Mein Mann ist Herrenfriseur in einem Dorf in Süddeutschland. Im Frühjahr 2017 kam einer der dort wohnhaften Asylbewerber aus Afghanistan zu ihm in den Salon. Er deutete auf seinen Kopf, machte mit Zeige- und Mittelfinger eine Scherenbewegung und meinte „Christmas“. Der Teil mit dem Haareschneiden war einfach zu verstehen, doch die „Christmas“-Aussage verwirrte meinen Mann. Der Kunde versuchte, in bruchstückhaftem Deutsch zu erklären, dass so wie „ihr Christen“ Christmas feiern würdet, feierten „wir Muslime“ nun auch. Mein Mann, der sich als palästinensischer Christ ziemlich gut mit muslimischen Festen auskennt, war immer noch nicht schlauer, denn zu der Zeit – Mitte März – gab es kein ihm bekanntes muslimisches Fest. Nach einigen weiteren Erklärungsversuchen stellte sich schließlich heraus, dass dieser Kunde auf „Naurooz“ anspielte, das zentralasiatische Frühlingsfest, das, zumindest in seinem Ursprung, mit dem Islam nichts zu tun hat.

Diese Episode soll als Illustration dafür dienen, wie wichtig sowohl interkulturelle, als auch interreligiöse Kompetenzen in den meisten Gesellschaften heutzutage geworden sind und wie wenig man ohne solche Kompetenzen angesichts des Weltanschauungsplurals in den meisten Gesellschaften mit andersgläubigen Menschen kommunizieren kann. Sie ist auch ein Indiz dafür, dass das Aufwachsen in einem weitgehend monoreligiösen Umfeld (hier: Afghanistan) kaum Voraussetzung schafft, interreligiöse Kompetenzen zu entwickeln, im Gegensatz zu einem multireligiösen Umfeld (hier: Palästina). In diesem Aufsatz möchte ich der Frage auf den Grund gehen, wie interreligiöse (und in einer Weiterführung interkulturelle) Kompetenzen entstehen. Dabei interessiert mich besonders, inwieweit interreligiöse Kompetenzen eine leibliche (im Gegensatz zu einer kognitiven) Grundlage haben. In einem zweiten Schritt überprüfe ich dann, inwiefern sich die Leiblichkeit der interreligiösen Bildung in den baden-württembergischen Bildungsplänen für den Religions- bzw. Ethikunterricht widerspiegelt. Es ist mein zentrales Argument, dass interreligiöse Kompetenzen in erster Linie leiblich erlernt und eingeübt werden müssen, um erfolgreich angewandt zu werden, was bisher in den Bildungsplänen kaum, wenn überhaupt, berücksichtigt wurde. Wie wir sehen werden, bildet der hier konzipierte islamische Religionsunterricht dabei eine gewisse Ausnahme. Da es mir in diesem Aufsatz vorrangig um die theoretischen Grundlagen geht, dient die Untersuchung der Bildungspläne für verschiedene Fächer eher der Illustration meiner Argumentation und ist dementsprechend (noch) nicht sehr detailliert. Es geht mir hier ebenso noch nicht um die Entwicklung alternativer Unterrichtsmodelle, wodurch die Komplexität des Religionsunterrichts an den Rand der Diskussion rückt. Das Hauptziel ist hier das Aufzeigen einer Problematik, die bisher kaum erfasst wurde.

Die Perspektive, die ich hier darstelle, hat eine lange Entstehungsgeschichte. Sie geht hervor aus persönlichen Beobachtungen in verschiedenen Kontexten. Sie ist gespeist von Erfahrungen während meiner Langzeitaufenthalte in Jordanien und Palästina, aber genauso von Erlebnissen in Großbritannien und Deutschland. Diese Erfahrungen haben offenbar ganz ähnliche Denkprozesse bei mir ausgelöst wie Schambeck (2013, S. 11) sie schildert: sie sei dazu gekommen „genauer darüber nachzudenken […], was Multireligiosität und Multikulturalität bedeuten und wie sie notwendig Konzepte religiöser Bildung verändern“ durch „[k]onkrete Begegnungen mit Menschen anderer Religionen, in anderen Kulturen zu leben, zu entdecken, dass Selbstverständliches plötzlich fremd werden und Fremdes den ganz normalen Alltag bestimmen kann“. Bevor ich näher auf diese „fremde“ Perspektive eingehe, sei noch ein caveat vorweggeschickt: Die hier dargelegten Beobachtungen sind nicht systematisch, lieferten aber den Anstoß für die theoretische Grundlage, die ich hier entwickeln werde. Die hier aufgestellten Hypothesen zur Leiblichkeit interreligiöser Kompetenz müssen in einem späteren Schritt empirisch überprüft werden.

Während meines Aufenthalts in Jordanien (1997–1999), vor allem aber während meiner Zeit in Nablus, Palästina (2009–2015), hatte ich Gelegenheit, interreligiöse Kompetenz in situ zu beobachten. Dies geschah im Rahmen eines Forschungsprojektes zu interreligiösen Beziehungen (Droeber, 2014), aber auch durch meine persönliche Situation: meine Heirat in eine palästinensisch-christliche Familie versetzte mich, nicht nur als Ausländerin, sondern auch in der lokalen Gesellschaft in eine Minderheiten-Position, aus der heraus interreligiöse Kompetenz eine andere Qualität und Dringlichkeit erhält als die in einer Mehrheiten-Position übliche. Für religiöse Minderheiten in einem solchen Kontext ist interreligiöse Kompetenz eine Überlebensstrategie. Dementsprechend konnte ich beim Umgang von Christen und Samaritanern[1] mit Muslimen ein relativ hohes Maß an interreligiöser Kompetenz beobachten.

Zum Bildungskontext sei dazu angemerkt, dass es islamischen, sowie seit 2018 auch christlichen Religionsunterricht an den staatlichen Schulen in Palästina gibt. Am bisher angebotenen ausschließlich islamischen Religionsunterricht haben Nicht-Muslime allerdings generell nicht teilgenommen. Zu den Inhalten habe ich selbst keine empirischen Untersuchungen vorgenommen, gehe jedoch anhand von gelegentlichen Aussagen von Bekannten davon aus, dass andere Religionen nur peripher thematisiert wurden. In den Schulbüchern anderer Fächer (wie Geschichte oder Gemeinschaftskunde) wurde „der Andere“ zwar häufig thematisiert, dies jedoch oft im politischen Kontext des Palästina-Israel Konflikts (Juden) oder der Kreuzzüge (Christen) (Firer & Adwan, 2004; Reiss, 2005; Brown, 2007). Raheb (2018, S. 237–238) bemerkt dazu:

„In den letzten Jahrzehnten wurden aus mehreren wissenschaftlichen Richtungen Untersuchungen zu den Schulbüchern arabischer Länder durchgeführt. Diese Studien unterscheiden sich sehr stark voneinander hinsichtlich der Motive, Ziele, Methoden und Fragestellungen. Dennoch lässt sich ein roter Faden erkennen, der die Studien miteinander verbindet, denn die Frage nach der Darstellung des ‚Anderen‘ bildet ein zentrales Thema fast aller Untersuchungen. Dieser ‚Andere‘ variiert in den verschiedenen Studien, mal ist es ‚der Westen‘, ‚das Christentum‘, ‚die Juden‘ oder ‚Israel‘.“

Hier wird deutlich, dass der religiöse „Andere“ zumeist in einem politischen Kontext thematisiert wird – „Juden“ werden gleichgesetzt mit „Israel“, „Christen“ werden gleichgesetzt mit „dem Westen“ – und somit wird Stereotypen Tür und Tor geöffnet. Hier geht es mir jedoch um die stark begrenzte lokale Pluralität – in Nablus wären dies vorwiegend griechisch-orthodoxe Christen und Samaritaner – die in den Schulbüchern des Religionsunterrichts kaum Erwähnung finden. Theoretisches und faktisches Wissen über andere Religionen wird also nur begrenzt über das staatliche Bildungssystem vermittelt. Auch in den von den religiösen Gemeinschaften organisierten Lehrstunden, wie beispielsweise die „Sonntagsschule“ der christlichen Gemeinden, wird Wissen über die jeweils anderen Religionsgemeinschaften generell nicht thematisiert. Mit anderen Worten, es ist anzunehmen, dass das interreligiöse „Wissen“ oder die Kompetenzen, die im Laufe des Lebens erworben werden, größtenteils das Resultat von Alltagsbegegnungen sind und nicht nur, vielleicht nicht einmal hauptsächlich, auf kognitiver Ebene entstehen. Dies widerspräche den meisten Modellen von interreligiöser Kompetenz, die den meisten Bildungsplänen zugrunde liegen (Nikolova et al., 2007, S. 69). Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die Frage nach der Entstehung interreligiöser Kompetenz stellen. Was können wir darüber von einer Situation lernen, in der das Bildungswesen auf interreligiöse Kompetenzen keine Rücksicht nimmt, in der der gesellschaftliche Kontext religiös divers ist und es sehr verschiedene Ausprägungen interreligiöser Kompetenz gibt? Und wo sind die Parallelen zur Situation in Deutschland? Welche Modelle zur Entstehung interreligiöser Kompetenz stehen uns zur Verfügung, um diese Situation zu erklären? Und wie kann man dies für den Religionsunterricht im Allgemeinen und den islamischen Religionsunterricht im speziellen fruchtbar machen?

Kompetenz als Disposition

Vorweg einige Bemerkungen zum Kompetenzbegriff: In diesem Aufsatz geht es mir nicht um eine Kritik am Begriff oder an der Definition von „Kompetenz“. Diese Debatte hat eine lange Geschichte (Klieme & Hartig, 2007), die uns an dieser Stelle nicht unbedingt weiterhilft. Zudem hat Kaufhold (2006, S. 21) festgestellt, dass unklar geblieben sei, was der Kompetenzbegriff in den verschiedenen Disziplinen eigentlich meine. In einer Vereinfachung von Weinerts (2001) Definition, gehe ich in diesem Aufsatz von einem Verständnis des Kompetenzbegriffes aus, das auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten, Probleme zu lösen, abzielt. Die „Probleme“ hier sind natürlich interreligiöser Art. Willems (2011, S. 13) hat diese Definition auf interreligiöse Kompetenzen zugeschnitten und versteht darunter „Kompetenzen, die notwendig sind, damit Personen interreligiöse Überschneidungssituationen bewältigen können, damit sie also verstehen, was in solchen Situationen geschieht, und damit sie in ihnen handlungsfähig sind“. Sowohl die „Fertigkeiten und Fähigkeiten“ als auch die „Lösungen“ bedürfen später noch einer genaueren, auf empirischen Beobachtungen beruhenden Definition. In einem ersten Schritt geht es mir jedoch vorrangig darum, den Weg zu dem, was meist als „Kompetenz“ beschrieben wird, genauer zu beleuchten. Dieser Schritt ist zentral für meine Argumentation hier.

Im Zuge meiner Lektüre zur interreligiösen Kompetenz fiel mir auf, dass der Kompetenzbegriff in den Erziehungswissenschaften eine sehr stark kognitive Ausprägung hat. Meist und anfänglich geht es um „Wissen“, „Verstehen“ und „Lernen“. Der praktische, verkörperlichte Situationsbezug wird oft nur kursorisch angeführt (vgl. Unterscheidung interreligiöser Kompetenz in die Teilaspekte Deutungskompetenz und Partizipationskompetenz bei Willems (2011, S. 167ff.) und Benner (2008, S. 241)). Diese Schwerpunktsetzung hat v.a. pragmatische Gründe: wie Willems (2011, S. 171–172) ausführt, sind kognitive und sprachliche Aspekte interreligiöser Kompetenz einfacher quantitativ erfassbar, während qualitative Forschung zwar „grundsätzlich zu bevorzugen“, aber zu „zeitintensiv“ sei. Aus diesen Gründen wird über die leibliche Dimension interreligiöser Kompetenz meist gar nicht weiter nachgedacht. Ich schlage hier vor, dass der leibliche Aspekt interreligiöser Kompetenz zentral für die Handlungsfähigkeit in religionspluralen Kontexten ist und dass folglich die Entscheidung, diese aus pragmatischen Gründen in der Forschung zu marginalisieren, fatal ist.

Das Bewusstsein, dass der Leib eine wichtige Rolle in der Ausbildung von (interreligiösen) Kompetenzen hat, ist natürlich vorhanden. Beim kursorischen Lesen des „Kompetenz“-Artikels auf Wikipedia bin ich über eine Beschreibung von Kompetenz gestolpert, die genau diesen Körperbezug zu fordern scheint: Kompetenzen seien „allgemeine Dispositionen von Menschen zur Bewältigung bestimmter lebensweltlicher Anforderungen“. Der Begriff „Dispositionen“ rief bei mir natürlich sofort Assoziationen mit Pierre Bourdieus Werk hervor. Kann sein Theoriegebäude uns helfen, das Entstehen und die Wirkungsweisen von interreligiöser Kompetenz besser zu verstehen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

Eines der grundlegendsten Elemente in Bourdieus Theorien ist die Disposition. Ich möchte im Folgenden versuchen, die Inhalte von „Kompetenz“ durch die Wirkungsweisen von Dispositionen im Bourdieuschen Sinne zu beleuchten. Bourdieu erklärt, wie Individuen durch tägliche und alltägliche Praxis bestimmte Dispositionen für ihr soziales Handeln entwickeln, die von ihrer jeweiligen Position in bestimmten sozialen Feldern, wie beispielsweise im wirtschaftlichen, oder im sportlichen, bestimmt sind. Jedes soziale Feld ist einer eigenen Disposition zugeordnet, so dass ein Individuum durch sein Handeln in verschiedenen Feldern der sozialen Welt ein ganzes System von Dispositionen entwickelt, das bei Bourdieu „habitus“ genannt wird. Diese Dispositionen sind überlebenswichtig. Bourdieu hat sie als „das Gefühl für das Spiel“ bezeichnet. In der Kompetenz-Debatte wäre hier von „Handlungsfähigkeit“ die Rede. Mit Hilfe dieser Dispositionen können Individuen soziale Felder und soziale Ordnung vor allem intuitiv verstehen. Wir kommen hier also dem oben dargelegten Kompetenzbegriff sehr nahe. Dieses „praktische Gefühl“, die „praktische Logik“, die bestimmt, mit welcher Stimme, welchem Geschmack, welchen Körperbewegungen, oder Meinungen man sich „angebracht“ in einem bestimmten Kontext verhält, sind mimetisch einverleibte soziale Strukturen (Bourdieu, 1987, S. 739). Diese Dispositionen sind also konditionierte Reaktionen auf das soziale Umfeld, die so stark verinnerlicht werden, dass sie spontan und automatisch auftreten, ohne bewusste Reflexion (Weiß, 2009, S. 38). Der konkrete Habitus von Individuen, ihr System von Dispositionen also, ist demnach bestimmt durch ihre Position im sozialen Raum und bestimmt oder typisiert diese gleichzeitig.

Dies sind also die „Kompetenzen“, mit denen Schülerinnen und Schüler bereits zum großen Teil ausgestattet sind, bevor sie in das Schulsystem eintreten. Es sind aber auch die Kompetenzen, die sie im Laufe ihrer Schullaufbahn in und außerhalb der Schule in ihrem jeweiligen sozialen Feld entwickeln. Bei der Anwendung des Kompetenzkonzeptes in Bildungsplänen wird dieser Aspekt der außerschulischen Kompetenzentwicklung häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Willems (2011, S. 163) deutet diesen Aspekt an, wenn er schreibt, dass im Blick bleiben müsse, „dass der Unterricht selbst nur einen geringen Einfluss hat auf die Entwicklung von Toleranz, demokratischer Gesinnung etc., sondern dass dies eher durch die Unterrichts- und Schulkultur gefördert wird“. In seinen weiteren Ausführungen hat er diese Erkenntnis jedoch dann weitgehend unberücksichtigt gelassen.

Dispositionen und „stille Pädagogik“

Zu meinem Leidwesen hat Bourdieu keine ausgefeilte Sozialisations- oder Erziehungstheorie entwickelt, die uns präzise Erklärungen über die Entstehung oder Veränderung von Dispositionen liefern könnte (Rehbein, 2011, S. 90–91). Dies liegt wohl unter anderem daran, dass für ihn die Untersuchung sozialer Strukturen ausreicht für die Analyse des Habitus (ebd.), denn er macht immer wieder deutlich, und es ist leicht nachvollziehbar, dass eine unmittelbare Wechselbeziehung zwischen sozialen Feldern und Dispositionen besteht und dass der Habitus seinen Ursprung in den sozialen Strukturen nimmt (Bourdieu, 1993, S. 98–99). Bourdieus Habitustheorie beruht darüber hinaus auf der Annahme der Habitus-Hysteresis, der Trägheit des Habitus. Dies bedeutet, dass der Habitus, das System von Dispositionen, grundsätzlich dazu tendiert, sein Fortbestehen zu sichern und daher Felder und Bedingungen zu wählen, die dies ermöglichen. Die Dispositionen, die einmal entstanden sind, lassen sich also nicht so schnell wieder abschaffen oder verändern. Auch deshalb hielt er ein dynamisches Sozialisationskonzept für die Theoretisierung des „Habitus“ offensichtlich für nicht notwendig.

Die Trägheit des Habitus liegt unter anderem darin begründet, dass der Habitus „einverleibt“, inkorporiert und nicht kognitiv erfasst wurde. Nach Bourdieu werden die objektiven Strukturen eines Feldes auf Körperebene verinnerlicht. Sowohl Körper, als auch Sprache dienen als Speicher gesellschaftlicher Normen, die immer wieder abgerufen werden können (Bourdieu, 1993, S. 127). Für mein Argument hier ist es wichtig festzuhalten, dass nach Bourdieu die Akteure die soziale Welt nicht durch wissenschaftlich objektivierende Distanz zu den Objekten der Erkenntnis erfassen, sondern sie als etwas Selbstverständliches erfahren – sie wohnen dieser Welt inne und die Welt wohnt ihnen inne (Pille, 2002, S. 26). Es handelt sich hier um einen vorbewussten, nicht reflexiven Bereich, nicht um einfache Nachahmung oder Rollenspiel (Bourdieu, 1993, S. 135). Zur besseren Vorstellung sei hier an Kleinkinder erinnert, die in die „Haut“ der Älteren „schlüpfen“, deren Bewegungen verinnerlichen und ihrer eigenen Körpermotorik anpassen. Dieses mimetische Handeln ist als das Ergebnis einer intelligenten, reflexiven Körperlichkeit zu verstehen. Bourdieu (1993, S. 128) spricht hier von einer „stillen Pädagogik“:

„Man könnte in Abwandlung eines Worts von Proust sagen, Arme und Beine seien voller verborgener Imperative. Und man fände kein Ende beim Aufzählen der Werte, die durch jene Substanzverwandlung verleiblicht worden sind, wie sie die heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik bewirkt, die es vermag, eine komplette Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik über so unscheinbare Ermahnungen wie ‚Halt dich gerade!‘ oder ‚Nimm das Messer nicht in die linke Hand!‘ beizubringen und über die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten von Haltung, Betragen oderkörperliche und verbale Manieren den Grundprinzipen des kulturell Willkürlichen Geltung zu verschaffen, die damit Bewußtsein und Erklärung entzogen sind“. (ebd.)

Hier handelt es sich also um eine Pädagogik „jenseits einer ausdrücklichen erzieherischen Absicht, über unscheinbare pädagogische Imperative und Ermahnungen bezüglich Manieren, Haltung und Betragen“ (Schwingel, 1995, S. 67; meine Hervorhebung). Was entstanden ist, ist ein „praktischer Sinn“, ein „Sinn für das Spiel“ (Bourdieu, 1993). Über praktisches Reflektieren ist so der Habitus in ständigem Entstehen begriffen. Der „praktische Sinn“, die Dispositionen, werden in sozialen Handlungen aktualisiert und reproduziert, ohne dass der Akteur viel darüber nachdenken muss. Den Zusammenhang von „stiller Pädagogik“ und gesellschaftlichen Ordnung stellt Bourdieu (1993, S. 128–129) folgendermaßen her:

„Die List der pädagogischen Vernunft liegt gerade darin, daß sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches wie z.B. Beachtung der Formen und Formen der Achtung zu erheischen, sichtbarste und zugleich ‚selbstverständlichste‘ Manifestationen der Unterwerfung unter die bestehende Ordnung […].“

Als Ergebnis dieser „stillen Pädagogik“ macht Bourdieu (1993, S. 135) einen „Zustand des Leibes“ aus, der sich aus dem „praktischen Sinn“ entwickelt hat:

„Der Leib glaubt, was er spielt […]. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder. Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.“ (ebd.)

Trotz der Andeutung einer „stillen Pädagogik“ hat Bourdieu, wie eben schon angedeutet, das genaue Funktionieren dieser Pädagogik nicht weiter theoretisiert. Für ihn war das Funktionieren des Habitus von größerer Bedeutung als dessen Entstehung. Zwei Aspekte sind jedoch für mein Argument hier von größerer Bedeutung: zum einen, dass menschliches Wahrnehmen, Verhalten und Denken verkörperlicht sind, und zum anderen, dass dieses Verkörperlichtsein nur schwer wandelbar ist.

Veränderungen des Habitus und Pädagogik

Wenn wir nun wieder einen Bogen schlagen zu den interreligiösen Kompetenzen, die im Bildungsplan verankert sind, so ist zunächst einmal zu vermuten, dass dahinter der pädagogische Gedanke steht, dass diese interreligiösen Kompetenzen bei den meisten Schülerinnen und Schülern noch nicht, oder nur unzureichend vorhanden sind und dass sie erlernbar sind. Vor dem Hintergrund des eben Dargestellten stellt sich mir nun Frage, inwieweit dieses Ziel mit den im Bildungsplan ebenfalls verankerten Methoden tatsächlich erreichbar ist.

Wenn Bourdieus These der Habitus-Hysteresis tatsächlich Substanz hat, dann bedeutet dies für das Erlernen interreligiöser Kompetenzen zunächst einmal, dass dies ein im besten Fall schwieriges Unterfangen sein wird. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Schülerinnen und Schüler in das Bildungssystem eintreten, ist ihr Habitus, sind ihre Dispositionen schon relativ stark ausgeprägt und spiegeln ihre Position, bzw. die ihrer Familie, im sozialen Feld wider (Bourdieu, 1993, S. 113). Zu diesem System der Dispositionen gehört, wie Bourdieu (1993, S. 129) ausführt, auch ein System von Gegensätzen, „die für die implizite Axiomatik einer bestimmten politischen Ordnung konstitutiv sind: der Gegensätze zwischen Männern und Frauen, zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Persönlichem oder Privatem und Unpersönlichem […] zwischen Vorgesetzten, Gleichgestellten und Untergebenen“, und, wie ich für mein Argument ergänzen will, zwischen Angehörigen der eigenen Religion oder Weltanschauung und denen einer anderen. Diese, einer gesellschaftlichen Gruppe eigenen, Gegensätze werden als unvereinbare Dichotomien wahrgenommen und oft über Adjektive klassifiziert. Bourdieu (1987, S. 730–731) hat die damit verbundenen Wertungen folgendermaßen erläutert:

„Dem weitläufigen Netz der Gegensatzpaare wie hoch (oder erhaben, rein, sublim) und niedrig (oder schlicht, platt, vulgär), spirituell und materiell, fein (oder verfeinert, raffiniert, elegant, zierlich) und grob (oder dick, derb, roh, brutal, ungeschliffen), leicht (oder beweglich, lebendig, gewandt, subtil) und schwer (oder schwerfällig, plump, langsam, mühsam, linkisch), frei und gezwungen, weit und eng, wie auf einer anderen Ebene einzig(artig) (oder selten, außergewöhnlich, exklusiv, einzigartig, beispiellos) und gewöhnlich (oder gemein, banal, geläufig, trivial, beliebig), glänzend (oder intelligent) und matt (oder trübe, verschwommen, dürftig) – diesem Netz als einer Art Matrix aller Gemeinplätze, die sich nicht zuletzt so leicht aufdrängen, weil die gesamte soziale Ordnung auf ihrer Seite steht, liegt der primäre Gegensatz zwischen der ‚Elite‘ der Herrschenden und der ‚Masse‘ der Beherrschten zugrunde […]“.

In dieses System von Dichotomien und Wertungen fällt auch die Wahrnehmung der eigenen und anderer Religionen oder Weltanschauungen. Beim Lernen oder Einüben interreligiöser Kompetenzen muss also mit diesem System der Gegensätze umgegangen werden, mit dem „Wir“ und den „Anderen“, das bei vielen Schülerinnen und Schülern verschiedentlich stark ausgeprägt ist. Eine kurze Vignette soll verdeutlichen, wie fest solche Dichotomien sitzen können und wie groß die Diskrepanz ist zwischen dem kognitiv Erlernten im Klassenzimmer und dem habituell Verkörperlichten außerhalb des Klassenzimmers.

Am Ende einer langen Einheit über Diskriminierung, Segregation, Apartheid und Fremdenhass und nachdem wir uns einen Dokumentationsfilm über Martin Luther King angeschaut hatten, gab es noch eine offene Diskussionsrunde mit meinen 14-jährigen Schülerinnen und Schülern an einer weiterführenden Schule in West-Schottland. Sie hatten im Laufe der vorangegangenen Stunden immer die „richtigen“ Antworten gegeben und zeigten sich empört über Rassenhass. Es schien so, als hätten sie die Lektion zu Toleranz und Akzeptanz des „Anderen“ zur Genüge verinnerlicht. Kurz bevor die Schulglocke am Ende dieser letzten Stunde läutete und einige schon unruhig wurden, meldete sich noch einmal ein Schüler zu Wort. Ich kann mich nicht mehr an sein Argument erinnern, aber er endete voller Inbrunst mit folgenden Worten, an die ich mich noch sehr wohl erinnere: „But the Pakis[2] are taking over our cornershops!“ Acht Wörter, die meine Zufriedenheit wie eine Luftblase zerplatzen ließen. Ich fühlte mich unwillkürlich an die Karikatur erinnert, die bei meinen Eltern im Treppenhaus hing und in der jemand zum Thema Nächstenliebe sagt: „Alle Welt gern zu haben ist kein Problem. Das Problem ist der blöde Kerl von nebenan!“.

Hier, wie auch anderswo in Bildungsplänen erwähnt, war es ein Ziel der Unterrichtseinheit, Empathie zu ermöglichen mit dem „underdog“, den Unterprivilegierten. Dadurch sollen die Gegensatzpaare des Habitus etwas aufgebrochen werden, so dass der „Andere“ nicht mehr ganz so „anders“ erscheint. Erst dann wäre ein konstruktiver Dialog möglich. Auf den ersten Blick schien mir dies auch gelungen zu sein. Auf theoretischer Ebene, im Rahmen des Unterrichts, hatten die Schülerinnen und Schüler scheinbar „gelernt“, dass Rassismus keine faktische Basis hatte und der „Andere“ Mensch ist wie „Wir“ auch. Ich hatte es jedoch versäumt, einen persönlichen Dialog mit den „Anderen“ – hier, pakistanisch-stämmige britische Muslime – zu ermöglichen, interkulturelle Kompetenz (die mit der interreligiösen vergleichbar ist) auf dem Boden der Tatsachen, im richtigen Leben, einzuüben. Folglich blieben die pakistanisch-stämmigen Nachbarn in der kleinen Gemeinde immer noch „anders“, ja bedrohlich in einer Region, die von einer extrem hohen Arbeitslosenrate und sozialen Problemen gekennzeichnet war. Auch Bourdieu (1993, S. 125) wies darauf hin, dass man „einen Glauben, der mit Existenzbedingungen, die von den eigenen grundverschieden sind, d.h. mit ganz anderen Spielen und Einsätzen zusammenhängt, […] nicht wirklich leben [kann] und noch weniger andere allein durch den Diskurs nacherleben lassen [kann]“.

Die Frage, die sich mir an dieser Stelle stellt, ist, ob der Habitus – mit seinen, den interreligiösen Kompetenzen oft diametral entgegenstehenden, Dispositionen – überhaupt wandel- und beeinflussbar und wenn ja, wie?

Auch hier gibt Bourdieu Hinweise, obwohl diese bei ihm weniger prominent sind als seine These der Habitus-Hysteresis. Veränderungen am Habitus werden vor allem in Situationen ausgelöst, in denen eine Diskrepanz oder Dissonanz besteht zwischen Habitus auf der einen Seite und sozialem Feld auf der anderen. Verschiedene Individuen reagieren unterschiedlich auf eine solche Dissonanz, denn Flexibilität (bedingt durch spezifische Umstände und unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen) ist ebenfalls im Habitus verankert (Schwingel, 1995, S. 66–67). Im Falle einer Diskrepanz zwischen Habitus und sozialem Feld, z.B. durch soziale Veränderungen oder das Betreten eines gänzlich neuen Feldes, werden die vorhandenen Dispositionen dysfunktional. Bourdieu (2001, S. 209) erklärt hier, dass

„wahrscheinlich […] die, die sich in der Gesellschaft am ‚rechten Platz‘ befinden, sich ihren Dispositionen mehr und vollständiger überlassen oder ihnen vertrauen [können] […] als die, die – etwa als soziale Auf- oder Absteiger – Zwischenpositionen einnehmen; diese haben wiederum mehr Chancen, sich dessen bewusst zu werden, was sich für andere von selbst versteht, sind sie doch gezwungen, auf sich achtzugeben und schon die ersten Regungen eines Habitus bewusst zu korrigieren, der wenig angemessene oder ganz deplatzierte Verhaltensformen hervorbringen kann.“

Das System von Dispositionen wird also ständig erweitert, ergänzt oder umgeformt, aber nicht gänzlich ersetzt, weshalb Bourdieu immer noch von „dauerhaften“ Dispositionen spricht. Die „Dauerhaftigkeit“ des Habitus ist auch dadurch gerechtfertigt, dass die Bedingungen des sozialen Feldes selektiv aufgenommen werden, entsprechend einer Habitus-eigenen Logik, nach der er sich eine Welt zu konstruieren sucht, in der er sich realisieren kann. Nach Bourdieu ist der Habitus „eine Potentialität, ein Wunsch zu existieren, der gewissermaßen die Bedingungen zu schaffen sucht, unter denen er sich realisiert, also die Bedingungen durchzusetzen sucht, die für ihn, so wie er ist, die günstigsten sind“ (Schwingel, 1995, S. 67).

Situationen, in denen Habitus und soziales Feld in Diskrepanz zueinanderstehen und sich diese Diskrepanz auch nicht einfach umgehen lässt, erzeugen sogenannte Habitusirritationen. Dann sind bestimmte Dispositionen nicht mehr weiter haltbar und es kommt zu Habitusveränderungen. In solchen Situationen starker Diskrepanz kann der Habitus mehr oder weniger bewusst beeinflusst werden. Bourdieu (2001, S. 209) erklärt, dass solche Situationen einen „Augenblick des Zögerns“ hervorrufen können, „eine Form des Nachdenkens“ erzeugen können, die nichts mit dem eines „scholastischen Denkers“ zu tun haben, sondern als Körperbewegungen „der Praxis zugewandt“ bleiben. Dieses praktische Reflektieren und Korrigieren wohnt jeder Körperbewegung inne. Dies wären also Momente, die pädagogisch fruchtbar gemacht werden können, da ansonsten das habituelle Körperwissen einem rationalen Verständnis nicht immer zugänglich ist. Wenn also ein neues Feld erschlossen werden soll bzw. Veränderungen im Habitus vonnöten sind, um einen neuen „Sinn für das Spiel“ zu entwickeln, ist eine zunehmend erfolgreiche, geschickte und reibungslose Teilnahme an jenem „Spiel“ erforderlich (Pille, 2002, S. 37).

Ziel ist immer, eine gewisse Harmonie in den Körperbewegungen herzustellen, um sich in bestimmten Feldern angemessen zu bewegen. Unangemessene Bewegungen führen zu einer Habitusirritation, die durch körperliche Reflexivität vor jeder Bewusstwerdung korrigiert werden. Eine kleine persönliche Erfahrung kann das Verlangen nach der Situation angepassten Körperbewegungen vielleicht verdeutlichen. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan bestand in Nablus immer sehr großer gesellschaftlicher Druck auf allen Gemeinschaftsmitgliedern, tagsüber in der Öffentlichkeit nicht zu essen, zu trinken, oder zu rauchen. Auch als Nicht-Muslime hielten wir uns selbstverständlich daran. Auf dem Weg zur Universität kaute ich zu der Zeit gerne Kaugummi, den ich während des Ramadans natürlich vorher ausspuckte. Kauen hatte ich als unangemessene Bewegung in der Öffentlichkeit verinnerlicht. Diese Verinnerlichung ging so weit, dass ich, nachdem der Ramadan bereits zu Ende war, einmal auf dem Weg zur Arbeit vor Schreck stehen blieb und aufhörte meinen Kaugummi zu kauen. Erst dann dachte ich darüber nach und machte mir bewusst, dass nun Kauen wieder angemessen war.

In dieser Situation ist andeutungsweise geschehen, was auch Bourdieu für den Habitus dargestellt hat: der Habitus besteht aus drei verschiedenen, aber miteinander verwobenen, Aspekten – Wahrnehmungsschemata, Denkschemata und Handlungsschemata; eine Anpassung der Körperbewegungen erzeugt somit auch eine Anpassung der Denk- und Wahrnehmungsschemata (Schwingel, 1995, S. 62). Nach Bourdieu ist auch die Reihenfolge wichtig: Handlung kommt vor Denken und beeinflusst die Wahrnehmung, die bei Habitusirritationen wieder Einfluss auf die Handlungsschemata haben. Diese Ausführungen deuten bereits an, dass die Entwicklung interreligiöser Kompetenzen „Teilnahme am Spiel“, inklusive einer möglichen Habitusirritation, und einen Fokus auf den Körper erfordert.

Ein ähnlicher Ansatz wird auch von Willems (2011, S. 76–77) dargestellt in seiner Konzeptualisierung von interreligiösen Überschneidungssituationen, die er als Grundbaustein für interreligiöse Kompetenz sieht, bzw. als das Feld, in dem sich interreligiöse Kompetenz unter Beweis stellen lässt. Anstelle von Irritationen spricht er von „Perturbationen“ und meint damit Herausforderungen, denen man begegnet und die die eigene Wirklichkeitskonstruktion beeinflussen (Willems, 2011, S. 67). Auf kultureller Ebene bedeutet dies, dass Kulturwandel nicht „voraussetzungslos oder zufällig“ geschieht, sondern als „Weiterentwicklung bestehender kultureller Strukturen, um angesichts von Perturbationen eine Äquilibration und ein neues viables Modell zu erreichen“ (ebd.). Diese Weiterentwicklung geschieht durch Akkommodation, d.h. wenn eine Bearbeitung alltäglicher Herausforderungen „mit den üblichen kulturellen Mechanismen“ nicht mehr möglich ist (im Gegensatz zur Assimilation, bei der die vorhandenen Mechanismen zur Bearbeitung ausreichen (ebd.)). Diese Art der Herausforderungen, die „nicht durch Assimilationen – und in manchen Fällen auch nicht durch Akkommodationen – bearbeitet werden können“, bezeichnet Willems als „critical incidents“ (Willems, 2011, S. 78, bezugnehmend auf Heringer, 2007, S. 218–221 und Thomas, 1993; 2005). Auf interreligiöse Überschneidungssituation angewandt beschreiben „critical incidents“ demnach „Situationen, in denen die Beteiligten jeweils in Übereinstimmung mit unterschiedlichen kulturellen bzw. religiösen Deutungs- und Kommunikationsmustern interagieren und früher oder später überrascht sind, weil die Handlung des Interaktionspartners vor dem Hintergrund der eigenen Muster keinen ‚Sinn‘ mehr macht“ (ebd.). Auch Bernlocher (2013, S. 311) betont die Bedeutung „interkulturell-interreligiöser Überschneidungsräume“ sowie die Tatsache, dass interreligiöse Lernprozesse „zu einem hohen Grad von außertheologischen Faktoren bestimmt wird“ (Hervorhebung im Original). Einer dieser Faktoren sei die Lebenswelt bzw. die gelebte Religiosität derjenigen, die sich in einer solchen Überschneidungssituation befänden (ebd.). Obwohl Willems die Rolle der „critical incidents“ v.a. für interreligiöse Überschneidungssituationen herausarbeitet, hält er fest, dass sie auch für das Lernen in anderen Domänen von großer Bedeutung sind (ebd.). Die Parallelen zu Bourdieus Verständnis von Habitusirritationen sind unmittelbar zu erkennen, mit dem Unterschied, dass Willems‘ „critical incidents“ wieder sehr stark kognitiv konzeptualisiert sind.

Es scheint also, dass Kompetenzen, interreligiöser und anderer Art, vor allem in praktischen Begegnungssituationen ausgebildet, umgeformt oder verändert werden. Situationen, die den gesamten Menschen, „Leib und Seele“, involvieren und herausfordern. Wenn dem so ist, wie passt dieses Verständnis zum Verständnis des interreligiösen Kompetenzerwerbs, auf dem Bildungspläne beruhen? Als Fallstudie habe ich die neuen Sekundar-Bildungspläne für das Land Baden-Württemberg in den Fächern islamische, katholische und evangelische Religion, sowie Ethik gewählt (http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG). Für diese Auswahl sprechen wenigstens zwei Gründe: zum einen haben Nikolova et al. (2007, S. 68) festgehalten, dass die Bildungspläne von Baden-Württemberg eine „Vorreiterrolle“ einnahmen, da in ihnen „bereits 2004 versucht wurde, die genannte Output-Orientierung auf Lehrplanebene umzusetzen“. Im Gegensatz zu den bis dahin gängigen Input-Ansätzen wurden hier auch für den Religionsunterricht „Kompetenzen beschrieben, die im Unterricht erworben werden sollen“ (ebd.). Vor allem in der Weiterentwicklung der Bildungspläne von 2016 sollte somit ein hoher Grad an theoretischer Professionalität erkennbar sein. Des Weiteren ist Baden-Württemberg die Region, in der ich momentan selbst geographisch verankert bin und die Bildungspläne sind diejenigen, auf deren Grundlage ich Lehramtsstudierende ausbilden soll.

Habitusirritationen im Religions-/Ethikunterricht?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass interreligiöse Kompetenz in allen Fächern in irgendeiner Form verankert ist, jedoch unter verschiedenen Bezeichnungen. Für den islamischen Religionsunterricht wird es „Dialog- und Sozialkompetenz“, für den evangelischen „Dialogfähigkeit“, für den katholischen „Kommunizieren“, und für den Ethikunterricht „Argumentieren und Reflektieren“ genannt.

Dieser Kompetenzbereich leitet sich direkt aus einer der Leitperspektiven der Bildungspläne ab: die der Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt. Diese Perspektive sieht vor, dass „der konstruktive Umgang mit Vielfalt“ jeglicher Art, inklusive der religiösen und weltanschaulichen, erlernt werden soll. Respekt und gegenseitige Achtung soll „gefördert“ werden und dies auf der Grundlage der „Menschenwürde“, des „christlichen Menschenbildes“ und der „staatlichen Verfassung“. Eingeübt werden soll das Ganze in der Schule als einem „Ort von Toleranz und Weltoffenheit“, der es jungen Menschen ermöglichen soll, sich frei artikulieren zu können. Die Erfahrung, die sich für die Schülerinnen und Schüler daraus ergeben soll, ist laut Bildungsplan, dass „Vielfalt gesellschaftliche Realität ist und die Identität anderer keine Bedrohung der eigenen Identität bedeutet“. Ganz explizit wird erwähnt, dass diese Leitperspektive auf „die Fähigkeit der Gesellschaft zum interkulturellen und interreligiösen Dialog und zum dialogorientierten, friedlichen Umgang mit unterschiedlichen Positionen bzw. Konflikten in internationalen Zusammenhängen“ abziele und sich als „Erziehung zum Umgang mit Vielfalt verstehe“.

Die Prinzipien dieser Leitperspektive spiegeln sich in der Dialogkompetenz in den hier untersuchten Unterrichtsfächern wider. Inhaltlich geht es dabei um ähnliche Aspekte. Für die drei Religionen gehört dazu, sich in Andersdenkende „hineinversetzen“ zu können, bzw. die „Perspektive“ eines anderen einnehmen zu können. Für den Ethikunterricht wird dies so explizit nicht gefordert, doch auch hier sollen Schülerinnen und Schüler „Standpunkte und Entscheidungen nachvollziehen“ können.

Des Weiteren gehört hier zum „Dialog“, dass man die jeweils eigene Position vertreten und mit anderen vergleichen kann, bzw. Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennen oder Argumente zueinander in Beziehung setzen kann.

Schließlich zählen der evangelische und der katholische Religionsunterricht zur Dialogkompetenz, dass die Schülerinnen und Schüler „Kriterien für einen konstruktiven interreligiösen Diskurs“ benennen oder entwickeln können. Im islamischen Religionsunterricht wird dies so ausgedrückt, dass Schülerinnen und Schüler „argumentierend in Dialog treten“ und „Konflikte konstruktiv austragen“ können sollen. Für den Ethikunterricht steht das Argumentieren im Vordergrund und die Lernenden sollen „in kommunikativ-argumentativen Kontexten (beispielsweise Rollenspiele, Szenarien, Fallbeispiele, Diskussionen) Position beziehen und gemeinsam neue Lösungsansätze entwerfen und vertreten“ können.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in allen vier Fächern ähnliche Vorstellungen von interreligiöser Kompetenz widerspiegeln. Sie reflektieren den Konsens, den Willems (2011, S. 114) bei den meisten Wissenschaftlern ausmacht: interreligiöses Lernen beinhalte die Klärung der eigenen Position, die Aneignung religionskundlicher Grundkenntnisse, die Erlangung hermeneutischer Fähigkeiten, den Wandel von Einstellung, und den konkreten Umgang mit Angehörigen anderer Religionen. Letzterer Aspekt soll im Weiteren noch genauer unter die Lupe genommen werden. In den bisher dargestellten Kompetenz-Kategorien scheint ein starker Fokus auf kognitive und kommunikative Strategien zu liegen. Wenn wir uns am sogenannten „Berliner Modell“ religiöser Kompetenz (Willems, 2011, S. 127) orientieren, so fällt auf, dass von den beiden darin vorgesehenen Teilkompetenzen Deutungskompetenz und Partizipationskompetenz v.a. erstere berücksichtigt zu werden scheint. Nichtsdestotrotz sollen Schülerinnen und Schüler die Sekundarstufe I in Baden-Württemberg mit der Fähigkeit oder Disposition verlassen, sich angesichts des Religionsplurals in der baden-württembergischen Gesellschaft angemessen verhalten zu können.

Wenn wir diese Ziele im Moment kritiklos stehen lassen, stellt sich des Weiteren die, für mich hier zentrale, Frage, wie der Weg dorthin vorgesehen ist. Bevor ich mir zur Beantwortung dieser Frage die Bildungspläne genauer ansehe, soll an dieser Stelle der konfessionell-kooperative Religionsunterricht kurz als ein Modell angesprochen werden, das genau auf die hier diskutierte Dialog- bzw. Pluralitätsfähigkeit bzw. den Weg dorthin abzielt (Kuld et al., 2009, S. 206–207). Obwohl dieses Modell der Kooperation im evangelischen und im katholischen Religionsunterricht in Baden-Württemberg vielerorts offensichtlich mit einigem Erfolg implementiert wird, wurde auch deutlich, „dass der bisherigen Form der Kooperation im Religionsunterricht Einschränkungen und Begrenzungen innewohnen, die in Zukunft zur Diskussion gestellt und wo möglich überschritten werden müssen“ (Kuld et al., 2009, S. 208). Diese Probleme umfassen zum einen die Tatsache, dass es bisher „an einer ausgearbeiteten Didaktik für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht“ fehlt (ebd.). Zum anderen gehört dazu auch das Problem des Umfangs von Pluralität – wie viele Konfessionen und Religionsgemeinschaften können hierin eingeschlossen werden, damit der Unterricht weiterhin sinnvoll und praktikabel bleibt? Dieses Modell, bei dem evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler zumindest zeitweise gemeinsam in Religion unterrichtet werden, entspräche ansatzweise der Theorie Bourdieus, stößt jedoch aus pragmatischen Gründen an Grenzen. Aus muslimischer Sicht ist ein solches Modell nach Bernlocher (2013) ebenfalls denkbar und wünschenswert.

Ein weiteres Modell, das versucht, Konfessionsgrenzen zu durchbrechen, ist der „Religionsunterricht für alle“ in Hamburg. Die Studie von Hecker (2008) deutet in diesem Kontext an, dass zumindest von muslimischen Schülerinnen und Schülern (10.–13. Klasse), die an diesem Unterricht teilnehmen, trotz eines relativ hohen Niveaus von Dialogkompetenz „Scheindialoge“ moniert wurden (Hecker, 2008, S. 122). Ein „Scheindialog“ ist ein Dialog, der „als Vorwand dient, um die Position des Gesprächspartners anzugreifen oder dem Anderen die eigene Position aufzudrängen“ (ebd.). Mit anderen Worten, scheint der gemeinsame Religionsunterricht in Hamburg erhöhte Möglichkeiten gemeinsamen Voneinander-Lernens zu bieten, jedoch ist für muslimische Schülerinnen und Schüler „Dialog“ allein offensichtlich unzureichend und weiterhin mit Missverständnissen behaftet (Hecker, 2008, S. 124–125).

Vom konfessionell-kooperativen Religionsunterricht und dem Religionsunterricht für alle einmal abgesehen, möchte ich mich nun der Frage zuwenden, ob die in den baden-württembergischen Bildungsplänen dargelegten Ziele des konfessionellen Religionsunterrichts auf die Art und Weise erreicht werden können, die im Bildungsplan vorgesehen ist? Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir jeweils die Kategorie „Religionen und Weltanschauungen“ (in den drei Religionsfächern) und „Glauben und Ethos“ (Ethik) für die Klassen 5/6 (außer Ethik), dann 7/8/9, und schließlich 10 vorgenommen. Ich will hier von der „Messung“ dieser Fähigkeiten, Kompetenzen oder Dispositionen Abstand nehmen, da dies erst einen nachgeordneten Schritt darstellt. Ich möchte vielmehr die Bildungspläne v.a. durch die „Brille“ Bourdieus anschauen und überprüfen, inwieweit sie in der Lage wären, seinen Anforderungen an eine Herausbildung von Dispositionen oder Kompetenzen gerecht zu werden. Um in sein Habitus-Konzept zu passen, müssten die Fähigkeiten vor allem durch tägliche und alltägliche Praxis eingeübt werden, damit sich interreligiöse Kompetenz als Disposition des Habitus entwickeln kann. Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Schülerinnen und Schüler mit eher monoreligiösen und -kulturellen Habitus im Unterricht „ankommen“ (was auch noch zu hinterfragen ist), müsste diesen im Unterricht entgegengewirkt werden. Es müsste für Habitusirritationen oder „ciritical incidents“, oder zumindest für „Überschneidungssituationen“ gesorgt werden, aufgrund derer ein neuer, interreligiöser Habitus – oder eine neue Kompetenz – entwickelt werden kann.

Eine erste Gelegenheit, solche Voraussetzungen zu schaffen, besteht in den Klassen 5 und 6 in allen drei Religionsfächern. Im Bereich „Religionen und Weltanschauungen“ geht es hier darum, die anderen monotheistischen Religionen kennenzulernen, d.h. für alle das Judentum, für Christen den Islam und für Muslime das Christentum. Dabei sollen Ausdrucksformen der anderen Religionen, deren Feste, Rituale, Orte, benannt, beschrieben oder sich damit auseinandergesetzt werden können. Auf die Rolle der hier verwandten Operatoren gehe ich später noch einmal ein. Dieser Bereich ist weitgehend als ein „Lernen über“ definiert.

In der evangelischen Religionslehre sind nur drei Teilkompetenzen definiert: Schülerinnen und Schüler sollen jeweils die religiöse Praxis in Christentum, Islam und Judentum benennen können, also den Umgang mit der jeweils heiligen Schrift, die Bedeutung von Gebäuden, Festen, Riten und Bräuchen. Im katholischen Religionsunterricht ist der Bereich in sechs Teilkompetenzen untergliedert und beinhaltet das Beschreiben von Festen, Versammlungsorten, Ritualen und Feiertagen (wie Sabbat) in Judentum und Islam, das Benennen der Bedeutung der Religionsstifter Mose, Jesus und Muhammad und das Beschreiben von respektvollem Umgang mit Menschen anderer Religionen. Darüber hinaus sollen die Schülerinnen und Schüler einen Fragebogen entwickeln für ein Gespräch mit jüdischen und muslimischen Gläubigen. Im islamischen Religionsunterricht werden in diesem Bereich acht Teilkompetenzen angestrebt: neben dem Beschreiben von Ausdrucksformen jüdischen und christlichen Glaubens, der Entstehungsgeschichte der jeweils heiligen Schriften und der Stellung der Religionsstifter sollen die Schülerinnen und Schüler zuerst den Religionsplural in ihrem eigenen Umfeld sowie weltweit wahrnehmen und darlegen können. Darüber hinaus soll „Respekt gegenüber dem anderen“, „z.B. im Dialog“, sowie „tolerantes Miteinander mit Angehörigen anderer Weltanschauungen“ eingeübt werden, „z.B. im Alltag, gemeinsame interreligiöse und nicht religiöse Feiern, Erkundung christlicher (auch karitativer) Einrichtungen“.

Natürlich ist es den jeweiligen Lehrkräften überlassen, wie sie diese Leitlinien in der Praxis umsetzen wollen – und dabei existiert sicherlich eine große Bandbreite von Praktiken und Erfahrungen –, es ist jedoch interessant festzuhalten, dass die Kompetenzentwicklung im Bereich der „Religionen und Weltanschauungen“ offensichtlich sehr wenig praktisch orientiert ist. Dieser praktische Aspekt scheint – zumindest auf dem Papier – am stärksten im islamischen Religionsunterricht ausgeprägt zu sein, während er im Bildungsplan für den evangelischen Religionsunterricht gar nicht angesprochen wird. Die Möglichkeiten zur Habitusirritation und zur Entwicklung neuer (interreligiöser) Dispositionen durch eine persönliche Begegnung mit „dem Anderen“ ist am relativ häufigsten in der islamischen Religionslehre gegeben, da hier die Bildungspläne explizit zur Einübung von Respekt und einem Dialog mit anderen (Kl. 5/6 Religionen und Weltanschauungen) aufrufen, zum gemeinsamen Feiern interreligiöser Feste oder zum Besuch christlicher Organisationen (ebd.). Die Möglichkeit zur Habitusirritation besteht auch darin, wie die Bildungspläne vorsehen, dass Aktivitäten mit anderen Religionsmitgliedern durchgeführt werden sollen (Kl. 7/8/9 Religionen und Weltanschauungen).

Für die Klassen 7/8/9, für die nun auch Ethik herangezogen werden kann, geht es wieder um „andere Religionen“ und deren ambivalente Wirkungen in der Weltgeschichte sowie um Vorurteile und Verständigung. In der evangelischen Religionslehre werden wiederum nur zwei Teilkompetenzen formuliert: Strömungen innerhalb einer ausgewählten Religion sollen beschrieben, sowie Kriterien für ein Gespräch mit Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen benannt werden können. Im katholischen Religionsunterricht sollen neben Religionskunde (abrahamitische Religionen) die Rolle von Vorurteilen in interreligiösen Konflikten gezeigt und Voraussetzungen für einen gelingenden Dialog zwischen den abrahamitischen Religionen skizziert werden können. In der islamischen Religionslehre geht es erneut darum, Christentum und Judentum besser kennenzulernen durch ein Aufzeigen der Glaubensaussagen und Geschichte des Judentums, v.a. von Juden in Deutschland. Des Weiteren sollen eigene Vorurteile gegenüber Judentum und Christentum erläutert werden, anhand „konkreter Beispiele“ dargelegt werden, „wie das friedliche Miteinander und der respektvolle interreligiöse Dialog gelingen kann“ und schließlich „Aktivitäten mit den anderen Religionen insbesondere in christlichen und jüdischen Einrichtungen beschrieben werden“. Von den Schülerinnen und Schülern wird erwartet, dass sie „altersgemäße Formen des Dialogs“ erarbeiten und „diese in offener und respektvoller Weise mit Vertretern der anderen Religionen einüben“. Darüber hinaus wird gefordert, dass sie mit Vertretern anderer Weltanschauungen „gemeinsam Aktivitäten gestalten“.

Auch im Ethikunterricht geht es um die monotheistischen Weltreligionen. Sie sollen als kulturelles Phänomen dargestellt und sich damit auseinandergesetzt werden, der „Stellenwert des Glaubens“ für das Leben der Gläubigen soll wiedergegeben werden sowie die „Achtung des Glaubens Anderer als grundlegendes ethisches Prinzip untersucht und diskutiert werden“.

Auch in diesen Klassenstufen bleibt festzuhalten, dass den Schülerinnen und Schülern kaum Möglichkeiten geboten werden, die interreligiösen Dispositionen ihres Habitus praktisch weiterzuentwickeln. Im katholischen und islamischen Religionsunterricht bietet die Thematisierung von Vorurteilen den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, sich des habituellen Denkens bewusst zu werden. Für die angestrebte Dialogfähigkeit wird in der katholischen Religionslehre zumindest durch die Bedingung „gelingend“ ein Praxisbezug hergestellt, da der Dialog auf „Erfolg“ geprüft werden muss, was eine Begegnung mit religiös „Anderen“ einschließen könnte. Allein im islamischen Religionsunterricht werden „konkrete Beispiele“ für einen Dialog gefordert, eventuell durch persönliche Begegnungen, und es werden Aktivitäten mit anderen Religionen erwartet. Bourdieu folgend, wäre lediglich hier ein tatsächliches Lernen interreligiöser Kompetenz möglich. Der „Glauben und Ethos“ Bereich im Ethikunterricht ist generell analytischer angelegt, da sich die Schülerinnen und Schüler mit Themen „auseinandersetzen“ sollen, sie „untersuchen“, „bewerten“ oder „diskutieren“ sollen, der konkrete Praxisbezug zum Dialog mit weltanschaulich „Anderen“ fehlt jedoch. Es kann jedoch argumentiert werden, dass die Teilnehmer am Ethikunterricht sehr heterogen bezüglich ihrer Weltanschauungen sind und somit der Praxisbezug im Klassenzimmer bereits vorhanden ist. Die meisten praktizierenden Christen und viele Muslime wären davon jedoch vermutlich ausgeschlossen, da sie ihren jeweiligen Religionsunterricht besuchen. Folglich wäre eine Habitusirritation im Ethikunterricht selbst auch nur begrenzt möglich.

In Klasse 10 schließlich geht es um fernöstliche Religionen, um religiöse (manchmal lebensfeindliche) Sondergemeinschaften, um Toleranz und im Ethikunterricht um den ethischen Gehalt von Religionen. Im evangelischen Religionsunterricht wird dies lediglich mit einer Auseinandersetzung mit religiösen Gruppen aus dem regionalen Umfeld gleichgesetzt, die nicht weiter spezifiziert wird. In der katholischen und islamischen Religionslehre stehen die Beschreibung von Hinduismus und Buddhismus auf dem Plan sowie die Gefährdungen durch religiöse Sondergemeinschaften und die Bedeutung von Religion für die persönliche Identität. Im islamischen Religionsunterricht sollen die Schülerinnen und Schüler „in Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen kommen und im Dialog ihre eigenen Glaubensüberzeugungen vertreten, wobei sie Toleranz, Verständnis und respektvollen Umgang mit anderen Religionen und Weltanschauungen festigen“. Sie werden aufgefordert ihre „eigene Erfahrung“ mit Dialog und Toleranz darzulegen und ihre Vorurteile anderen Religionen gegenüber zu formulieren. Damit wären also ebenso Voraussetzungen geschaffen, die nach Bourdieus Modell ein Entwickeln von interreligiösen Dispositionen erst möglich machen. Für den Ethikunterricht gilt das eben bereits Erwähnte. Vor allem die „Goldene Regel“ soll bei verschiedenen Religionen herausgearbeitet, verglichen und diskutiert werden. Als letzte Teilkompetenz soll zu einem „religiös bedingten Konflikt im Alltag Stellung“ genommen werden und „vorgegebene Handlungsmöglichkeiten zur Lösung dieses Problems auf der Grundlage von Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Verantwortung“ geprüft werden. Ob dieses „Prüfen“ in einer Praxissituation stattfindet oder auf dem Papier ist nicht klar, wobei ersteres wieder eine gute Gelegenheit böte, eine interreligiöse oder interkulturelle Disposition zu formieren.

An dieser Stelle sei noch eine Bemerkung zu den verwendeten Operatoren in den Bildungsplänen 2016 angeführt. Natürlich unterscheiden sie sich auch im Religionsunterricht je nach Niveaustufe und ich habe mich in der obigen Diskussion meist auf die Erläuterungen in der Grund-Stufe bezogen. Man denke sich also für die anderen Stufen anstelle des erwähnten „beschreiben“ vielleicht „untersuchen“ oder „auslegen“. Obwohl dies für die Kompetenzentwicklung bzw. -bewertung tatsächlich wichtige Konsequenzen hat, ist es für meine Argumentation hier von untergeordneter Bedeutung, denn selbst das „interpretieren“, „reflektieren“ oder „sich auseinandersetzen“ des erweiterten Niveaus schließt meist keine Begegnung mit dem „Anderen“ ein, worauf es mir hier vor allem ankam. Demnach ist selbst in der in den Bildungsplänen als höchstes Kompetenzniveau eingestuften E-Stufe kaum ein Praxisbezug vorhanden. Meines Erachtens müssten neue Operatoren aus empirischen Studien hervorgehen, die ich in einem späteren Schritt geplant habe. In diesem Bereich ist offenbar noch viel Entwicklungsarbeit nötig, da, wie Willems (2011, S. 176) festgestellt hat, ein Entwicklungsmodell interreligiöser Kompetenz bisher immer noch fehlt. Auch Schweitzer et al. (2018, S. 15) weisen darauf hin, dass die Diskussion um interreligiöse Kompetenz bisher „noch fast vollständig von theoretischen Entwürfen bestimmt“ ist und dass empirische Unterrichtsstudien fehlen. Dementsprechend betonen sie, „dass keineswegs automatisch davon ausgegangen werden darf, dass die mit dem interreligiösen Lernen verbundenen Ziele im Unterricht tatsächlich erreicht werden (ebd.). In ihrer empirischen Studie an Berufsschulen wurden die Lerneffekte in drei Kategorien eingeteilt: religionsbezogenes Wissen, religionsbezogene Perspektivenübernahme und religionsbezogene Einstellungen (Schweitzer et al., 2018, S. 133). Während religionsbezogenes Wissen nach Unterrichtseinheiten über „Islamic Banking“ und „Religionen und Gewalt“ stark anstieg, fielen die Befunde zur religionsbezogenen Perspektivenübernahme unterschiedlich aus und bei den Einstellungen ergaben sich gar keine Effekte (Schweitzer et al., 2018, S. 134). Ausgehend von meiner hier dargelegten Argumentation sind solche Ergebnisse zu erwarten.

Zusammenfassend lässt sich also an dieser Stelle festhalten, dass in den Bildungsplänen 2016 für Baden-Württemberg in den weltanschaulichen Fächern zwar interreligiöse, Dialog- oder Kommunikationskompetenz als Ziele festgeschrieben und sogar als Leitperspektive formuliert wurden, dass aber zumindest in dem Bereich, von dem das Erlangen solcher Kompetenzen vielleicht am ehesten erwartet werden könnte – der Teilbereich „Religionen und Weltanschauungen“ im Religionsunterricht – kaum praktische Möglichkeiten geschaffen werden, diese Ziele auch tatsächlich zu erreichen.

Am stärksten ausgeprägt sehen die Bildungspläne für den islamischen Religionsunterricht Möglichkeiten vor, Dialogkompetenz tatsächlich in situ, also mit dem religiös „Anderen“ einzuüben. Zu einem späteren Zeitpunkt möchte ich argumentieren, dass dies zu einem großen Teil auf die Minderheiten-Situation zurückzuführen ist, in der sich Muslime in Deutschland (sowohl numerisch als auch machtpolitisch) befinden. Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an baden-württembergischen Schulen ist, zumindest teilweise, das Ergebnis von politischem Willen. Kultusminister Andreas Stoch zeigte in einem Interview im Jahr 2015, „überzeugt davon, dass dieses Angebot zu einem friedvollen Miteinander der Religionen an den Schulen im Land beiträgt“ (Baden-Württemberg, 2015; meine Hervorhebung). Ein explizites Ziel des islamischen Religionsunterrichts, so Stoch, sei es „das Verständnis der Schülerinnen und Schüler für ihre eigene Religion, aber auch die ihrer christlichen Mitschüler“ zu stärken (ebd.; meine Hervorhebung). Ich bin mir einer ähnlichen (politisch motivierten und expliziten) Zielsetzung für den evangelischen, katholischen oder Ethik-Unterricht nicht bewusst. Mit anderen Worten, die Begegnung mit dem religiös „Anderen“ ist für den islamischen Religionsunterricht sowohl politisches Desiderat, als auch Ausdruck der gelebten Wirklichkeit als religiöse Minderheit. Interessanterweise ist dadurch ein Modell von Religionsunterricht entstanden, das, nach Bourdieu, am relativ besten geeignet ist, interreligiöse Dialogfähigkeit zu erlernen und in den Habitus der Schülerinnen und Schüler zu integrieren.

Fazit

Wenn Bourdieus Annahme korrekt ist, dass Dispositionen wie die interreligiöse über tägliche und alltägliche Praxis entstehen, dann ist das Erlangen einer Dialogkompetenz so wie es die Bildungspläne vorsehen von vornherein wenig erfolgsversprechend. Wenn er weiterhin Recht hat in der Annahme, dass Schülerinnen und Schüler schon mit relativ gefestigten Dispositionen in ihrem Habitus in die Schule kommen und wir weiterhin annehmen, dass die wenigsten von ihnen „von Haus aus“ eine interreligiöse Disposition mitbringen, dann müsste ein Unterricht, der es zum Ziel hat, interreligiöse oder Dialogkompetenzen zu entwickeln und zu fördern, Möglichkeiten zu Habitusirritationen schaffen, also Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler durch Begegnungen mit „dem Anderen“ herausgefordert werden, ihre herkömmlichen Dispositionen neu zu „formatieren“. In Anlehnung an das „Berliner Modell“ religiöser Kompetenz müsste also der Teilaspekt der Partizipationskompetenz stärker in der Entwicklung von Bildungsplänen berücksichtigt werden. In den Bildungsplänen von Baden-Württemberg für Religions- und Ethikunterricht ist dies bisher kaum vorgesehen. Meist ist „inter-religiöses“ Lernen als religionskundlich konzipiert. Es ist ein Lernen „über“ die „Anderen“, nicht „mit“ ihnen. Das einzige Fach, in dem interreligiöse Überschneidungssituationen und ein verstärkter Praxisbezug eingeplant sind, ist die islamische Religionslehre. Sie kommt damit Bourdieus Ideal vom leiblichen Lernen und dem Kompetenzmodell aus Berlin am nächsten. Trotzdem indiziert Bourdieus Theorie, dass ein noch stärkerer Leibesbezug von interreligiösem Lernen zu größeren Lernerfolgen führen würde.

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Julia Dröber, Juniorprofessorin für Islamische Theologie/Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg.

  1. Samaritaner sind eine kleine religiöse Gemeinschaft, die in zwei Gruppen von jeweils etwa 350 Personen lebt: eine in Nablus, eine in Holon, Israel. Sie betrachten ihre Religion als das „Ur-Judentum“, von dem sich das Judentum abgespalten habe. Für nähere Informationen siehe Droeber (2014).

  2. Abwertender Begriff, der im britischen Kontext oft zur Bezeichnung von Angehörigen der pakistanisch-stämmigen, muslimischen Minderheit verwendet wird.