Luther fragte: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Viele Menschen heute fragen: „Wie bekomme ich einen gnädigen Mitmenschen?“ Luther sorgte sich um die Anerkennung Gottes, Zeitgenossen suchen nach sozialer Anerkennung. Damals wie heute gilt: Niemand kann sich selbst rechtfertigen. Die spannende Frage lautet deshalb: Wer rechtfertigt? Wessen rechtfertigendes Urteil findet Anerkennung, wessen Rechtfertigungshandeln zeigt Wirkung?

Das auf den Kanzeln aufgeführte Rechtfertigungsdramulett, nach dem wir zwar alle Sünder sind, Gott aber den Sünder liebt, so dass, wenn wir das nur glauben,  eigentlich alles in Ordnung ist und jeder getrost so bleiben darf wie er ist, überzeugt kaum noch. Warum soll man sich einmal im Kreis drehen, wenn sich faktisch nichts ändert? Peter Sloterdijk hat vorgeschlagen, die Theologie als eine Trainingswissenschaft zu konzipieren. Wer trainiert, der will sein Leben ändern, genauer: verbessern. Welchen Trainingseffekt hat die Lehre von der Rechtfertigung? Das bisherige Narrativ ging so: Die Vorstellung eines unter allen Umständen gnädigen Gottes befreie von Selbstblockaden und sei so der Ermöglichungsgrund für persönliches Wachstum. In der Tat stehen Menschen heute unter einem enormen Selbstoptimierungsdruck. Jeder muss sich selbst zum Projekt machen. Die Wahlmöglichkeiten nehmen zu – damit aber auch das Risiko, eine falsche Wahl zu treffen. Und weil es bei dieser Wahl ja nicht nur um die Wahl von diesem und jenem, sondern um eine Selbstwahl geht, ist und bleibt die Frage der Rechtfertigung unseres Handelns virulent.

Die Kirchen sind aber schon lange nicht mehr die einzigen Institutionen, die Rechtfertigungsangebote machen oder auf die Notwendigkeit vorgängig-gnädiger Anerkennung verweisen. Letztlich ist das politische und soziale Leben von Rechtfertigungs- und Anerkennungsdiskursen aller Art durchzogen. In seiner „Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse“ (2011) macht der Frankfurter Politikwissenschaftler Rainer Forst nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Personen Rechtfertigungswesen seien, die sowohl ein Recht auf Rechtfertigung, aber auch eine Pflicht zur Rechtfertigung hätten. In jedem Fall aber seien die Rechtfertigungspraktiken, mit denen Institutionen Herrschaft ausübten, stets an den Gerechtigkeitsimperativ zu erinnern und daraufhin kritisch zu befragen. Und der ebenfalls in Frankfurt lehrende Sozialphilosoph Axel Honneth hat in seiner Anerkennungstheorie im Anschluss an Hegel die anthropologisch wie soziologisch unhintergehbare Vorgängigkeit und Unbedingtheit von Anerkennung als Voraussetzung sowohl für das Erkennen als auch für die Sittlichkeit herausgearbeitet. 

Eine theologische Rechtfertigungslehre, die derartige Diskurse in den Sozialwissenschaften schlicht ignoriert, und isoliert und selbstreferentiell ihre überkommenen Sprachspiele spielt, hat wenig Aussicht auf Gehör. Dies gilt insbesondere für die Schule, in der Kinder und Jugendliche ihr Gespür für Überlebtes, Phrasenhaftes oder Lebensfern-Abgehobenes – zum Glück – häufig hemmungslos artikulieren oder durch demonstratives Desinteresse signalisieren. Die Schule besitzt andererseits das Potential, durch die Vielzahl der Fächer eine Vielzahl von Perspektiven auch auf zentrale theologische Fragestellungen zu entwickeln. Insofern ist die Religionspädagogik in besonderer Weise geeignet, den lebensweltlichen Gehalt der Rechtfertigungslehre zu erheben und neu zu bewerten.

Dieses Heft versteht sich auch als ein Beitrag der Religionspädagogik zum Reformationsjubiläum. Nachdem der Streit darüber, ob die deutschen Theolog*innen sich hinreichend an den kirchlichen Jubiläumsfeierlichkeiten beteiligt hätten, wenn schon nicht beigelegt, so doch abgeklungen ist, kommt es darauf an, die Aufgabe der Theologie und Religionspädagogik für die Gegenwart und die Zukunft des Protestantismus neu zu diskutieren. Die Reformation in Deutschland war eine Bildungsbewegung. Sie ging von einer jungen Universität aus und ihren Protagonisten lag daran, dass Christenmenschen befähigt werden, die Heilige Schrift selbst zu studieren und sich ihren eigenen Reim darauf zu machen. Insofern gilt auch für dieses Heft zur Rechtfertigungslehre, dass es nicht darauf ankommt, historische Tatbestände zu erheben und Luther als Marke zu propagieren, sondern zeitdiagnostisch und theologisch zugleich die diskursiven Kontexte zu erheben sowie neue Denkwege zu erproben, die die biblische Lehre von der Rechtfertigung heute noch plausibel und hilfreich erscheinen lassen.