In Deutschland wie in Österreich fanden in den vergangenen Monaten Wahlen statt. Beide Wahlkämpfe wurden in ihrem Verlauf und in ihrem Ausgang entscheidend von der Migrationsthematik bestimmt. Das zeigte sich beispielhaft am TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz vom 3. September 2017. Bei der Planung solcher Formate achten die Sender darauf, Themen in den Vordergrund zu rücken, von denen sie glauben, dass diese von besonderem Interesse für die wählende Bevölkerung sind. Der erste Themenkomplex lautete: Migration, Flüchtlingspolitik, Islam – und wurde ungewöhnliche lang diskutiert. Bevor andere Themen zur Sprache kamen, war mehr als die Hälfte der Redezeit bereits abgelaufen. Ferner fiel auf, dass bei der Diskussion über die Flüchtlingspolitik Religion eine zentrale Rolle spielte, wobei hier besonders der Islam im Fokus stand. Und weil Religion in dem Migrationskomplex so prominent platziert war, wurde plötzlich auch die eigene religiöse Praxis der Kandidierenden zum Thema: Sowohl Merkel als auch Schulz wurden gefragt, ob sie am besagten Sonntag in der Kirche waren. Hingegen spielte die dritte Bezugsgröße des Tagungsthemas, die Bildung, in der Debatte nur am Rande eine Rolle – und kam wieder vor allem im Kontext der Migrationsthematik zur Geltung.

Der Gesamtzusammenhang von Migration, Religion und Bildung, der im Fokus der diesjährigen Verbandstagung der „Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik“ stand, hat also nichts an Aktualität und gesellschaftlicher Brisanz verloren. Deutlich ist aber auch: Wenn das Thema Migration derzeit thematisiert wird – ob in der öffentlichen Diskussion, in kirchlichen Stellungnahmen, in Bildungsinitiativen oder auch in der Religionspädagogik – dann steht in der Regel das Außergewöhnliche im Vordergrund, dann geht es um Herausforderungen, vor die Europa seit dem rapiden Anstieg in der Asylmigration im August 2015 gestellt ist und die seitdem in Öffentlichkeit, Kirche, Schule und Wissenschaft ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert werden (als Überblick aus theologisch-ethischer Sicht vgl. von Scheliha, 2017). Und in der Tat haben wir es mit einer Situation zu tun, die, was ihr Ausmaß und ihre Beschleunigungsdynamik betrifft, weitgehend ohne Präzedenz ist. Das zeigt sich im besonderen Maße, wenn man den Kontext in den Blick nimmt, um den es in dieser Tagung besonders geht: die Schule. Mehr als 40% der ca. 1,3 Millionen Menschen, die seit 2015 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, fallen ins schulrelevante Alter von 6–25 Jahren. Was das für das öffentliche Bildungswesen bedeutet, lässt sich an der von dieser Entwicklung überdurchschnittlich betroffenen beruflichen Bildung veranschaulichen. Allein an bayerischen Berufsschulen wurden im Schuljahr 2016/2017 mehr als 1.150 Berufsintegrationsklassen für junge Asylsuchende und Geflüchtete eingerichtet (Baumann & Riedl, 2016, S. 25–28). 

Die mit den jüngsten Migrationsbewegungen verbunden Bildungsherausforderungen haben auf allen Ebenen schulischer Bildungssteuerung bemerkenswerte Energien freigesetzt. Schulartübergreifend wurden im deutschsprachigen Raum Konzepte entwickelt, Initiativen gestartet und Handreichungen veröffentlicht, so dass es in kürzester Zeit auf diesem Feld zu einem beachtlichen Zuwachs an migrationsbezogener Expertise gekommen ist. Das gilt auch für den Religionsunterricht, der auf seine Weise Artikulationsräume öffnen kann, in denen junge Menschen Wahrnehmungen und Erfahrungen im Horizont von Flucht und Migration reflektieren können (Kumlehn, 2017).

Dabei eignet Religion im Kontext dieses komplexen Aufgabenfeldes eine gewisse Gegenläufigkeit (Simojoki, 2016): Während es etwa bei der sprachlichen Bildung primär darum geht, Schülerinnen und Schüler mit oft geringen oder ganz fehlenden Deutschkenntnissen zumindest annäherungsweise an den für schulisches Lernen in Deutschland gängigen Anforderungshorizont heranzuführen, kann auf religiösem Gebiet von fehlenden oder zu geringen Voraussetzungen in der Regel keine Rede sein. Im Gegenteil: Wenngleich die im Zuge der jüngsten Fluchtbewegungen neu zugewanderten, mehrheitlich muslimischen jungen Menschen auch in religiöser Hinsicht nicht über einen Kamm geschert werden dürfen, sind sie doch in der Gesamttendenz deutlich religiöser als die Mehrheit ihrer deutschen Mitschülerinnen und -schüler oder auch Lehrkräfte.

Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, dass dieses Mehr an Religion für viele in dieser Arbeit Engagierte eine Herausforderung darstellt, bei deren Bewältigung sie sich Hilfe und Unterstützung wünschen. Dabei beschränkt sich diese Herausforderung keineswegs auf den Religionsunterricht. Vielmehr machen Lehrkräfte ganz unterschiedlicher fachlicher Zugehörigkeit die Erfahrung, es plötzlich vermehrt und teilweise auch konflikthaft mit Religion zu tun zu haben. Hier deutet sich ein Orientierungsbedarf an, der religionspädagogisch wohl noch viel beherzter aufgegriffen werden muss, als dies bislang der Fall gewesen ist.

Freilich bewegen sich die bisherigen Verortungen ebenfalls auf der Ebene des Außergewöhnlichen, die den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs um Migration insgesamt kennzeichnet. Dabei droht aus dem Blick zu geratenen, dass Migration schon längst ein fester Teil der Lebenswirklichkeit in den deutschsprachigen Ländern Europas ist. Ein gutes Fünftel der deutschen Bevölkerung hat mindestens einen Elternteil, der nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Und wenn man in Wien auf der Kärntner Straße dem Stephansplatz entgegenläuft, hat – Touristen ausgenommen – statistisch gesehen die Hälfte aller Menschen, denen man begegnet, einen Migrationshintergrund. Auf die damit gegebene Orientierungsherausforderung verweist der am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung entwickelte Diagnosebegriff einer „postmigrantischen Gesellschaft“. Er steht „für eine Analyseperspektive, die sich mit den Konflikten, Identitätsbildungsprozessen, sozialen und politischen Transformationen auseinandersetzt, die nach erfolgter Migration und nach der Anerkennung, ein Migrationsland geworden zu sein, einsetzen“ (Foroutan, 2016, S. 232).

Folglich sollte Migration, wenn sie religionspädagogisch reflektiert wird, nicht lediglich als eine situative Herausforderung aufgefasst werden, sondern als ein Grundmoment des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Wandels (Polak, 2015), der wesentliche Dimensionen subjektorientierter Bildung berührt (Matzner, 2012). So bleiben etwa die religionspädagogisch leitenden Diagnosebegriffe der Pluralität (Kirchenamt der EKD, 2014) und der Heterogenität (Grümme, 2017) blass und konturlos, wenn sie nicht konkret im Kontext anwachsender Migration verortet werden – genauso wie die für religiöse Bildung zentrale Kategorie der Identitätsbildung, die unter den für Migrationsgesellschaften charakteristischen Bedingungen kultureller Mehrbezüglichkeit ungleich komplexere Formen annimmt (Simojoki, 2017).

In der nachfolgend dokumentierten Tagung wurden bewusst beide Ebenen adressiert. Denn die Aufgaben, die auf die Religionspädagogik im Zuge der jüngsten Migrationsbewegungen zukommen, lassen sich nur dann angemessen fassen, wenn das Nicht-Alltägliche – die sog. Flüchtlingskrise – im Horizont des Alltäglichen, d.h. der selbstverständlichen Präsenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, gedeutet wird. Daher wurde bei der Tagungsplanung angestrebt, beide Perspektiven miteinander zu verschränken und vielfältige Zugänge zu diesem komplexen Gegenstand zu eröffnen. Dieser rote Faden soll nun in aller Kürze sichtbar gemacht werden.

Für stärker dialogisch, diskursiv oder auch spirituell orientierte Programmteile, die sich nicht ohne Bedeutungsverlust in das schriftliche Format einer Tagungsdokumentation übertragen lassen – das Abendgespräch mit Gottfried Adam (Wien), die Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Ednan Aslan (Wien), Andrea Lehner-Hartmann (Wien), Manfred Pirner (Erlangen-Nürnberg) und Birgit-Sendler-Koschel (Bildungsabteilung der EKD, Hannover), die Morgenandacht von Sabine Hermission (Wien) sowie der Nachwuchs-Workshop unter der Leitung von Sara Haen (Tübingen) – sei bereits an dieser Stelle auf den Tagungsrückblick hingewiesen.   

Wie viele andere Phänomene aus dem thematischen Umfeld der Globalisierung, lassen sich mit der Migration verbundene Fragestellungen nur in transdisziplinärer Zusammenarbeit und interdisziplinärer Kooperation angemessen bearbeiten. Für die Religionspädagogik ist der erziehungswissenschaftliche und theologische Migrationsdiskurs von besonderer Bedeutung. Daher beginnt der Thementeil mit eröffnenden Orientierungsbeiträgen von zwei im jeweiligen disziplinären Kontext führenden Expertinnen für die Migrationsthematik: Im Beitrag von Isabell Diehm (Frankfurt) wird deutlich, wie differenziert Religion als Prägefaktor ethnisch codierter Differenz in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung bearbeitet worden ist. Bislang sind die hier liegenden Potenziale für das theologisch-pädagogische Gespräch religionspädagogisch noch weitgehend ungenutzt. Anschließend erschließt Regina Polak (Wien) Migration als einen „locus theologicus“ und sieht auch die Praktische Theologie dazu herausgefordert, im Verbund mit den anderen theologischen Disziplinen den Migrationsnarrativen der Gegenwart „Sinn abzuringen“.     

Die im engeren Sinne religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem Thema beginnt mit einem Grundsatzbeitrag von Michael Wermke (Jena), der am Beispiel von Anforderungssituationen aus der Kita die Komplexität migrationssensibler Bildung vor Augen führt und vor diesem Hintergrund in ein aktuelles Projekt der Jenaer „Arbeitsstelle für kultur- und religionssensible Bildung“ einführt. Anschließend verlagert sich der Schwerpunkt auf zwei Kerngebiete religionspädagogischer Reflexion: Zuerst führt Tarek Badawia (Erlangen-Nürnberg) am Beispiel von muslimischen Jugendlichen in die komplexen Prozesse der kulturellen Selbstverortung unter Migrationsbedingungen ein. In Beitrag von Gordon Mitchell (Hamburg) rückt dann der durch Migration veränderte Sitz im Leben religiöser Bildung in den Blick, mit der multikulturellen Metropole Hamburg als Kontext für interkulturell und interreligiös dimensionierter Positionierungs-, Perspektivierungs- und Reflexionsprozesse.

In den Workshops der Tagung wurde der perspektivische Zugriff auf das Thema zugleich konkretisiert und erweitert: durch die Frage, wie religiöse Aspekte der Fluchtthematik in aktueller Kinder- und Jugendliteratur thematisiert werden (Mirjam Zimmermann, Siegen), durch die Vorstellung methodisch innovativer Zugänge zur empirischen Erforschung von Schüler*inneneinstellungen zu religiöser Diversität (Sabine Hermission, Wien) und durch die Präsentation eines Pionierprojektes zur internationaler Vernetzung der Religionslehrerbildung in Europa (Peter Kliemann, Tübingen).

Ihre ureigene Aufgabe hat eine migrationssensible Religionspädagogik freilich darin, forschungsbasiert und handlungsorientierend in die Praxis religiöser Bildung in Schule, Gemeinde und Gesellschaft hineinzuwirken. Dafür geben die religionsdidaktisch ausgerichteten Beiträge von Thomas Naumann (Siegen), Ingrid Schoberth (Heidelberg) und Mirjam Schambeck (Freiburg) wegweisende Impulse – im Blick auf die für den Religionsunterricht grundlegenden Bereiche biblischen, ethischen und interreligiösen Lernens.

Die Kontextvorteile der Weltstadt Wien wurden auf der Tagung voll ausgeschöpft. Liturgisch zur Geltung kommen sie in der von Thomas Krobath, Dagmar Lagger und Alfred Sobreja-Majer (Wien) gestalteten Andacht, die in der Votivkirche stattfand und literarischen Resonanzen des dort zeitweise heimischen „Refugee Protest Camp Vienna“ Raum gibt.

In bewährter Weise wurde auch diese Tagung durch eine bewusst subjektiv gehaltene Rückschau abgeschlossen: Dass dies mit Fahimah Ulfat (Tübingen) und Thomas Weiß (Schwäbisch-Gmünd) im Dialog von islamischer und evangelischer Religionspädagogik geschah, verdankt sich auch einer grundsätzlichen Einsicht: Die mit der Migration verbundenen Herausforderungen religiöser Bildung können nur in interreligiöser Zusammenarbeit angemessen bearbeitet werden.

Abgeschlossen wird der Thementeil durch zwei empirisch ausgerichtete Beiträge, die unabhängig von der Jahrestagung entstanden sind und das bislang skizzierte Spektrum an Forschungszugängen um zwei wichtige Blickwinkel bereichern: Während Manfred Pirner (Erlangen-Nürnberg) die subjektive Akteursperspektive im Kontext der beruflichen Bildung Geflüchteter religionshermeneutisch in den Blick nimmt, bieten Ulrich Riegel und Andrea Schneiker

Literatur

Baumann, B. & Riedl, A. (2016). Neu zugewanderte Jugendliche und junge Erwachsene an Berufsschulen. Ergebnisse einer Befragung zu Sprach- und Bildungsbiografien (Beiträge zur Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftspädagogik 34). Frankfurt/Main: Peter Lang.

Foroutan, N. (2016). Postmigrantische Gesellschaften. In H.U. Brinkmann & M. Sauer (Hrsg.), Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration (S. 227–254). Wiesbaden: Springer VS.

Grümme, B. (2017). Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine. Freiburg: Herder.

Kirchenamt der EKD (2014). Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Kumlehn, M. (2017). Perspektivenwechsel und narrative Verdichtung: Hermeneutische Zugänge zum Thema Flucht im Religionsunterricht. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 69(1), 48–58.

Matzner, M. (Hrsg.) (2012). Handbuch Migration und Bildung. Weinheim: Beltz.

Polak, R. & Reiss, W. (Hrsg.) (2014). Religion im Wandel: Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen: V&R unipress.

Schelihah, A. von (2017). Ethische Herausforderungen in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 69(1), 14–25.

Simojoki, H. (2016). Irritierender Identitätsanker. Die Religiosität von jungen Geflüchteten als Aufgabe und Herausforderung schulischer Bildung. Loccumer Pelican, 3/16, 111–115.

Simojoki, H. (2017). Im Dazwischen. Zur Liminalität von Religion und Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 69(1), 26–36.