung und innerhalb einer Person, was die Zusammensetzung der eigenen Überzeugungen angeht und die Intensität, mit der man diese lebt. Zum anderen verstehen wir die Anerkennung und Auseinandersetzung mit dieser Verschiedenheit als eine Bereicherung für das eigene Verständnis und den eigenen Zugang.

Die Betonung von Differenz soll aber nicht zur Vereinzelung und Auflösung aller Traditionsbezüge führen. Genauso wäre es falsch, diese vielfältigen Differenzerfahrungen als Atomisierung oder Bedrohung zu verstehen, die möglichst schnell aufgehoben werden muss. Differenzen sind vielmehr eine Ressource zur Welterschließung.

4.2 Zur Bedeutung von Dialog

Dialog bedeutet nicht, dass religionswissenschaftliche Informationen ausgetauscht werden und abgezirkeltes Wissen vermittelt wird. Dialog bedeutet, dass die Lernenden und die Lehrenden in der je eigenen Positionalität miteinander ins Gespräch kommen – eine Positionalität, die nie abgeschlossen und fertig ist. In diesem Dialog begegnen sich nicht Expert*innen und Laien, sondern verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Biographien aus differierenden Kontexten. Dennoch ist aber klar, dass die Lehrkräfte den Bildungsprozess strukturieren und steuern.

So wie die Differenz auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen wird, so findet auch der Dialog auf verschiedenen Ebenen statt: Zwischen Angehörigen unterschiedlicher religiöser Traditionen und Weltanschauungen, zwischen verschiedenen Individuen mit ihren je subjektiven Zugängen und innerhalb des eigenen Ichs, indem ich meine Tradition zu meinem Leben in Beziehung setze.

Alle Dialogformen sind durch eine Suchbewegung qualifiziert und machen den Kern der Unterrichtsform aus. Insofern ist dialogischer Unterricht nie bis ins Letzte planbar, da das Geschehen an sich immer auch Teil des Inhaltes ist.

Die Fokussierung auf die Verschiedenheit will nicht in Beliebigkeit und Isolation enden. Die Betonung von Differenz und Dialog zielt auf Gemeinschaftsbildung und Ich-Stärkung ab. Nur wenn wir einen konstruktiven Umgang mit der Vielfalt einüben und erlernen, kann es ein solidarisches Miteinander geben.

Eine sich durch Dialog aufbauende Gemeinschaft entsteht nicht primär durch Herstellung eines Konsenses, sondern im Dialog selbst verwirklicht sich die Gemeinschaft. Konstruktive Dialoge stärken eine vielfältige Gemeinschaft, wie sie der Multiperspektivität unserer Welt und unseres Lebens angemessen ist.

Diese Dialogfähigkeit fördert bei allen Diskurspartner*innen die Reflexions- und Sprachfähigkeit. Dialogischer Religions- und Ethikunterricht leistet daher einen wichtigen Beitrag zur Identitäts- wie auch Gemeinschaftsbildung.

5 Die Rolle der Lehrenden und der Lernenden

5.1 Rolle der Lehrenden

Die Rolle der Lehrkraft beinhaltet verschiedene Aspekte: Die Lehrkraft repräsentiert die eigene religiöse / weltanschauliche Position. Dabei geht es nicht nur um eine inhaltliche Kompetenz, sondern um einen – wie auch immer ausgeprägten – Lebensvollzug. Die Lehrkraft steht für eine spezifisch gelebte und damit lebendige Religion. Gleichzeitig will und soll sie allen Schüler*innen Lernprozesse eröffnen. In diesen Phasen entspricht die Rolle der eines Moderators bzw. einer Moderatorin mit Äquidistanz zu den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen. Um beide Aufgaben zu erfüllen, benötigt es zum einen grundlegende Fachkenntnis der eigenen Religion / Weltanschauung – inklusive Zugänge zur gelebten Praxis dieser Religion. Auf der anderen Seite braucht man zumindest basale Kenntnisse und Sensibilität gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen.

5.2 Rolle der Lernenden

In diesem Modell gelten die Schüler*innen als Expert*innen ihrer eigenen Erfahrungen und Religiosität bzw. weltanschaulichen Überzeugung. Sie sind aber nicht Expert*innen für die gesamte eigene Tradition.

Sie sollen ermuntert werden, das, was ihnen in ihrer Tradition wichtig ist, in das Unterrichtsgeschehen einzuspielen. Gleichzeitig sollen sie aber auch hören und verstehen lernen, was für andere in ihrer jeweiligen Tradition bedeutsam ist. So werden durch die Beiträge der teilnehmenden Schüler*innen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den verschiedenen oder auch innerhalb der eigenen Tradition(en) deutlich. Diese Erkenntnisse werden dann nicht wertend verglichen, sondern unter dem Aspekt, was das Wissen und Kennenlernen anderer Perspektiven für die persönliche Haltung bedeuten kann, beleuchtet. Die Schüler*innen kommunizieren und reflektieren dann diesen Prozess und nicht die Richtigkeit der jeweiligen Vorstellungen. 

6 Didaktische Umsetzung an ausgewählten Beispielen

Das dialogische Unterrichtsprojekt ist für ein Schuljahr konzipiert. Es besteht aus Modulen, die zwar aufeinander aufbauen, aber auch einzeln umzusetzen sind (vgl. RPI, 2017). Die Module sind:

Modul 0:       Willkommen

Modul 1:        Vielfalt bewusst erleben

Modul 2:       Integration!?

Modul 3:       Biographisches Lernen

Modul 4:       Toleranz

Modul 5:       Ein Ausflug in die Geschichte – Al-Andalus

Modul 6:       Ausflug in die Schriften

Modul 7:       Das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen

Modul 8:       Pluralistische Gesellschaft – Säkularer Staat

Modul 9:       Die (post)säkulare Gesellschaft: Voneinander lernen und Grenzen setzen

Modul 10:     Komplementärer Lernprozess – Gerechtigkeit / Frieden / Gender

Modul 11:      Besuche und Begegnungen mit / an Orten des Glaubens

Modul 12:     Mahlzeit

6.1 Sichtbarmachen von Differenz

Wie in den Vorüberlegungen beschrieben, will das Projekt der Differenz auf verschiedenen Ebenen Raum geben: zwischen Ethik und Religion, zwischen verschiedenen Religionen, innerhalb verschiedener Richtungen einer Religion und auch der Differenz innerhalb eines Individuums. Es soll den Schüler*innen ermöglicht werden, sich in einer bestimmten Tradition verorten zu können, ohne dass diese Positionierung zur Unbeweglichkeit und Erstarrung führen muss.

Dafür wird zu Beginn des Schuljahres klassenweise eine raumgreifende Installation erstellt (Modul 1). Jede Schülerin und jeder Schüler bekommt einen roten Wollknäul in die Hand und alle binden sich an einem Stuhl mit der Aufschrift „THS“ (Theodor-Heuss-Schule) fest. Dieses Fadenbild stellt den gemeinsamen Ausgangspunkt der Lerngemeinschaft dar (siehe Foto 1)

Dann wird nach Wohnorten, Herkunftsorten und den Herkunftsländern der Vorfahren der Schüler*innen gefragt. Es bilden sich unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen. In der Folge führen alle Schüler*innen ihren roten Faden wieder an einem Stuhl zusammen. Dieser steht für die gemeinsame Sprache: Deutsch.

Andere Gruppierungen entstehen, wenn wir die Schüler*innen nach den Sprachen befragen, die in ihren Herkunftsländern oder Familien gesprochen werden.

Dieser Vorgang wiederholt sich in Bezug auf Glaube und Werte (siehe Foto 2), auf besondere Fähigkeiten und Hobbys.

So wird zur Differenzierung ermuntert. Die Schüler*innen sollen sich, z. B. ausgehend vom Stuhl „Glaube und Werte“ nicht nur als Christ*innen, Muslime oder „Nix“ positionieren, sondern als Evangelische, Katholische, russ. / syr. / griechisch Orthodoxe, Evangelikale, Pfingstler, Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadiyya, Buddhisten, Hindus, Atheisten, Agnostiker etc.

Beim gemeinsamen Blick auf diese raumgreifende Installation (vgl. Foto 3 und 4) wird dann deutlich, dass Schubladen im Sinne von Klischees nicht passen: Die Christen, die Moslems, die „Ungläubigen“ gibt es nicht als feste Gruppierung. Je nach dem, wonach ein Mensch befragt wird, ändert sich seine Bezugsgruppe. Manchmal steht ein Schüler oder eine Schülerin auch alleine da, um sich dann wieder in einer neu entstehenden Gruppierung wiederzufinden. Es wird deutlich, dass Identitäten und Zugehörigkeiten einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen sind. Dabei wird die Zugehörigkeit zu einer Tradition nicht egalisiert, sie wird durchaus als identitätsstiftend erfahren. Dies jedoch unter der Maßgabe, dass sie von den jeweiligen Individuen kritisch reflektiert werden kann und die Verortung in derselben auch veränderlich ist.

Auf diese Weise sensibilisiert, beginnen die Lerngruppen das Biographische Lernen (Modul 3). Jeder Schüler und jede Schülerin erhält die Möglichkeit, anhand dreier Symbole von sich zu erzählen. Ein Symbol steht für das Glück, eines für die Tradition und eines kann frei gewählt werden. Alle Symbole werden in der Mitte auf einer Decke ausgebreitet. Dann liegt z. B. das Buch „der Gotteswahn“ neben einer Gebetskette, eine Zigarette neben einem Gedichtband von Kleist, auch Turnschuhe, Hadithensammlungen, Videospiele, Hochzeitsfotos und Kommunionskettchen lassen sich finden, alles hat (s)einen Platz.

6.2 Bedeutung von Grenzen

Um der Differenz Raum geben zu können, besteht eine Aufgabe darin, vorschnelle und verallgemeinernde Zuordnungskategorien, mit denen unsere Schüler*innen bedacht werden und die sie selbst verwenden, zu hinterfragen oder aufzuheben. Schubladen sollen „gesprengt“ werden, obwohl sie bei aller Enge auch Sicherheit bieten.

Damit sich die Schüler*innen in den neu entstehenden freien Raum wagen können, müssen sie erfahren, dass dies nicht gleichbedeutend ist mit einem Zustand der Atomisierung, wo jeder und jede in vollständiger Autarkie und damit beliebig agieren kann. Stattdessen sollten für eine dialogische Gemeinschaft Grenzen als Notwendigkeit identifiziert und respektiert werden, und zwar auf mehreren Ebenen:

… als Schutz von Identitäten (auch von Gruppen)

Zu Beginn des Schuljahres werden den Schüler*innen Gesprächsregeln an die Hand gegeben, wie mit Unterschieden zwischen den Menschen umgegangen werden soll. In diesen Regeln werden Grenzen benannt, die diesen Raum des Sichtbarwerdens des einzelnen Menschen schützen.

Sie sollen somit dazu dienen, einen sogenannten „safe space“ zu errichten und werden immer wieder erinnert und im Laufe der Zeit von den Schüler*innen selbst eingefordert und eingebracht. Zu diesen Regeln gehört auch, dass nicht alles ausdiskutiert werden muss. Es gibt in den unterschiedlichen Traditionen z. B. bezüglich bestimmter Glaubensaussagen Widersprüche, die stehen bleiben müssen, da sie als Identitätsmerkmale wichtig sind (Simon-Winter, 2018, S. 262–263).

… als Schutz von Werten

Dass Grenzen auch notwendig sind, um Werte zu schützen, wird in den Modulen „Toleranz“ und auch „Zivilisierte Verachtung“ deutlich. In Anlehnung an Rainer Forsts Toleranzkomponenten (Forst, 2003, S. 42–48) und -konzeptionen erfahren die Schüler*innen, dass Toleranz nicht bedeutet, „alles geschehen lassen“, dass sie auf keinen Fall mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist, sondern immer etwas beinhaltet, was aus der eigenen Perspektive abzulehnen ist. Toleranz wie Intoleranz haben immer dort ihre Grenzen, wo Menschen in ihrer Würde verletzt werden (Modul 4).

Im weiteren Verlauf wird das Thema der Grenzziehungen im Blick auf die in unserer Gesellschaft verankerten Freiheitswerte nochmals aufgegriffen (RPI, 2017, S. 33).

… als Schöpfungszonen

Grenzen können auch Schöpfungszonen (Nieser, 2011, S. 23.) sein. Gerade dort, wo Ambiguität herrscht, kann Neues entstehen.

Durch die Beschäftigung mit der historischen Epoche von Al-Andalus (Modul 5) wird erkennbar, dass sich inmitten von Krieg und Feindschaft immer wieder Gruppen von Menschen unterschiedlicher Religionen auch angesichts widriger Umstände und Rückschläge entschlossen hatten, zusammenzuarbeiten und damit einem Land zu seiner kulturellen Blüte verhalfen (Bossong, 2016). Diese Erkenntnis ist in der aktuellen gesellschaftlichen Situation vor allem deswegen relevant, weil für die Schüler*innen so ihre aktive Rolle für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen deutlich wird, wie es eine Schülerin aus Pakistan formulierte, dass „wir Moslems gar nicht so doof [sind] und auch zur kulturellen Entwicklung Europas beigetragen [haben].“

6.3 Dialogische Grundhaltung als Teil religiöser und philosophischer Traditionen

Im Projekt „Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken“ geschieht auf Seiten der Schüler*innen eine mündige Verortung in den jeweiligen Traditionen. In der Besinnung auf die eigenen Traditionen wird deutlich, dass Veränderungsprozesse und Transformationen zu jeder lebendigen Tradition dazu gehören. Sich in eine Traditionslinie zu stellen, bedeutet, darin beweglich zu bleiben und Vorgegebenes auch verändern zu können.

In den Modulen „Von Abraham zu Habermas“ können Schüler*innen erkennen, dass keine religiöse Tradition per se dialogfreundlicher als eine andere ist. (Vgl. hierzu Module 6–10, RPI, 2017, S. 27–37). Gemeinsam machen sich Schüler*innen und die Lehrkräfte auf Spurensuche und entdecken, dass Dialog über die Grenzen religiöser und weltanschaulicher Positionen hinweg möglich ist. Es kommt immer auf die Haltung an, mit der Menschen zu ihrer Religion stehen und diese leben. Die Schüler*innen lernen zugleich, dass ihr Eintritt in einen „dialogischen Prozess“ mit der Berufung auf eine philosophische oder religiöse Tradition einhergehen kann bzw. dazu nicht im Widerspruch steht.

Es lassen sich in allen Traditionen Motive und Motivationen erkennen, die als dialogische Grundhaltungen zu definieren sind. Sie sind beispielhaft in den Abrahamgeschichten der monotheistischen Religionen und ihren jeweiligen Rezeptionen zu entdecken. Abraham und seine Familie machen sich auf, um neuen Lebensraum zu finden. Befähigt werden sie dazu durch ihren Glauben, der jedoch nichts mit Gehorsam gegenüber dem schon immer Überlieferten zu tun hat. Vielmehr hat Abrahams Neuanfang – laut jüdischer und muslimischer Überlieferung – seinen Ursprung schon in heimischen Auseinandersetzungen. So wird erzählt, dass er sich mit der Tradition seiner Väter kritisch auseinandersetzte und Konflikten nicht auswich. Bezugspunkte der Konflikte waren Götzen, die die Menschen damals anbeteten. In der islamischen Tradition ist überliefert, dass Abraham diese zerschlug und stattdessen versuchte, die Menschen durch vernünftige Argumente von der Existenz des einen Gottes zu überzeugen. Dies kann so interpretiert werden, dass Glaube und Vernunft keine Gegensätze sind. Ganz im Gegenteil: Wer glaubt, muss denken, um begreifen zu können. Im übertragenen Sinne können hier Ausschalten der Vernunft und „Vergötzung“ verbunden werden; dem tritt dann Abraham argumentativ entgegen.

Weil Abraham an Gott glaubte, konnte er sich aufmachen in ein ihm unbekanntes Land und dort neuen Lebensraum gestalten. Ganz wichtig auf diesem Weg sind auch wieder die Grenzen, die gezogen wurden und die bei allen Zerwürfnissen, von denen in den Erzählungen berichtet wird, auch das Überleben sichern. Und schließlich wurde deutlich: Über all diesen Geschehnissen ruhte der Segen Gottes und zwar für alle Menschen.

Für die religiös geprägten Schüler*innen kann die Abrahamgeschichte somit zu einem Beispiel werden, trotz Verwurzelung in der je eigenen Tradition, offen zu sein für Veränderung und dadurch mitverantwortlicher Teil einer Gemeinschaft zu sein, die neuen Lebensraum gestaltet.

Diese Motive, die eine dialogische Grundhaltung beschreiben, lassen sich, natürlich in einem vollkommen anderen Kontext und anderer sprachlicher Formulierung, auch im Spätwerk Jürgen Habermas‘ herausarbeiten. In seiner Idee und Begründung des „komplementären Lernprozesses“ (Habermas, 2013, S. 116–117) wird auf die notwendige Zusammenarbeit zwischen religiösen und nicht religiösen Bürgerinnen und Bürgern zur verantwortlichen Gestaltung der Gesellschaft hingewiesen.

Er spricht davon, dass innerhalb dieses Prozesses eine plurale Vernunft entstehen soll. Dies kann geschehen, wenn religiöse wie nicht religiöse Bürger*innen ein reflexives Bewusstsein hinsichtlich ihrer eigenen Tradition entwickeln.

Auch Habermas spricht von der Gefahr, die je eigene Sichtweise zu vergötzen und damit blind dafür zu werden, welche Wahrheitsgehalte in der jeweilig anderen liegen können. Bedeutsam sind für ihn auch die Grenzen, die bestehen bleiben müssen, denn an ihnen entwickle sich kommunikative Vernunft.

Mit dieser Idee des komplementären Lernprozesses verbindet Habermas die Hoffnung, dass der Defätismus der Moderne überwunden wird; eine Hoffnung, die sich in religiösen Bezügen mit dem universellen Segen Gottes für die gesamte Menschheit verbinden könnte.

Wenn sich die Schüler*innen mit diesen Aspekten der unterschiedlichen Traditionen beschäftigt haben, wird noch einmal verständlich, warum es nicht notwendig ist, über Unterschiede und Widersprüche bezüglich der Aussagen zu Gott zu streiten. Es sind Glaubenswahrheiten und insofern tragen sie Widersprüche in sich. Und wie zu sehen war, werden manchmal genau diese Grenzen zu Schöpfungszonen, an denen Neues entsteht.

Für Schüler*innen aus eher fundamentalistisch geprägten Gemeinschaften (religiöse und nicht religiöse) ist diese Erkenntnis von besonderer Bedeutung. Ihnen kann bewusst werden, dass sie ihren Traditionen durch den Dialog nicht „untreu“ werden, sondern dass der Dialog schon immer Teil derselben war.

Das Projekt wird am Ende des Schuljahres auch raumgreifend beendet (Modul 12, siehe Foto 5). Auf einer langen, mit einem Tuch bedeckten Tafel, die mitten auf dem Schulhof aufgestellt wird, teilen die teilnehmenden Schüler*innen das, was ihnen im Verlauf des Jahres wichtig geworden ist. In Bildern und Texten bemalen und beschriften sie das Tuch und viele Aspekte werden sichtbar. Die ganze Schule ist eingebunden und nimmt das Geschehen wahr. Es ergeben sich Gespräche über Gott und die Welt. Mit Neugier wird auf das gehört, was „die Anderen“ zu sagen haben. Allein durch den Anblick der so unterschiedlichen Schüler*innen wird deutlich, dass Verschiedenheit lebendige Gemeinschaft entstehen lassen kann

Literaturverzeichnis

Augst, K. (2000). Religion in der Lebenswelt junger Frauen aus sozialen Unterschichten. Stuttgart: Kohlhammer.

Bossong, G. (20163). Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur. München: C.H.Beck.

Forst, R. (2003). Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt: Suhrkamp.

Habermas, J. (20132). Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtstaates. In: J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (S. 106–118). Frankfurt: Suhrkamp.

Knauth, Th. (2017). Dialogisches Lernen als zentrale Figur interreligiöser Kooperation. In: K. Lindner, M. Schambeck, H. Simojoki & E. Naurath (Hrsg.), Zukunftsfähiger Religionsunterricht (S. 193–212). Freiburg: Herder.

Leimgruber, S. (2007). Interreligiöses Lernen. Neuausgabe. München: Kösel.

Meyer, K. (2019). Grundlagen interreligiösen Lernens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Nassehi, A. (2009). Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), „Woran glaubt die Welt?“ Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor“ (S. 113–132). Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Nieser, C. (2011). Hagars Töchter. Der Islam im Werk Assia Djebars. Theologie und Literatur, Bd. 25. Ostfildern: Matthias-Grünewald Verlag

RPI der EKKW und der EKHN (2017). Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken. Dokumentation eines dialogischen Unterrichtsprojekts aus der Theodor-Heuss-Berufsschule in Offenbach, Marburg: RPI der EKKW und der EKHN.

Schweitzer, F. (2018). Religionsunterricht und Ethikunterricht: Gegen-, Neben- oder Miteinander? In: B. Schröder & M. Emmelmann (Hrsg.), Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation. S. 301–316, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 

Simon-Winter, C & Rosskothen, B. (2018). Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken. In: B. Schröder & M. Emmelmann (Hrsg.), Religions- und Ethikunterricht zwischen Konkurrenz und Kooperation. S. 253–267, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

 

Carolin Simon-Winter: Schulpfarrerin und Mitbegründerin des Offenbacher Projekts, Ausbilderin am Studienseminar Darmstadt

Dr. Kristina Augst: Studienleiterin im Religionspädagogischen Institut der EKKW und der EKHN, mit dem Schwerpunkt Berufsschule