1 Ausgangssituation und Forschungsfrage

Im Bundesland Baden-Württemberg ist der konfessionelle Religionsunterricht, der nach evangelischem oder katholischem Bekenntnis stattfindet, aktuell das meist praktizierte Modell für den Religionsunterricht. Die sichtbarer werdende religiöse Heterogenität in der Gesellschaft bedingt, dass auch zunehmend Kinder und Jugendliche ohne konfessionelle Prägung oder anderer konfessioneller oder religiöser Prägung diesen Unterricht besuchen (Boschki & Schweitzer, 2020, S. 22). Die dem Religionsunterricht gesetzlich zugewiesene Aufgabe, Dialogfähigkeit zu schulen und vor allem Werte für ein friedliches Miteinander zu vermitteln, kann nur erfüllt werden, wenn die Lehrkräfte kompetent auf die wachsende religiöse Heterogenität der Lerngruppen eingehen. Ausgehend von erziehungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die zeigen, wie stark sich biografisch erworbene Sinnstrukturen auf die Professionalität auswirken (Reh & Schelle, 2006) ergibt sich für die Arbeit folgende Fragestellung:

Welche Bedeutung hat die Biografie (das ausgebildete Selbst- und Weltverständnis)von Lehrkräften im evangelischen und katholischen Religionsunterricht

  • hinsichtlich des professionellen Selbstverständnisses und

  • hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung von religiöser Heterogenität im Religionsunterricht?

2 Einordnung der Arbeit in den Forschungsstand

Bisher liegen zahlreiche Erkenntnisse aus der Biografie- und Bildungsforschung zu (Religions-)Lehrkräften vor, die den engen Zusammenhang zwischen aufgeschichteten biografischen Erfahrungen und geplantem Bildungshandeln verdeutlichen (Feige, Dressler, Lukatis & Schöll, 2000; Feige, Dressler & Tzscheetzsch, 2006; Hörnlein, 2020). Ebenso liegen Untersuchungen zu Selbstverständnissen, Einstellungen und Haltungen von Religionslehrkräften im Hinblick auf religiöse Vielfalt vor (Biesinger, Münch & Schweitzer, 2008; Klutz, 2015; Pohl-Patalong, Woyke, Boll, Dittrich & Lüdtke, 2016). Die Dissertation erhält an der Schnittstelle dieser beiden empirischen Linien ihre Bedeutung. Sie zeigt auf, wie das biografisch entwickelte Verständnis zu sich selbst und zur Welt Einfluss auf die Konstruktionen zum Umgang mit religiöser Heterogenität im Religionsunterricht nimmt.

3 Theoretischer und methodologischer Rahmen

Der theoretische Bezugsrahmen für die Dissertation ist die strukturale Bildungstheorie (Marotzki, 1990). Bildungsprozesse werden hier als die Transformation des Selbst- und Weltverständnis einer Person verstanden – ein Prozess, der sich nicht auf einzelne Lebensphasen bezieht, sondern über die gesamte Lebensspanne betrachtet werden muss. In der Anlehnung an sozialwissenschaftliche Theorien zur Abbildung der sozialen Wirklichkeit in der Kommunikation (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1976) wird in der Arbeit der Annahme gefolgt, dass die erzählte Biografie als individuelle Lebensgeschichte der Ort ist, an dem sich die lebenslangen Bildungsprozesse der Lehrkräfte abbilden und die Selbst- und Weltbezüge einer Person rekonstruiert werden können.

Da sich die Arbeit also mit Konstruktionen der eigenen Biografie befasst und somit nach individuellen Deutungsmustern aus biografischen Erfahrungen heraus fragt, legt sich methodisch ein qualitativer, also explorativer Forschungszugang nahe. Es geht um ein entdeckendes, theoriebildendes Vorgehen, wie es in der gegenstandsbezogenen Theoriebildung (Grounded Theory) (Glaser & Strauss, 2008) umgesetzt wurde. Anhand des Theoretical Samplings (Glaser & Strauss, 2008, S. 53–55) wurden neun Lebensgeschichten von Lehrkräften nach der Methode des autobiografisch-narrativen Interviews (Fritz Schütze) erhoben (Schütze, 1983). Mit der Narrationsanalyse werden im Forschungsstil der Grounded Theory in verschiedenen Analyseschritten

  • die Selbst- und Weltverständnisse der Lehrkräfte rekonstruiert (erster Analyseschritt) und dann jeweils Grundstrukturen aufgezeigt, wie diese

  • mit dem professionellen Selbstverständnis der Lehrkräfte im Zusammenhang stehen (zweiter Analyseschritt) und

  • Einfluss nehmen auf die Konstruktion zum Umgang mit der religiösen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht (dritter Analyseschritt).

4 Ergebnislinien

Entlang dieses Vorgehens zeichnen sich bislang drei Ergebnislinien ab: Anhand der Analyse einzelner sehr heterogener und markanter Fälle können ganz verschiedene Selbst- und Weltverständnisse von Lehrkräften rekonstruiert werden. Ergebnis dieser Analyse ist vor allem die Kontrastierung der verschiedenen Logiken der eigenen Beruflichkeit der Lehrpersonen. Die Analyse der Einzelfälle verdeutlicht, wie stark die implizite Wirkung der Selbst- und Weltentwürfe für das berufliche Selbstverständnis ist und wie Kernkategorien der biografisch ausgebildeten Sinnstrukturen auch in der Konstruktion des eigenen professionellen Handelns zum Umgang mit religiöser Heterogenität der Schülerinnen und Schüler erkennbar werden. So wird zum Beispiel bei einer Lehrkraft, deren Selbst- und Weltverständnis sich als starke Fokussierung auf das Erleben von Gemeinschaft aufschlüsseln lässt, ein berufliches Selbstverständnis deutlich, das beinhaltet, eine gute Unterrichtsatmosphäre zu schaffen, um Schülerinnen und Schülern positive Gemeinschaftserfahrungen zu ermöglichen. Religiöse Heterogenität innerhalb der Klasse deutet die Person dann in erster Linie als Chance des Dialogs, bei dem die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Konfessionen und Religionen im Vordergrund stehen, dadurch ein starkes Wir-Gefühl der Lerngruppe entsteht und auf dieser Grundlage auch herausfordernde Themen bearbeitet werden können.

Eine zweite Ergebnislinie beinhaltet die Rekonstruktion von Dimensionen des beruflichen Selbstverständnisses der Lehrkräfte. Während bisher Einzelfallanalysen fokussiert wurden, steht hier die thematische Analyse im Querschnitt zum Thema berufliches Selbstverständnis im Vordergrund. Dieses wird in den Kategorien:

  • Funktionszuschreibung für den Religionsunterricht und

  • Funktionszuschreibung der eigenen Lehrkraft im Unterricht aufgeschlüsselt.

Die Funktionszuschreibung für den Religionsunterricht zeigt sich in verschiedenen kontrastiven Orientierungen: die Orientierung auf die Person der Schülerinnen und Schüler, das Vermitteln von Kenntnis im Unterricht; die Orientierung auf die Gruppe und ihre Dynamiken und die Fokussierung der Lehrkräfte auf Transzendenz und transzendenten Erfahrungen im Religionsunterricht. Die Analyse ergibt, dass die jeweiligen Orientierungen stark mit der Funktionszuschreibung der eigenen Lehrperson in Zusammenhang stehen und das berufliche Selbstverständnis wiederum Auswirkungen zeigt auf die Konstruktion zum professionellen Handeln.

Eine dritte Ergebnislinie bietet die Rekonstruktion der Bedeutungszuschreibung von religiöser Heterogenität der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht. Auch hier erfolgt die thematische Analyse im Querschnitt – nun allerdings zu einem Anwendungsgebiet der religionspädagogischen Praxis: zur Wahrnehmung und Deutung von religiöser Heterogenität im Religionsunterricht. Das Kapitel liefert zum einen Ergebnisse darüber, in welchen Dimensionen das Phänomen religiöse Heterogenität wahrgenommen und gedeutet wird. Zum anderen ergibt die Analyse drei verschiedene Typen der Bedeutungszuschreibung an religiöse Heterogenität im Religionsunterricht. Während der erste Typus religiöser Heterogenität eine hohe Bedeutung zuschreibt und diese durchweg positiv konnotiert, lässt sich ein zweiter Typus mit ebenfalls hoher Bedeutungszuschreibung aufschlüsseln, der jedoch zahlreiche Herausforderungen im Umgang mit religiöser Heterogenität markiert. Ein dritter Typus zeichnet sich durch eine unbestimmte Bedeutungszuschreibung aus, die wiederum mit biographisch entwickelten Sinnstrukturen im Zusammenhang steht. Die Ergebnisse ermöglichen ein vertieftes Verständnis über die implizite Wirkung der Biografie auf geplantes Bildungshandeln innerhalb des Religionsunterrichts und liefern damit einen Beitrag zur aktuellen Fachdiskussion innerhalb der Religionspädagogik zu religiöser Heterogenität im Religionsunterricht. 

5 Informationen zum Promotionsprojekt

In der aktuellen Promotionsphase werden die Ergebnisse der empirischen Studie gebündelt. Dann werden sie auf relevante theoretische Diskurse rückbezogen. Planmäßig wird die Arbeit im Frühjahr 2022 fertiggestellt. Die Promotion findet in der Kooperation zwischen der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg statt.

Literaturverzeichnis

Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.) (1976). Kommunikative Sozialforschung. Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung. München: Fink.

Biesinger, A., Münch, J. & Schweitzer, F. (2008). Glaubwürdig unterrichten. Biographie - Glaube - Unterricht. Freiburg im Breisgau: Herder.

Boschki, R. & Schweitzer, F. (2020). Religion unterrichten in Baden-Württemberg. In M. Rothgangel & B. Schröder (Hrsg.), Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Neue empirische Daten - Kontexte - Aktuelle Entwicklungen (S. 15–38). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Feige, A., Dressler, B., Lukatis, W. & Schöll, A. (2000). "Religion" bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Münster: Lit.

Feige, A., Dressler, B. & Tzscheetzsch, W. (2006). Religionslehrerin oder Religionslehrer werden. Zwölf Analysen berufsbiographischer Selbstwahrnehmungen. Ostfildern: Schwabenverlag.

Glaser, B. & Strauss A. (2008). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber.

Hörnlein, M. (2020). Professionalisierungsprozesse von Lehrerinnen und Lehrern. Biographische Arbeit als Schlüsselqualifikation. Wiesbaden: Springer VS.

Klutz, P. (2015). Religionsunterricht vor den Herausforderungen religiöser Pluralität. Eine qualitativ-empirische Studie in Wien. Münster: Waxmann.

Marotzki, W. (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Pohl-Patalong, U., Woyke, J., Boll, S., Dittrich, T. & Lüdtke A. (2016). Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt. Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein. Stuttgart: Kohlhammer.

Reh, S. & Schelle, C. (2006). Biografieforschung in der Schulpädagogik. Aspekte biografisch orientierter Lehrerforschung. In H. Krüger & W. Marotzki (Hrsg.), Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. (S. 391–411). Wiesbaden: Springer VS.

Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13(3), S. 283–293.

Maria Rehm ist Akademische Mitarbeiterin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.