Geht die Mitte verloren? Wer die Debatten über Gesellschaftsstruktur und soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten beobachtet, kann an Schlüsselsemantiken Phasen der Nivellierung und Phasen der Polarisierung unterscheiden. Die Dramatisierung von Gegensätzen zeigt sich dann in vertikalen Terminologien, Klassenunterschiede werden bemüht, die Nivellierung in Mittelschichtdifferenzierungen und Milieumodellen. Die aktuelle Diskussionslage ist weniger von Begriffen wie ‚Chancengleichheit‘, ‚soziale Mobilität‘ oder anderen Kategorien relationaler Positionierungen geprägt, sondern durch die Antagonismen der Identitätsdiskurse, die sich im Begriff der „neuen sozialen Spaltung“ verdichten, den Heinz Bude (2016) aufgebracht hat, um den Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern der neoliberalen Steuerungsökonomien zu beschreiben. Zwischen solchen Diagnosen und der Renaissance agonaler Demokratiekonzepte (Mouffe, 2007) wächst die Sehnsucht, im Begriff der ‚Mitte‘ einen Anker zu finden, der vor den unkontrollierbaren Strömungen und Strudeln identitätspolitischer Grenzziehungen im Sozialen rettet.

Eine solche Diagnose ist nicht neu. Ende des II. Weltkrieges beschrieb der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr Entwicklungstendenzen in den Bildenden Künsten, die er als Symptome verhängnisvoller sozialer Prozesse seit 1789 deutete, unter ihnen den Hang zur Polarisation (Sedlmayr, 1948, S. 145). Sedlmayrs Zeitdiagnose wurde unter dem Titel „Verlust der Mitte“ zu einem Erklärungstopos der Weltkriegskatastrophen, der die Perspektive der katholischen Abendländler (Albrecht, Behrmann, Bock, Homann & Tenbruck, 1999, S. 507) auf eine Formel brachte. Der Topos löste eine breite Diskussion aus, in der es um nicht weniger ging als die Frage, ob die moderne Kunst von Goya bis zum Bauhaus als Krisen- oder Entwicklungssymptom zu lesen sei. Nur eine Stellungnahme sei hier zitiert, die heftige Gegenwehr des Expressionisten Gottfried Benn. In seiner Marburger Vorlesung von 1951 über „Probleme der Lyrik“ (Benn, 2001) wendete Benn den Vorwurf gegen „die Mitte“, die anrücke, ihn, den modernen Lyriker, der von der Allgemeinheit nichts beziehe, sondern von seinem bürgerlichen Beruf lebe, zu pathologisieren. Dagegen verteidigte Benn die Moderne, denn das ‚gesund‘ und ‚krank‘, mit dem die Mitte ihre eigene Position markiert,

„kommen mir vor wie Begriffe aus der Zoologie, von Veterinären geprägt. Bewusstseinszustände kommen in ihnen doch gar nicht zur Sprache. Die verschiedenen Arten der Ermüdung, die unmotivierten Stimmungswechsel, die Tagesschwankungen, die optische Sucht nach Grün plötzlich, die Berauschung durch Melodien, Nichtschlafenkönnen, Abstoßungen, Übelkeiten, die hohen Gefühle wie die Zerstörungen – alle diese Krisen des Bewusstseins, diese Stigmatisierungen des späten Quartärs, diese ganze leidende Innerlichkeit wird nicht von ihnen erfaßt“ (Benn, 2001, S. 31). Diese ‚Mitte‘ vertrage in der Wissenschaft alles – Kybernetik, triploide Kaninchen –, in der Kunst aber nichts. Der Gegenwartslage sei mit der Pfingstinbrunst von Paul Gerhard und dem heiligen Gold der Madonnenbilder nicht mehr beizukommen. Wir, die modernen Künstler, so fährt Benn seinen Generalangriff gegen Sedlmayrs ‚Mitte‘ fort, seien dagegen die letzten Menschen, die noch an das Absolute glauben und in ihm leben, die letzte legitime Ausdrucksform des Transzendenten (Benn, 2001, S. 33). Und so fasst er seinen Protest gegen den ‚Verlust der Mitte‘ auch lyrisch in einem seiner großen Gedichte zusammen:

Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,

Opfer des Ion –: Gamma-Strahlen-Lamm –

Teilchen und Feld –: Unendlichkeitschimären

auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.

Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen,

kein Evoë, kein Requiem,

du möchtest dir ein Stichwort borgen,

allein bei wem?

 

Ach, als sich alle einer Mitte neigten

und auch die Denker nur den Gott gedacht,

sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,

wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,

 

und alle rannen aus der einen Wunde,

brachen das Brot, das jeglicher genoß –

o ferne, zwingende erfüllte Stunde,

die einst auch das verlorne Ich umschloß.

(Benn, 2002, S. 205–206)

Man könnte die ‚sich auflösende Mitte‘ als Diskurs kulturwissenschaftlich untersuchen. Eine kultursoziologische Perspektive fragt daneben aber immer, welche Zeiterfahrungen sich hinter solchen Fragen verbergen, um die Beziehung zwischen ‚realen‘ sozialen Entwicklungen und ihrer Reflexion in spezifischen Semantiken aufzuzeigen. Gleichzeitig jedoch spiegeln sich auch kulturelle Selbstverständnisse in den Terminologien wieder, die nicht selten national grundiert sind.

Ein erster Befund sagt, dass die Sehnsucht nach der Mitte in Deutschland ausgeprägter ist als in anderen Ländern – was kein Argument gegen die Legitimität der Problematisierung von Randlagen und Polarisierung sein soll. Die stete Sorge, ob ‚die Mittelschicht‘ abschmelze oder nicht, bildet einen festen Topos der deutschen Sozialstrukturdebatte (DIW, 2008; 2010). In der deutschen Soziologie (vgl. etwa Burzan & Berger, 2010) werden Schichtenmodelle bevorzugt, die sich metaphorisch am Ideal der Zwiebel orientieren: ist die Mitte dick, geht es der Gesellschaft gut. Die Briten dagegen arbeiten gerne mit Klassenmodellen (vgl. Savage, Devine, Cunningham, Taylor, Li, Hjellbrekke, Le Roux, Friedman, & Miles, 2013), bei denen es wichtiger ist, ob es zwischen den Klassen soziale Mobilität gibt und sich die Oberklasse nicht allzu unverschämt an der Unterklasse bereichert. In Frankreich orientiert man sich normativ eher an der Frage, ob die Eliten glaubwürdig sind, damit der Staat aufrechterhalten werden kann und die Nation gedeiht.

Das sind interessante Unterschiede, die deutlich machen, welche kulturellen Ideale vom idealen Gesellschaftsaufbau die wissenschaftliche Konstruktion von Strukturmodellen prägen. Das ist durchaus mit Deutungskämpfen verbunden: In der frühen Bundesrepublik versuchte Ralf Dahrendorf (1957), den Klassenbegriff als Grundkategorie der Sozialstrukturanalyse auch in Deutschland zu etablieren, scheiterte aber an der Popularität von Helmut Schelskys Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky, 1953, S. 218).

Kulturelle Muster prägen also unsere idealen Vorstellungen vom Aufbau der ‚Gesellschaft‘ zutiefst – und damit auch die Frage, ob wir uns an Polarisationen beunruhigen oder sie als Potentiale der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung begrüßen (Albrecht, 2013). Die aktuelle Debatte über neue soziale Spaltungen entstand auch nicht aus empirischen Befunden der sich nach Geschlecht, Milieu, Altersstruktur ständig ausdifferenzierenden Sozialstrukturanalyse (vgl. etwa Steuerwald, 2016), sondern aus der Frage, wie die Wähler populistischer Parteien zu erklären seien. Diese Geschichte möchte ich im Folgenden erzählen:

2010 stieg die renommierte amerikanische Soziologin Arlie Russel Hochschild in ihr Auto und fuhr von Kalifornien, wo sie lehrte, in den Südwesten der USA, nach Louisiana. Hochschild ist Emotionssoziologin, sie hatte zu diesem Zeitpunkt eine viel beachtete Studie über die Kommerzialisierung der Gefühle geschrieben (Hochschild, 1990). Das Phänomen, das sie nun faszinierte, war die Emotionalisierung der Politik, die sie – Obama war Präsident, Trump noch der Dieter Bohlen der reality-shows – als eine wichtige Begleiterscheinung der zunehmenden politischen Spaltung in den USA beobachtete. Hochschild identifizierte dabei eine Gruppe, die für sie von besonderem Interesse war, weil sie einfach nicht verstand, was die Leute antrieb: Es waren die Anhänger der Tea-Party-Bewegung innerhalb der republikanischen Partei, Sarah Palin war das Aushängeschild. Als Mitglied der liberalen und akademisch gebildeten Westküstenelite sah sie sich in dieser Konfrontation mit ihren Sympathien selbst positioniert, und zwar auf Seiten der Demokraten. Aber sie wollte die Leute verstehen lernen, die mit großem emotionalem Engagement gegen die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung demonstrierten, obwohl sie sich selbst kaum einen Arzt leisten konnten.„Ich war definitiv nicht in Berkeley, California“ (Hochschild, 2016, S. 18), stellte sie fest, als sie die Zielgebiete ihrer Feldforschung im ländlichen Louisiana erkundete. Dort begegnete ihr eine andere Sprache mit Redewendungen, die sie noch nie gehört hatte (‚… up to my ass in alligators‘), wohingegen klare Antworten mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ als ‚Yankee speech‘ galten. Die Gegend erschien ihr gepflastert mit Kirchen, die Buchhandlungen hatten drei Regalwände mit Bibeln aller Farben und Größen, während fremdsprachige Literatur fehlte. Es gab keine New York Times an den Zeitungsständen, keine Bio-Lebensmittel in den Supermärkten, keine ausländischen Filme in den Kinos und keine Kleinwagen auf der Straße, geschweige denn die Avantgarde der Elektromobilität, den Toyota Prius, sondern Pick-up-Monster von Ford dominierten das Straßenbild. In den Kleidergeschäften hingen XXL-Konfektionsgrößen, Anwälte warben auf großen Tafeln für ihre Expertise bei Körperverletzungsdelikten. Wenig Fußgänger, keine Labradore, sondern Pitbulls und Bulldoggen. An Recycling-Mülltonnen oder Solar-Panels auf den Häusern war nicht zu denken und in den Restaurants wurde vor dem Essen nicht nach veganen Speisen gefragt, sondern ein Gebet gesprochen. Sie resümiert: „Als ich fernab von den Requisiten meiner Welt von den Ihren umgeben war, wurde mir klar, dass die Tea Party weniger eine offizielle politische Gruppierung ist als vielmehr eine Kultur, eine Sichtweise und Einstellung zu Land und Leuten.“ (ebd., S. 19)

Hochschild machte nun ihren Job, und das hieß: lernte Leute kennen, ließ sich weiterempfehlen, baute Vertrauen auf, schloss Freundschaften, begleitete die Menschen in ihrem Alltag, besuchte ihre Feste und führte dabei viele Interviews. Ich kann die Fülle ihrer Ergebnisse hier nicht zusammenfassen, möchte aber nur auf einen Befund verweisen, den sie selbst erstaunt notierte: Bislang hatte sie als dezidierte Gegner staatlicher Wohlfahrtspolitik nur hartherzige rechte Radio-Reporter identifiziert, jetzt verschob sich dieses Bild: „Viele Tea-Party-Anhänger, die ich kennenlernte, wirkten auf mich warmherzig, intelligent und großzügig – ganz und gar nicht wie Menschen aus den beängstigten Schriften Ayn Rands. Sie waren Teil einer Gemeinschaft, gehörten einer Kirche an und waren wohlwollend gegenüber anderen, die sie kannten“ (Hochschild, 2017, S. 85). Politisch vertraten sie aber die Ansicht: Hilfe gegenüber unschuldig in Not Geratenen gerne, aber persönlich, von Mensch zu Mensch, etwa über die Kirchengemeinde, anstatt systemisch über die anonyme Macht staatlicher Bürokratien. Denn diese Bürokratien würden von den politischen Gegnern nur als Machtmittel für eigene Zwecke missbraucht. Je unabhängiger man dagegen vom Staat war, desto höher war das soziale Ansehen (ebd., S. 161).

Hochschilds Studie ist repräsentativ für einen neuen Typ sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die sich alle mehr oder weniger dezidiert mit den Fragen beschäftigen, die man in der Politikwissenschaft mit dem Begriff „Populismus“ verbindet: Wer sind die Wähler populistischer Parteien? Das ist die Grundlagenliteratur für das, was ich ‚neue soziale Spaltung‘ nenne – ‚Spaltung‘ (und nicht: ‚Differenzierung‘ etc.) deshalb, weil diese Analysen immer auf die Beschreibung von binären Gruppensystemen hinauslaufen. Sie unterscheiden sich von den alten Ungleichheitsdebatten dadurch, dass die sozialen Differenzen zusätzlich durch kulturelle Unvereinbarkeiten verstärkt werden, die nicht relational (durch mehr Geld als klassisches Mittel der Sozialpolitik, durch ‚Aufstieg‘, ‚Chancengerechtigkeit‘ etc.) ausgeglichen werden können. Es geht um etwas, das als Entweder – Oder absolut, nicht relational zwischen den Gruppen steht, es geht um ‚Identitätspolitik‘.

Solche und ähnliche Befunde lassen sich in allen Ländern des Westens beobachten. Der Brite Paul Mason etwa beschreibt, wie sich in seinem Herkunftsmilieu, der alten stolzen englischen Arbeiterklasse, unter dem Druck von Globalisierung und neoliberaler Revolution der Ökonomie – jeder ist Unternehmer – zugleich auch der politische Grundkonsens aufgelöst hat, der die soziale Ordnung seit dem II. Weltkrieg trug. „Für die Neoliberalen ging es in diesem Kampf darum, Millionen Menschen eine neue Erzählung aufzuzwingen. Eine ganze Generation von Arbeitern wurde gezwungen, sich so zu verhalten, als hätte die Logik des Marktes Vorrang vor der Logik des Ortes oder Klassenidentität – selbst wenn sie das nicht glaubte“ (Mason, 2017, S. 152). Dadurch seien zwar neue Aufstiegsmöglichkeiten für die aggressiven Typen in der Arbeiterklasse entstanden, aber der neue Stil, der sich in den Reality-Shows und Seifenopern kulturell niederschlug, unterminierte die alten Solidaritäten. „Über drei Jahrzehnte hinweg unterspülte und zersetzte dies den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Neoliberalismus. Und als der Neoliberalismus selbst zusammenbrach, wurde nicht länger der herkömmliche Konservatismus mit Sauerstoff versorgt, sondern der autoritäre rechtsextreme Populismus“ (ebd., S. 158). Der Brexit, so möchte ich ergänzen, kann auch als Versuch der traditionellen Oberschichten-Konservativen (Jakob Rees-Moog, Boris Johnson) interpretiert werden, diese Lage wieder einzufangen – und zwar als erfolgreicher Versuch, weil die entscheidenden Wählerpotentiale, die den Konservativen zum Sieg verholfen haben, aus den alten Labour-Wahlkreise kulturell marginalisierter und ökonomisch individualisierter Arbeiterschichten stammen.

Um solche neuen Gegensätze benennbar zu machen, schlug der britische Journalist David Goodhart ein prägnantes Wortpaar vor, mit dem er die Lager in der Brexit-Debatte zu erklären suchte: „The old distinctions of class and economic interest have not disappeared but are increasingly over-laid by a larger and looser one – between the people who see the world from Anywhere und the people who see it from Somewhere“ (Goodhart, 2017, S. 3).

Anywheres zeichneten sich durch eine höhere Schulbildung aus, sie sind die Klasse, deren wichtigste rites de passages in den Examina besteht. Ihre universitäre Ausbildung führt sie von den Heimatregionen fort, zunächst auf die Universitäten und schließlich nach London oder in die Citys der Welt. Sie haben erworbene Identitäten und sind dadurch fähig, sich an anderen Orten und mit anderen Menschen einzurichten.

Somewheres dagegen sind lokal gebunden: „Scottish farmer, working class Geordie, Cornish housewife“ (ebd., S. 3). Sie haben zugeschriebene Identitäten, die an bestimmte Herkunftsgruppen und Regionen gebunden sind. Eine Kerngruppe besteht aus den sogenannten ‚left behinds‘, älteren weißen Arbeitern, die durch die Globalisierung doppelt verloren hätten: ökonomisch durch den Verlust eines relativ gut bezahlten Jobs mit geringem Qualifikationsniveau, kulturell, indem ihre Themen – Ungleichheit, Arbeiterkultur, der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit – in der öffentlichen Debatte gegenüber den typischen Anywhere-Themen, Minderheitenschutz und Umwelt, marginalisiert worden seien.

Für Deutschland hat Wolfgang Merkel anhand derselben Unterscheidung eine andere Terminologie vorgeschlagen: Die Globalisierung habe in allen Ländern des Westens die Eliten kosmopolitisch ausgerichtet, während diejenigen, die ihre Identitäten, Lebensentwürfe und Absicherungen im lokalen, also auch nationalstaatlichen Kontexten suchen, unter dem ökonomischen Druck relativ niedriger Lohneinkommen stünden. Entscheidend sei jedoch, dass ihre Interessenlage in dem dominierenden politischen Diskurs kaum mehr eine Stimme fände: „Der kosmopolitische Diskurs der Herrschenden ist zum herrschenden Diskurs in den entwickelten Gesellschaften dies- und jenseits des Atlantiks geworden. Kritik an ihm wird in der öffentlichen Sphäre häufig moralisch delegitimiert“ (Merkel, 2017, S. 306). Die Moralisierung des Politischen sieht Merkel als Hauptgrund für die Spaltung zwischen zwei Lagern, die er mit den Begriffen „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“ benennt.

Für die französische Diskussion lieferte ein soziologischer Bestseller Anschauungsmaterial: Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“. Eribon beschreibt, wie er durch den Tod seines Vaters nach Jahrzehnten der Distanz wieder Kontakt zu seiner Familie fand und dadurch entdeckte, wie sehr sich das nordfranzösische Arbeitermilieu verändert hatte. Waren die Mitglieder seiner Familie früher überzeugte und gefestigte Anhänger der französischen KP, so wählten sie nun den Front National. „Theoretisch kann man sich leicht vornehmen, mit Front-National-Wählern kein Wort mehr zu wechseln und ihnen nie wieder die Hand zu schütteln. Aber was ist, wenn die eigene Familie so wählt? Was soll man denken? Was man sagen oder tun?“ (Eribon, 2016, S. 107–108).

Um dieses Phänomen zu erklären, verfolgt Eribon rückwirkend, wie zum einen die Arbeitsplätze für Unqualifizierte in die Länder mit geringerem Lohnniveau abwanderten, zum anderen mit den Einwanderern aus dem Maghreb und Schwarzafrika eine Konkurrenz um die verbliebenen Arbeitsplätze in den einfachen Dienstleistungsberufen entstand. Diese neue Konkurrenz wurde zugleich als das kulturell Fremde wahrgenommen. „Mit der Wahl der Kommunisten versicherte man sich stolz seiner Klassenidentität, man stellte diese Klassenidentität durch die politische Unterstützungsgeste für die ,Arbeiterpartei’ gewissermaßen erst richtig her. Mit der Wahl des Front National verteidigte man hingegen still und heimlich, was von dieser Identität noch geblieben war, welche die Machtpolitiker der institutionellen Linken, die Absolventen der ENA oder anderer technokratischer Eliteschulen, in denen eine dominante, mittlerweile transpolitisch funktionierende Ideologie fabriziert und gelehrt wurde, ignorierten oder sogar verachteten“ (ebd., S. 123). Eribons Analyse fasziniert, weil sie den eigenen biographischen Weg – den Fortgang aus dem Arbeitermilieu, die erfolgreiche Etablierung in der internationalistischen Pariser Lifestyle-Linken – als Teil des Prozesses identifiziert, der zur gesellschaftlichen Polarisierung beigetragen hat.

In Frankreich wurden diese vergleichsweise akademischen Debatten politisch virulent, als es darum ging, eine Protestbewegung zu analysieren, die in ihrer Wucht in Deutschland über die aktuellen Ereignisse hinaus kaum wahrgenommen, sozialstrukturell beschrieben und erklärt wurde: die Gelbwesten-Bewegung von 2019. Wie aus einem Protest gegen die ökologisch und fiskalpolitisch motivierte Erhöhung des Benzinpreises eine nationale Krise werden konnte, in der das staatliche Gewaltmonopol in Frage stand, versuchte der Geograph Christophe Guilluy durch die Siedlungsstruktur Frankreichs zu erklären. Die fünf französischen Städte, auf die sich der Produktivitätszuwachs der Globalisierung konzentriert, hätten sich durch die Entwicklung der Wohnpreise zu kapitalistisch verteidigten Zitadellen entwickelt, in denen ein neuer Typ die Herrschaft übernommen habe: eine Bourgeoisie ohne Hass und Gewalt, die „Bobos“. Sie wurden kulturell dominant, indem sie Universitäten, Literatur und Medien besetzten (Guilluy, 2019).

Diese Aneignung allgemeiner Institutionen durch eine partikulare Gruppe, so Guilluy weiter, werde zugleich von einer Rhetorik der Offenheit begleitet. Während sich die Bobos global unter ihresgleichen vernetzen, distanzieren sie sich von der zurückgebliebenen Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum moralisch und segregieren sich räumlich. Diese Gruppen aber zogen sich in den abgehängten Regionen der niedergehenden Schwerindustrie oder in die Kleinstädte des ländlichen Frankreichs zurück, was einen weiten Weg zu den besserbezahlten Arbeitsplätzen in den Zentren zur Folge hat; denn die französischen Städte seien nicht wie in den USA von bürgerlichen Suburbs umgeben, sondern vom Ring der Banlieu, der den Städten als Reservoir billiger migrantischer Dienstleistungskräfte dient, aus denen nur im Kino die ziemlich besten Freunde kommen. Das periphere Frankreich bildet die neue classe populaire, die im Kampf um die ökologisch motivierte Erhöhung der Benzinpreise gegen städtische Zentren der Bobos aufgestanden ist – so Guilluys Erklärung für den Gelbwestenaufstand (vgl. Guilluy, 2014).

‚Bobos‘ – diese Benennung für ein neues Amalgam aus Bourgeoisie und Bohème stammt vom amerikanischen Journalisten David Brooks. Als er nach längerem Auslandsaufenthalt Mitte der 90er Jahre in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, meinte er beobachten zu können, dass die subkulturellen Milieus, die man früher in ‚Alternative‘ und ‚Yuppies‘ unterscheiden konnte, verschmolzen waren. „It was now impossible to tell an espresso-sipping artist from a cappuccino-gulping banker. And this wasn’t just a matter of fashion accessories. I found that if you investigated people’s attitudes toward sex, morality, leisure time, and work, it was getting harder to separate the antiestablishment renegade from the pro-establishment company man“ (Brooks, 2000, S. 14–15).

Nachdem die Hoffnungen der Hippies auf die Revolutionierung der Gesellschaft durch Landkommune und universelle Liebe im ‚Age of Aquarius‘ zerronnen waren, so Brooks, beschnitten sie ihre Haare und Bärte und kehrten in die angesagten Viertel der Städte zurück, um als Vorhut der Gentrifizierung in sozialen oder künstlerischen Projekten mit dem Geldverdienen zu beginnen. Ihre Antipoden waren in der Regel ein paar Jahre jünger, und da es in Richtung Weltverbesserung neben den Hippies keinen Platz mehr gab, hatten sie sich auf die Selbstverbesserung konzentriert und als ‚young urban professionals‘ (Yuppies) ihre Outfits, Lifestyles und Karrieren optimiert. Beide Gruppen verschmolzen, als in die amerikanischen Städte eine neue Welle europäischen Lebensstils hineinschwappte, die italienische Esskultur. Die ökonomische Grundlage dafür bildeten die zahlreichen Jobs, die in der Informationsgesellschaft die Verschmelzung von kreativen und technologischen Kompetenzen forderten und sich in den digitalen Start-ups konzentrierten. Hier, so Brooks, sei eine Unterscheidung an ein Ende gekommen, die seit dem 19. Jahrhundert konstitutiv für die kulturelle Dynamik war, die Unterscheidung zwischen ökonomisch erfolgreicher Bourgeoisie und kulturell innovativer Bohème.

Damit war ein Begriff entstanden, dessen soziologisches Erklärungspotential noch wenig erschlossen ist. Wenn Ideen und Kapital in immer schnelleren Innovationszyklen verschmelzen, können sie sich auch nicht mehr in sozial distinkten Schichten niederschlagen. Diese Trennung übernimmt dann das Lebensalter, indem jugendkulturelle Devianzen beim Älterwerden nicht abgelegt, sondern institutionalisiert werden: Computerspiele und Social Media als Geschäftsmodell – oder, wenn legalisiert, Marihuana-Plätzchen.

Auf der Grundlage solcher Überlegungen bin ich nun selbst in die Forschung eingestiegen, habe aber die Blickrichtung umgekehrt. Ich bin nicht wie Hochschild ins Auto gestiegen, um in der Lausitz oder in Pforzheim zu untersuchen, welche Menschen die AfD wählen, sondern ich habe aus didaktischen Gründen zum Mittel der Selbstentfremdung gegriffen, und Studierende im Rahmen eines Seminars ihr eigenes Milieu autoethnographisch erforschen lassen: wie funktionieren Bobos?

Wir haben dabei die Technik aufgegriffen, die Arlie Hochschild ‚Schlüsselloch-Probleme‘ (keyhole-issues) nennt. Sie ging davon aus, dass sie einen verstehenden Zugang zu den Tea-Party-Anhängern in Louisiana gewinnen könne, wenn sie die zentrale Paradoxie verstehen lerne, die aus ihrer Sicht die politische Position dieser Leute präge: Warum sind Menschen, die so stark wie wenige andere Bewohner der USA unter den Folgen der Umweltverschmutzung durch die petrochemische Industrie leiden, gegen staatliche Umweltauflagen? (Hochschild, 2017, S. 42).

Wir identifizierten vier typische Bobo-Paradoxien (vgl. zum Folgenden Albrecht, Bechheim, Bell, Hemmerich, Hörter, Jakobs, Lehmann, Rick & Sieverding, 2020):

Die ‚Globalisierungsparadoxie‘ geht davon aus, dass Bobos zwar Profiteure der Globalisierung seien, zugleich aber in ihren Ideologien die Globalisierung ablehnten, indem sie sie für Not, Hunger und Ausbeutung ‚im globalen Süden‘ verantwortlich machen.Die ‚Nachhaltigkeitsparadoxie‘ beschreibt, dass Bobos einerseits Wert legen auf nachhaltig angebaute und fair gehandelte Produkte und versuchen, lokale Händler zu unterstützen; andererseits bestellen sie Warenbei Großkonzernen wie Zalando und Amazon, essen Brötchen aus der Supermarktbacktheke und kaufen günstige Klamotten bei Primark und H&M.

Die ‚Segregationsparadoxie‘ beinhaltet die These, dass Bobos einerseits migrationsfreundliche Parteien wählen, migrationsfreundliche Veranstaltungen besuchen, kulturelle Vielfalt begrüßen und Universitätstoiletten mit ‚refugees welcome‘-Stickern bekleben, andererseits jedoch sich lebensweltlich in einem bildungsintensiven, vornehmlich deutschstämmigen, relativ homogenen Milieu bewegen und spätestens nach Familiengründung zur Segregation in ökonomisch, kulturell und demographisch homogene Stadtteile tendieren.

Bei der ‚Identitätsparadoxie‘ proklamieren Bobos einerseits den Konstruktionscharakter der eigenen, speziell der ‚nationalen‘ Identität und folgern daraus den ethischen Imperativ zum sukzessiven Abbau durch ständige Selbstreflexion und Öffnung zur (ebenfalls konstruierten) Fremdheit. Gleichzeitig gilt die kulturelle und religiöse Identität einwandernder und/oder außerhalb Europas lebender Gruppen als schützenswertes Gut und plurale Bereicherung mit dem Anspruch auf das institutionalisierte Recht zur freien Religionsausübung und damit zur Produktion und Reproduktion der Identität als essentielle Differenz.

An jedes dieser Schlüsselloch-Probleme stellten wir dieselben empirischen Fragen: Ist diese Paradoxie tatsächlich beobachtbar? Wird sie als Widerspruch empfunden? Wenn ja: Wie wird sie aufgelöst, ideell oder praktisch? Wir haben uns in der Analyse auf vier Felder konzentriert, die in Arbeitsgruppen behandelt und erhoben wurden:Erstens interessierte uns die materielle Kultur der Bobos. Mit welchen Gegenständen statten sie ihre Behausungen aus, über welche Dinge verfügen sie im Alltag? Nach welchen Gesichtspunkten wählen sie diese Dinge aus? Pflegen sie zu ihnen eine besondere, bedeutungsbeladene Perspektive oder ein Ebay-Verhältnis: schnell gekauft, schnell wieder verramscht?

Zweitens wollten wir die zentralen Sinn- und Bedeutungsmuster der Bobos erheben, distanzierend abgekürzt: ihre Ideologie. Welchen Ideen und Werten folgen sie in ihren Grundüberzeugungen und wie versuchen sie, diese zu leben?

Drittens interessierten uns die sozialen Praktiken: Alltagsorganisation, Ernährungs- und Bewegungsmuster.

Viertens schließlich wollten wir auch einen Blick auf die soziale Organisation (Beziehungsformen) der Bobos richten. Mit wem leben sie zusammen? Wie sind die Familienbeziehungen und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Freundschaftsbindungen? Oder leben sie die Unverbindlichkeit der punktuellen Bindungen an gemeinsame Interessen und Projektgruppen? Die Ergebnisse der autoethnographischen Beobachtungen und Interviews haben sich im Laufe des Semesters in 25 Feldprotokollen, acht Interviews, vielen Seminararbeiten und einem autobiographischen Coming-out niedergeschlagen, in dem ein Seminarteilnehmer gestand, aus einem bildungsfernen Milieu zu stammen und deshalb eine Distanz zur Bobo-Welt bereits mitgebracht zu haben. Er bestand auf Anonymität und öffnete sich mir erst im persönlichen Gespräch nach den komplexen Interaktionsritualen der Vertrauenssicherung. Er gehörte von seiner sozialen Herkunft her zur anderen Seite der neuen sozialen Spaltung.

Fassen wir solche Forschungsarbeiten zur neuen sozialen Spaltung noch einmal kurz zusammen:

Ob man sie als Arbeitermilieu, Kommunitaristen, Somewheres oder Tea-Party-Anhänger beschreibt – zuerst fällt auf, dass alle diese Gruppen Profiteure der nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialordnungen waren, indem sie über (im internationalen Vergleich) relativ hohe Löhne am Wohlstandszuwachs ihrer Staaten beteiligt wurden. Ihre Lebensrisiken waren gleichzeitig aufgefangen, wenn auch durch unterschiedliche Systeme: in den USA eher durch Mobilitätschancen in die Regionen, in denen es gerade Arbeit gibt, unter gesteuerter Konkurrenz durch neue Einwanderer, in Europa durch die Wohlfahrtsstaaten. Im Kontext globaler Ungleichheiten entstand so ein Staatsbürgerschaftsprivileg: Die Zugehörigkeit zu nationalen Solidargemeinschaften, die bis in die 70er Jahre bereit waren, einen zunehmenden Anteil des individuell erwirtschafteten Wohlstandes staatsgesteuert umverteilen zu lassen. Dieses System geriet durch die zunehmende Kapitalfreiheit im Globalisierungsprozess unter Druck, die personalintensiven Industrien wanderten in Länder mit billigerem Lohnniveau, und mit der Wissensgesellschaft begann für jeden Einzelnen das Diktat, die eigenen Bildungsressourcen auszuschöpfen, sofern man am Wohlstand teilhaben möchte (vgl. Streeck, 2017).

Die Bobos sind die Gewinner dieser neuen Lage. Sie stellen sich durch individuelle Bildungsbereitschaft und globale Mobilität darauf ein. Auf nationaler Ebene aber entsolidarisieren sich finanziell etablierte Bobos und entziehen ihr Vermögen, wo möglich, dem einzelstaatlichen Zugriff, um es dann in der Form von Stiftungen und Spenden dort zu investieren, wo sie die Ziele der verteilenden Organisation unterstützen und symbolisches Kapital akkumulieren können. Der national organisierte Einzelstaat ist ihnen aber nur noch eine Organisation unter vielen. Bobos halten den Nationalstaat für ein Residuum des 19. Jahrhunderts, das durch multilaterale Organisationen der neuen globalen Welt überwunden werden muss (vgl. Krastev, 2017).

Damit erodiert die Form der institutionsgebundenen Solidarität, die sich über Bereitschaft ausdrückt, Steuern zu zahlen und damit territorial eingrenzbare Inseln des solidarischen Wohlstandsausgleichs zu schaffen. Reduktion der Steuern bei gleichzeitiger Erhöhung der Abgaben – auch dies war typische Bobo-Politik. Wenn Christophe Guilluy die Bobos für das Produkt einer Amerikanisierung der europäischen Gesellschaften hält, dann hat diese Aussage mit der Tendenz zu einem mäzenadischen Wohlfahrtssystem zu tun – genauso, wie David Brooks von der Europäisierung der amerikanischen Eliten sprechen könnte, wenn er Ernährungsgewohnheiten, Einstellungen und Habitus der amerikanischen Bobos fokussiert.

Diejenigen aber bleiben zurück, die lebensweltlich an einen Ort gebunden und vom Arbeitseinkommen in dieser Region abhängig sind. Sie residieren. Sie sind zugleich die Residuen nationalstaatlicher Wirtschaftsordnungen, indem sie ihr relational sinkendes Arbeitseinkommen in Berufen, die dem institutionalisierten Dauerstrukturwandel zum Opfer zu fallen drohen, mit der Hoffnung verbinden, im Notfall durch die wohlfahrtsstaatliche Solidargemeinschaft aufgefangen zu werden, ohne allzu sehr an Lebensstandard zu verlieren. Sie sehen sich nicht nur unter dem Druck des rapiden sozialen, technologischen und ökonomischen Wandels einer Welt, die sich schneller verändert, als es Biographien in der zweiten Lebenshälfte verarbeiten können, sondern sie stehen gleichzeitig unter dem Arroganzdruck der meritokratischen Eliten, die zuerst fordern, bevor sie fördern (Young, 1961).

Resümiert man diesen Debattenstand, dann lässt sich die neue soziale Spaltung pointiert als Differenz zwischen Globalisierungsgewinnern mit universalistischer Orientierung und Globalisierungsverlierern mit partikularistischer Orientierung beschreiben. Jetzt zeigt sich, aufgrund welcher ökonomischer, sozialer und kultureller Prozesse in allen westlichen Gesellschaften gegenwärtig der Eindruck entsteht, dass ‚die Mitte‘ verloren gehe und sich in zunehmender Polarisierung zwei Lager gegenüberstehen, die nicht mehr durch soziale Relationen aufeinander beziehbar sind, sondern sich durch kulturelle Identitäten voneinander abgrenzen.

In dieser Lage kann nicht mehr ‚die Mitte‘ das Verbindende zwischen den Extremen bilden. Da beide Positionen gleichermaßen von Paradoxien durchzogen sind, die zugleich den blinden Fleck im eigenen Auge bilden, lässt sich die Konfrontation auch nicht durch die überlegene Rationalität einer Seite auflösen, mit der eine legitime kulturelle Hegemonie begründbar wäre. Gleichzeitig kann man beobachten, dass sich der Konfessionalität generierende Gegensatz ins Gesellschaftspolitische verlagert hat und die Wahrheitsfragen dort ausgetragen werden, nicht mehr im religiösen Diskurs (Albrecht, 2018). Darum verlagern sich auch die Bekenntnisfragen ins Gesellschaftspolitische. Die politische Theologie reagiert auf diese Lage, aber ihre Positionierungen können die Polarisierung nicht auflösen, nur verstärken. Sie ist ein Teil des Problems, nicht seine Lösung.

Ich plädiere deshalb, auf etwas anderes zu setzen als ‚die Mitte‘: auf ein Drittes, das sich jenseits der Polaritäten formieren muss: die Institutionen. Dieses Dritte wird im Bereich des Politischen durch Verfahren, im Bereich der Wissenschaft durch Methode, im Bereich der Medien durch Berichterstattung, im Bereich der Religion durch den Ritus geschaffen. Auf allen Feldern kann man jedoch beobachten, dass die Institutionen durch die soziale Homogenität ihrer Repräsentationseliten die integrierende formelle Funktion verlieren und dazu neigen, Partei zu werden.

So auch die Großkirchen – sofern sie neben den Klimabewegten nicht auch die Automobilarbeiter vertreten, sofern sie nicht nur für globale Migrationsfreiheit eintreten, sondern auch berücksichtigen, dass der Sozialstaat unter diesen Bedingungen nicht zu halten ist – pointiert: indem sie Populisten zu ihren Gottesdiensten einladen und in den Predigten ansprechen.Wenn sich aber die Religionspädagogik heute fragt, wie eine Mitte wiedergewonnen werden, die Spaltung zwischen Fridaylern und Frömmlern vermittelt werden kann, dann nur dadurch, dass sie weder das eine noch das andere ist: sondern Pädagogik.

Literaturverzeichnis

Albrecht, C., Behrmann, G. C., Bock, M., Homann, H. & Tenbruck, F. H. (1999). Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/M. [u.a.]: Campus-Verl.

Albrecht, C. (2013). Reflexionsdefizit der Sozialstrukturanalyse? Helmut Schelsky und die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“. In A. Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, (S. 86–99). Göttingen: Wallstein.

Albrecht, C. (2018). Umziehende Götter. 1968 und die Transformation des revolutionären Enthusiasmus. Merkur, 72(832), S. 65­–70.

Albrecht, C., Bechheim, N., Bell, S., Hemmerich, J., Hörter, A., Jakobs, P., Lehmann, P., Rick, C. & Sieverding, S. (2020). Wir Bobos. Zur Autoethnographie eines Sozialtyps. Soziologie-Magazin, Soziologische Fragmente #1 (DOI 10.5281/zenodo.3695330).

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Prof. Dr. Clemens Albrecht, Professor für Kultursoziologie und Co-Direktor des Käthe-Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ an der Universität Bonn