1 Identitätskonstruktionen und religiöse Orientierungen

Der Prozess der jugendlichen Identitätskonstruktion kann konflikthaft ablaufen. Bereits in der klassischen Theorie der Identität nach Erikson (1973) und Marcia (1993) wird von Krisensituationen als Demarkationslinien der Identitätskonstruktion gesprochen. Dieser oftmals krisenhafter Konstruktionsprozess des aktiven Individuums wird in postmodernen Gesellschaften durch Wandlungsprozesse verstärkt, etwa durch globale Migrationsprozesse und ist gemäß Fürstenau und Niedrig (2007, S. 248) „ein Transformationsprozess, der im Kontext von Migration an Komplexität gewinnen kann […, insbesondere] dann, wenn die Jugendlichen ihre Sichtweisen und Lebenswürfe in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Deutungsmustern und Erfahrungen in den Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften der Migration entwickeln.“ Oftmals werden bei der Frage nach der Selbstverortung in einer auch durch Migrationsprozesse und die Globalisierung weltanschaulich heterogener werdenden Gesellschaft junge Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bezüglich ihrer Identitätskonstruktionen betrachtet. Fokussiert wird hierbei insbesondere von der Politik oftmals die Frage nach der Identifikation junger Migrantinnen und Migranten mit der Aufnahmegesellschaft, was als Lackmustest für die Anpassungsbereitschaft gewertet wird. Der Prozess der Identitätskonstruktion von jungen Menschen mit Migrationshintergrund oder -erfahrung wird gemäß den Autorinnen Fürstenau und Niedrig (2007) jedoch häufig fälschlicherweise als besonders konflikthaft dargestellt und zum Entscheidungsprozess zwischen den kulturellen Einstellungen und Lebensentwürfen der Herkunftsregion bzw. der Elterngeneration und denjenigen der Aufnahmegesellschaft hochstilisiert. Bereits Boos-Nünning (2011, S. 5) betont in ihrer Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung zur Wertehaltung von Migrant*innen, dass weder die Herkunftswerte und -kultur komplett weitergepflegt werden, noch diejenigen der Aufnahmegesellschaft vollständig übernommen werden, sondern „diese Werte in der jetzigen Elterngeneration einem Wandel [unterliegen]. Dieser bedeutet aber nicht die Anpassung an die Vorstellungen der einheimisch deutschen Familien, sondern schafft spezifische Werthaltungen.“ Diese Spezifika der Identitätskonstruktion fließen in das Konzept der hybriden Identitäten nach Hall (1994; 1999a; 1999b) ein, bei dem Elemente beider gesellschaftlichen Einstellungssets übernommen und zu einer eigenständigen Identität formiert werden. Die Identitätskonstruktionen junger Migrant*innen bzw. auch die damit verknüpften, emotional gefärbten Zugehörigkeitsdimensionen werden in Abschnitt 2 des Beitrags genauer betrachtet. Selten wird allerdings bisher die Rolle der Religion sowohl in objektivierter Form über die Religionszugehörigkeit als auch in subjektiver Hinsicht über die selbst eingeschätzte Stärke der Religiosität in ihrem Einfluss auf die Identitätskonstruktion betrachtet. Dies wäre jedoch deshalb von besonderem Interesse, da oftmals, wenn auch nur implizit geäußert, vor allem die Verortung junger muslimischer Zuwanderer*innen gesellschaftlich und politisch mit Sorge betrachtet wird. Es seien insbesondere Menschen islamischen Glaubens – so die oftmals geäußerte gesellschaftliche Vermutung –, die sich stark mit ihrem Glauben identifizieren, was – so die Unterstellung – zu einer geringeren Integrationsbereitschaft von Migrant*innen aus islamisch geprägten Kulturen in die christlich oder auch säkular geprägte Gesellschaft beitrage, da die Religion bei der Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft eine große Rolle spiele. Menschen islamischen Glaubens stufen sich häufiger als Christ*innen als hochreligiös ein (Bertelsmann Stiftung, 2008; Pickel, 2013; Pollack & Müller, 2013): Muslim*innen geben zu 90% an, (stark) religiös zu sein (Katholik*innen: 64% und Evangelische: 58%), was sich ebenso im Jugendbereich nachzeichnen lässt, etwa im LBS-Kinderbarometer, der World Vision Kinderstudien, den Shell Jugendstudien, der Studie ‚Was Migranten bewegt‘ und den Studien von Gennerich (2009; vgl. auch Zimmer & Stein, 2019; Kenar, Stein & Zimmer, 2020). Die Rolle der Religion für die Identitätskonstruktion stellt somit ein Forschungsdesiderat dar, das zu elaborieren Aufgabe des vorliegenden Beitrags ist.

2 Die Identitätskonstruktion als emotionale Dimension der Zugehörigkeit

Die emotionale Dimension, also das Zugehörigkeitsgefühl, spielt bei der Integration eine enorme Rolle (Esser, 2001; Esser, 2004; Heckmann, 2015). Dieses Gefühl bildet die Grundlage für die Konstituierung einer sozialen Identität, die sich auch auf das Aufnahmeland bezieht. Nach Tajfel (1982, S. 102) wird soziale Identität als derjenige Teil des Selbstkonzeptes verstanden, „der sich aus [… dem] Wissen um [… die] Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, die mit dieser Mitgliedschaft besetzt ist“. Jenkins (2008) betont, dass sich soziale Identität immer dialektisch aus Fremd- und Selbstzuschreibungen konstituiert. Laut Hall (1994, S. 208) ist die Lebenswelt der Menschen in besonderer Weise von mindestens immer zwei nationalen Kontexten geprägt, womit „alle modernen Nationalitäten […] kulturell hybrid“ seien (vgl. auch Hall, 1999a; 1999b). Nach Hall (1999a; 1999b) werden nationale kulturelle Identitäten im Zuge der Globalisierung zunehmend „zerstreut“. So verlieren Kulturen und Identitäten ihre Zentriertheit sowie Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Heckmann (2015) erstellt eine Typologie von Identifizierungsformen bei Menschen mit Migrationshintergrund, die sich am Ausmaß der Identifikation mit der Herkunfts- sowie der Aufnahmegesellschaft orientiert. Tab. 1: Typologie von Identifizierungsformen bei Menschen mit Migrationshintergrund (Heckmann, 2015, S. 197)

 

Identifizierung mit Aufnahmegesellschaft

Ja

Nein

Identifizierung mit Herkunftsgesellschaft oder ethnischer Kolonie

Ja

duale Identifizierung

ethnische Identifizierung

Nein

identifikative Assimilation

Marginalisierung

Diese Typologisierung Heckmanns wird in Studien zur Identitätsbildung junger Menschen unterschiedlichster Herkunft empirisch bestätigt bzw. erweitert. So unterscheidet Wießmeier (1999; 2000) in ihrer Studie zur Identitätsbildung von Kindern aus bikulturellen Beziehungen vier Typen binationaler Kinder und Jugendlicher in Anlehnung an ihre Identitätsmuster: die Bistabilen, die Grenzgänger*innen die Pragmatiker*innen sowie die Monokulturellen. Ähnliche Typen von bikulturellen jungen Frauen kristallisieren sich in der Forschung von Wenzler-Cremer (2007) heraus, nämlich Verwurzelte, Pendlerinnen, Sammlerinnen und Heimatlose. Die Bistabilen sowie Pragmatiker*innen (Wießmeier, 1999) und Pendlerinnen sowie Sammlerinnen (Wenzler-Cremer, 2007) bewegen sich mühelos in beiden Kulturen und entsprechen dem Konzept der dualen Identifizierung von Heckmann (2015). Der Unterschied zwischen den Pendlerinnen und Bistabilen bzw. Sammlerinnen liegt darin, dass Erstere ihre Identitäten je nach kulturellem Umfeld verändern und Zweitere beide Kulturen in ihre Identität integrieren. So wechseln die Pragmatiker*innen (Wießmeier, 1999) bzw. Pendler*innen (Wenzler-Cremer, 2007) ihre Identitäten bzw. ihre habituellen Gewohnheiten, wenn es notwendig ist, z.B. beim Besuch der Familien, die noch der Kultur der Herkunftsregion verbunden sind. Monokulturelle (Wießmeier, 1999) und Verwurzelte (Wenzler-Cremer, 2007) identifizieren sich lediglich mit einer Kultur im Sinne der identifikativen Assimilation oder ethnischen Identifizierung nach Heckmann (2015). Heimatlose (Wenzler-Cremer, 2007) sind in keiner der Kulturen verwurzelt und haben somit auch keine Möglichkeit, zwischen den Kulturen zu wechseln. Dieser Typus entspricht teilweise den Grenzgänger*innen nach Wießmeier (1999), die sich ebenfalls keiner Kultur zuordnen möchten bzw. zugehörig fühlen. Diese beiden Typen können der Identifizierungsform Marginalisierung nach Heckmann (2015) zugeordnet werden. Die vorgestellten Studien zeigen vor allem, dass die Typisierung der Personen mit dualer Identifizierung noch verfeinert und weiter erforscht werden sollte, um Stereotypisierungen zu vermeiden. Identitätsbildung junger Migrant*innen allgemein: Badawia (2006, S. 181) betont, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund einen kulturellen Wandel bzw. Prozess erleben und sich ein neues bzw. eigenständiges soziales und kulturelles Profil unter Inkludierung von Elementen der Herkunfts- wie der Aufnahmegesellschaft oder -kultur erschließen müssen, was er mit dem Begriff der „Zweiheimischkeit“ belegt. Ähnlich wie Fürstenau und Niedrig (2007) betont er weniger die Konflikthaftigkeit dieses Prozesses, sondern eher die damit verbundenen vielfältigen Chancen. Die Forschungen zur Identitätsfindung tragen vermehrt dazu bei, dass eine positive Verlagerung der Aufmerksamkeit „vom defizitären Bild des „zerrissenen, zwischen zwei Kulturen verzweifelt ohnmächtigen Menschen“ hin zu einer allmählichen, aber empirisch fundierten Aufwertung der Zwischenwelten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ stattfindet (Badawia, 2005, S. 212). In diesen Zwischenwelten konstruieren Menschen mit Migrationshintergrund innovative, hybride Identitäten, deren wichtigstes Merkmal die gleichzeitige Verbundenheit mit mehreren regionalen und nationalen Kontexten darstellt. Im Rahmen dieses Synthese- und Integrationsprozesses entstehen Ressourcen, wie z.B. Zweisprachigkeit oder mehrfache Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen, was vor allem durch den gewohnten Umgang mit Differenzen zu einer höheren Ambiguitätstoleranz führen kann (Badawia, 2006). Badawia (2006) beschreibt mehrere Portraits bikultureller junger Menschen, die jedoch auch in diesem Prozess scheitern können, denn das Aufwachsen in einem bikulturellen Umfeld stellt eine biographische Extraleistung in der Identitätsentwicklung dar, so dass Uslucan (2008, S. 51) von einer enormen Syntheseleistungen durch die ständige Konfrontation von mit einander oftmals konfligierenden „Ideen, Regelsystemen und Weltdeutungen“ spricht, die im Sinne eines Spagats zwischen Herkunfts- und Ankunftskultur miteinander verwoben in die eigene Weltdeutung integriert werden müssen. Tucci und Groh-Samberg (2008) unterstreichen in diesem Zusammenhang, dass die subjektive Zuordnung zum Aufnahme- und Herkunftsland im Sinne einer Synthese der Widersprüchlichkeiten oder einer Ausschließlichkeit notwendig und hilfreich ist, um mit den kulturellen Widersprüchen umgehen zu können. Identitätsbildung junger Migrant*innen in Abhängigkeit sozioökonomischer Aspekte und interethnischer Kontakte: Weiss (2007) stellt fest, dass niedrige Bildung der Eltern eher mit der Ausbildung einer herkunftslandspezifischen Identität verbunden ist. Diese sozioökonomische Dimension der Identitätsbildung wird auch in der Studie von Kmet und Bodi-Fernandez (2019) beleuchtet. Sie gehen in ihrer Studie der Frage nach, ob sich Menschen mit Migrationshintergrund eher dem Aufnahmeland (in diesem Fall Österreich) oder dem Land, aus dem sie bzw. ihre (Groß)Eltern stammen, zugehörig fühlen. Die Berechnungen von Kmet und Bodi-Fernandez (2019) zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund bildungsferner Eltern auch seltener Kontakte zu einheimischen Österreicher*innen und häufiger traditionelle Wertorientierungen haben. Die Autor*innen betonen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Kontakthäufigkeit zu Österreicher*innen und dem Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich besteht. Die Studie weist außerdem darauf hin, dass trotz des Zusammenhangs der Identitätskonstruktion mit sozioökonomischen Aspekten „eine Doppelidentität kein Elitenprojekt privilegierter und akademischer bzw. künstlerisch gebildeter Menschen [sein muss], sondern […] den Lebensrealitäten vieler Migrant_innen“ entspricht (Kmet & Bodi-Fernandez, 2019, S. 266). Jedoch zeigen die Autor*innen ebenfalls auf, dass ein ethnischer Herkunftseffekt zu finden ist, nämlich, „dass Befragte mit türkischem Migrationshintergrund deutlich häufiger (41%) ein Zugehörigkeitsgefühl (eher) zu ihrem Herkunftsland ausgeprägt haben als jene aus dem ehemaligen Jugoslawien (16%)“ (Kmet & Bodi-Fernandez, 2019, S. 266). Dieses Ergebnis wurde auch in der Studie ‚Viele Welten leben‘ von Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2006) offensichtlich, da sich auch hier türkeistämmige Befragte weniger stark mit der einheimisch-deutschen Kultur identifizierten als etwa Migrant*innen mit italienischen oder griechischen Wurzeln. Dieser Herkunftseffekt ist möglicherweise auch religiös überformt, da insbesondere muslimisch geprägte Migrant*innen weniger stark Identitätszugehörigkeiten zur Aufnahmekultur konstruieren. Dieser Effekt der Religionszugehörigkeit – und auch der Religiosität – ist bisher noch kaum erforscht und wird in der vorliegenden Studie herausgearbeitet.

3 Fragestellungen zum Zusammenhang zwischen Identitätskonstruktion, Religionszugehörigkeit, Religiosität und Freundschaften bei jungen Menschen

Basierend auf die bisherige Forschung zur jugendlichen Identitätsentwicklung und -konstruktion werden in Bezug auf die Zusammenhänge mit der Religionszugehörigkeit, der Religiosität und mono- und interreligiösen Freundschaften folgende Fragestellungen formuliert, die operationalisierbar sind und mit Hilfe empirischer quantitativer Forschung untersucht werden:

  1. Identitätskonstruktionen junger Erwachsener: Wie verorten sich junge Menschen in Deutschland in regionaler, nationaler sowie religiöser Hinsicht? Fühlen sie sich in ihrer Identität an Deutschland gebunden oder verorten sie sich eher in europäischer Hinsicht oder in Bezug auf ein anderes – auch außereuropäisches – Land? Wie stark fühlen sie sich an die Religion gebunden? Wie wird die Identitätskonstruktion über den Migrationshintergrund beeinflusst?

  2. Identitätskonstruktionen und Religionszugehörigkeit: Unterscheiden sich junge, religiös gebundene Menschen christlichen und muslimischen Glaubens sowie junge Konfessionslose in Deutschland hinsichtlich ihrer Selbstverortung in den Bereichen regionale, nationale sowie religiöse Selbstverortung? Bestehen Unterschiede bei der Identitätskonstruktion zwischen Christ*innen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen mit Migrationshintergrund?

  3. Identitätskonstruktionen und Stärke der Religiosität: Wie hängt die Selbstverortung in regionaler, nationaler und religiöser Hinsicht mit der Zentralität der Religion im Leben zusammen? Unterscheiden sich hochreligiöse von kaum oder weniger religiösen jungen Menschen? Bestehen hierbei Unterschiede zwischen hochreligiösen Christ*innen und hochreligiösen Muslim*innen?

  4. Identitätskonstruktionen und mono- und interreligiöse Freundschaften: Wird die – vor allem religiöse – Selbstverortung von Personen durch interreligiöse Freundschaften und Kontakte beeinflusst? Ist dieser Einfluss unterschiedlich, je nachdem, ob junge Christ*innen oder Muslim*innen rein mono- oder interreligiöse Freundschaften pflegen und unterscheidet sich der Einfluss der Freundschaften je nachdem, ob die Personen selbst ihren Glauben als wichtig einstufen und praktizieren?

4 Methodik der Studie

4.1 Fragebogenkonstruktion und Auswertungsschritte

Die vorgestellten Ergebnisse der Studie ‚Heterogenität in Erziehung und Unterricht‘ eruieren und illustrieren insbesondere den Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit, Religiosität, Migrationshintergrund, monoreligiösen und interreligiösen Freundschaftsbeziehungen und der Identitätskonstruktion junger Erwachsener. Der Fragebogen beinhaltet für die hier im Zentrum stehende Frage nach dem Zusammenhang der Identitätskonstruktion mit der Religionszugehörigkeit, der Religiosität, der ethnischen Herkunft bzw. Zuwanderungsgeschichte und interreligiös gepflegten Kontakten und Freundschaften Items in Anlehnung an die Skalen zur Religion nach Glock (1969), den Fragen zur Zuwanderungsgeschichte und zu Freundschaften nach Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2006) sowie Items zur Selbstverortung. Bei der Erfassung der religiösen Faktoren geht es in dieser Studie vor allem darum, die eigene subjektive Einschätzung der befragten Personen darzustellen, um zu untersuchen, ob die subjektive empfundene Zugehörigkeit zu einer Religion sowie die Stärke der Religiosität in Verbindung mit den Identitätskonstruktionen der jungen Menschen stehen. Auf eine Verwendung der Zentralitätsskala nach Huber (2003; 2004) wird hier verzichtet. Somit handelt es sich um eine von den befragten Personen empfundene Religiositätsstärke. Bei den im vorliegenden Beitrag untersuchten Fragen werden folgende Items in die Berechnung einbezogen: Tab. 2: Items aus dem Fragebogen zu den berücksichtigten Faktoren 

Identitätskonstruktionen

Inhalt: Erfragt wird die selbst erlebte Gruppenzugehörigkeit in regionaler, nationaler und religiöser Hinsicht.

Items:

Ich fühle mich als Angehörige*r meines Wohnortes.

Ich fühle mich als Deutsche*r.

Ich fühle mich als Mitglied eines anderen Landes.

Ich fühle mich als Europäer*in.

Ich fühle mich als Angehörige*r meiner Religion.

Antwortmöglichkeiten: Skalierung jeweils von 1 = ‚trifft gar nicht zu‘ bis 5 = ‚trifft voll und ganz zu‘

Religiöse Faktoren

Inhalt: Erfasst wird die Zugehörigkeit zu einer Religion sowie die Einschätzung der Stärke der eigenen Religiosität

Item: Welcher Religion gehörst du an?

Antwortmöglichkeiten: Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus, keiner Religion, Sonstiges

Item: Würdest du von dir sagen, dass du eher religiös oder nicht religiös bist?

Antwortmöglichkeiten: Skalierung jeweils von: 1 = ‚Ich bin gar nicht religiös.‘ bis 5 = ‚Ich bin sehr religiös.‘

Soziokulturelle Faktoren

Inhalt: Erfasst wird der Migrationshintergrund der Befragten sowie deren Eltern

Item: In welchem Land bist du geboren?

Antwortmöglichkeiten: In Deutschland, in einem anderen Land

Item: Wo sind deine Eltern geboren?

Antwortmöglichkeiten:

beide Eltern sind in Deutschland geboren und stammen aus deutschen Familien

beide Eltern sind in Deutschland geboren, mind. eine/r stammt aus einer zugewanderten Familie

ein Elternteil im Ausland geboren

beide Elternteile im Ausland geboren

Soziale Faktoren der Freundschaft

Inhalt: Erfasst werden inter- bzw. monoreligiöse Freundschaften anhand der Frage, ob die*der beste Freund*in der gleichen Religion angehört.

Item: Dein bester Freund/deine beste Freundin gehört der gleichen Religion an.

Antwortmöglichkeiten: ja, nein

Die Befragung erfolgte schriftlich und online; dabei wurden die Schulen (Gymnasien, Gesamt- und Berufsschulen) von den Forscher*innen persönlich aufgesucht. Zur Erhöhung der Validität wurde der Fragebogen mit Expert*innen diskutiert sowie ein Pretest (n=200) durchgeführt. Nach der Auswertung des Pretests wurde der Fragebogen modifiziert, indem einige Fragen ergänzt bzw. umformuliert oder entfernt wurden. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich vom 01.09.2017 bis zum 14.01.2018.

4.2 Stichprobendesign und Stichprobenbeschreibung

Die Grundgesamtheit der vorgestellten Studie sind alle Schüler*innen zwischen 18 und 25 Jahren im Schuljahr 2017/2018 in Niedersachsen. Laut dem Landesamt für Statistik Niedersachsen (2018a; 2018b) besuchten niedersachsenweit 2017/18 72.125 Schüler*innen den Sekundarbereich II und 266.884 Schüler*innen eine berufsbildende Schule. Die Aufnahme von Merkmalsträger*innen in die Stichprobe erfolgte anhand des Kriteriums der Freiwilligkeit, so dass die Stichprobe als Convenience-sample zwar gut Zusammenhangsmaße illustrieren kann, aber keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Bei der Erhebung wurden insgesamt 1090 18- bis 24-Jährige befragt, darunter 39,9% männliche und 59,9% weibliche Teilnehmende. 0,2% haben ein sonstiges Geschlecht. In dieser Erhebung gaben 68% der Befragten an, dem Christentum anzugehören. 15% haben keine Religionszugehörigkeit; 13% sind Angehörige des Islams. Die weiteren Befragten sind Angehörige sonstiger Religionen (4%). Insgesamt besteht die Stichprobe aus 15% Christ*innen mit Migrationshintergrund und 12% Muslim*innen mit Migrationshintergrund. Die Migrant*innen gehören überwiegend der 2. Einwanderergeneration an, bei der sie selbst bereits in Deutschland geboren und sozialisiert wurden, aber Eltern haben, die zugewanderten sind.  Abb. 1: Zuwanderungsgeschichte der Muslim*innen und Christ*innen mit Migrationshintergrund, in % Bei der genauen Betrachtung der Migrationshintergründe zeigt sich in Bezug auf die Kombination Migrationshintergrund und Religion, dass die Christ*innen mit Migrationshintergrund und die Muslim*innen mit Migrationshintergrund primär aus folgenden Ländern kommen:

  • Christ*innen mit Migrationshintergrund: überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion (Russland, Kasachstan) sowie Polen

  • Muslim*innen mit Migrationshintergrund: überwiegend aus der Türkei, Syrien, Afghanistan sowie dem ehemaligen Jugoslawien.

Tab. 3: Deskriptive Statistik Christ*innen und Muslim*innen mit Migrationshintergrund nach Herkunftsland und Generation (n=301), in % und absoluten Zahlen (in Klammern)

 

Türkei

Ehemalige Sowjetunion

EU (außer Deutschland)

Sonstiges (außer Deutschland)

1.    Generation

Christ*innen mit Migrationshintergrund (n=30)

0% (0)

43,3% (13)

30% (9)

26,7% (8)

Muslim*innen mit Migrationshintergrund (n=38)

60,5% (23)

2,6% (1)

2,6 (1)

34,2% (13)

2.    Generation (beide Eltern zugewandert)

Christ*innen mit Migrationshintergrund (n=52)

0% (0)

71,2% (37)

23,1% (12)

5,8% (3)

Muslim*innen mit Migrationshintergrund (n=67)

77,6% (52)

0% (0)

9% (6)

13,4% (9)

2. Generation (ein Elternteil zugewandert)

Christ*innen mit Migrationshintergrund (n=40)

0% (0)

15% (6)

55% (22)

30% (12)

Muslim*innen mit Migrationshintergrund (n=20)

90% (18)

0% (0)

10% (2)

0% (0)

In der Tabelle 3 sind die absoluten Zahlen zu den Herkunftsländern aufgeteilt nach Generationen und Religion dargestellt. Bei den Zusammenfassungen von Christ*innen mit Migrationshintergrund handelt es sich um folgende Länder:

  • Länder der ehemaligen Sowjetunion: Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Moldawien, Ukraine

  • EU-Länder: Österreich, Polen, Schweden, Spanien, England, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Ungarn, ehemaliges Jugoslawien

  • sonstige Länder: Bolivien, Indien, Columbien, Philippinen, Saudi-Arabien, Vietnam, Libanon, Mazedonien, Nicaragua, Nigeria, Sri Lanka, Süd Afrika, USA, Persien, Togo

Bei den Zusammenfassungen von Muslim*innen mit Migrationshintergrund handelt es sich um folgende Länder:

  • Länder der ehemaligen Sowjetunion: Russland

  • EU-Länder: England, ehemaliges Jugoslawien

  • sonstige Länder: Albanien, Afghanistan, Kuwait, Pakistan, Syrien, Tunesien, Algerien, Irak, Libanon, Marokko

5 Identitätskonstruktionen junger Erwachsener christlichen und islamischen Glaubens in Abhängigkeit der Stärke der Religiosität und interreligiöser Kontakte

5.1 Identitäten junger Erwachsener

An dieser Stelle werden für alle Befragten Items aus dem Themenblock zur Identitätskonstruktion betrachtet. Dieser Themenblock umfasst unterschiedliche Aspekte u.a. bezüglich der regionalen, nationalen und religiösen Selbstverortung. Abb. 2: Themenblock Selbstverortung junger Menschen, in % Die deskriptiven Ergebnisse in der Abbildung 2 zeigen, dass die befragten jungen Menschen zu 70,8% sowie zu einem fast genauso hohen Prozentsatz (70%) angeben, sich als Deutsche*r bzw. als Europäer*in zu fühlen. Etwa ein Drittel identifiziert sich eher bzw. stark mit der eigenen Religion und etwa die Hälfte mit der Region bzw. dem Wohnort. Etwa ein Fünftel fühlt sich mit einem anderen Land verbunden. Da die Identitätskonstruktion, wie literaturgestützt diskutiert (vgl. Abschnitt 1 und 2 in diesem Beitrag), hypothetisch wesentlich durch die eigene, elterliche oder großelterliche Migrationserfahrung geprägt sein dürfte, werden des Weiteren in Abbildung 2 die Identitätskonstruktionen in regionaler, nationaler, europäischer und religiöser Hinsicht in Bezug auf Personen mit divergierenden Migrationshintergründen betrachtet. Der Migrationshintergrund wird dabei sehr detailliert aufgeschlüsselt nach Elternteilen und sogar bis in die dritte Generation (Großeltern zugewandert) in seinem Zusammenhang mit der Identität betrachtet.   Abb. 3: Themenblock Selbstverortung nach Migrationshintergrund (Antwort: trifft eher zu/trifft voll und ganz zu), in % Bei der detaillierteren deskriptiven Analyse der Selbstverortungen (vgl. Abbildung 3) bestehen kaum Unterschiede im Antwortverhalten der jungen Menschen ohne Migrationshintergrund und mit Migrationshintergrund der 3. Generation, bei denen bereits auch schon die Eltern sozialisatorisch in Deutschland geprägt wurden. Beide Gruppen sind von der nationalen Bindung stark deutschland- bzw. europabezogen, auch wenn sich bei den Migrant*innen der dritten Generation zudem etwa ein Fünftel noch einem weiteren anderen Land (stark) zugehörig fühlt (vgl. auch zu den Zugehörigkeitsgefühlen Badawia, 2006; Boos-Nünning & Karakaşoğlu, 2006; Kmet & Bodi-Fernandez, 2019). Insgesamt sind die identitären Verortungen in regionaler und nationaler Hinsicht erwartungskonform, da sich junge Menschen dann umso stärker mit Deutschland identifizieren, je stärker sie selbst oder ihre (Groß)Eltern bereits dort sozialisiert wurden. An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass die Verortung als Europäer*in zusätzlich von dem Herkunftsland der eingewanderten Personen in Verbindung stehen könnte. In der Tabelle 3 wird deutlich, dass die Christ*innen mit Migrationshintergrund überwiegend aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie aus den EU-Ländern stammen. Bei den Muslim*innen mit Migrationshintergrund wird Türkei als Herkunftsland am meisten angegeben, sowie weitere Länder wie Albanien, Afghanistan, Kuwait, Pakistan, Syrien, Tunesien, Algerien, Irak, Libanon, Marokko. Der Bezug zur Religion ist hierbei etwas weniger erwartbar. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass vor allem junge Menschen der zweiten Generation (beide Eltern im Ausland geboren) häufiger als andere Gruppen angeben, sich als Angehörige der eigenen Religion zu fühlen.

5.2Identitätskonstruktion und Religionszugehörigkeit

Die Angehörigen der unterschiedlichen religiösen Gruppen identifizieren sich sehr unterschiedlich mit der Region, dem Land und der Religion. Gemäß den deskriptiven Ergebnissen in Abbildung 4 geben Muslim*innen öfters an, sich als Angehörige eines anderen Landes bzw. ihrer Religion zu fühlen. Interessant ist zudem zu sehen, dass sich 9% der Personen, die sich als konfessionslos bezeichnen, ebenfalls als Angehörige einer Religion ansehen und sich mit dieser identifizieren. Die Gründe hierfür können vielfältig sein, etwa, dass Personen, die aus einer der christlichen Kirchen ausgetreten sind, dennoch stark religiös orientiert sind, dieses aber unabhängig einer formalen Mitgliedschaft leben. In Abbildung 4 wird nun die Verortung in Abhängigkeit der religiösen Zugehörigkeit thematisiert.  Abb. 4: Themenblock Identitätskonstruktion nach Religionszugehörigkeit (Antwort: trifft eher zu/trifft voll und ganz zu), in % Auch die Korrelationen der Religionszugehörigkeit mit der Identitätskonstruktion in Zusammenhang sind je nach Religionszugehörigkeit unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Antwortmuster sind konträr: während sich Christ*innen überdurchschnittlich und hoch signifikant mit dem Wohnort, Deutschland und Europa identifizieren, sind gerade diese Aspekte bei den Muslim*innen unterdurchschnittlich ausgeprägt, wohin gehend diese sich stark und hoch signifikant mit einem anderen Land und ihrer Religion identifizieren (vgl. Tabelle 4). Tab. 3: Korrelative Zusammenhänge r zwischen Religionszugehörigkeit und Identitätskonstruktion (*=p<.05; **=p<.01; ***=p<.001; n.s.= nicht signifikant)

 

 

Ich fühle mich als…

Christ*innen

Muslim*innen

Konfessionslose

Angehörige*r meines Wohnortes.

.195**

-.203**

-.064*

Deutsche*r.

.382**

-.524**

n.s.

Mitglied eines anderen Landes.

-.333**

.492**

n.s.

Europäer*in.

.198**

-.215**

n.s.

Angehörige*r meiner Religion.

n.s.

.281**

-.306**

Die deskriptiven Ergebnisse zeigen, dass die Religionszugehörigkeit zum Islam sowie auch der Migrationshintergrund junger Menschen häufiger dazu führt, dass die Befragten angeben, sich als Angehörige eines anderen Landes bzw. der eigenen Religion zu fühlen. Insbesondere die sehr divergierende Identifikation mit Deutschland bzw. Europa zwischen Christ*innen und Muslim*innen dürfte, so die Hypothesen, auch stark mit dem Migrationshintergrund konfundiert sein (siehe Abbildung 2), so dass nun nurmehr die christlichen und muslimischen Migrant*innen kontrastiert werden, um die Konfundierung zwischen Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund auszuschließen. Um eine vergleichbare Berechnungslage zu schaffen, werden in die Berechnungen lediglich junge Menschen mit Migrationshintergrund christlichen und muslimischen Glaubens einbezogen. Es wird analysiert, ob sich Christ*innen und Muslim*innen mit Migrationshintergrund ebenfalls ähnlich stark wie Christ*innen und Muslim*innen insgesamt bei den Selbstverortungen unterscheiden. Insgesamt besteht die Stichprobe aus 15% Christ*innen mit Migrationshintergrund (n=167) und 12% Muslim*innen mit Migrationshintergrund (n=134). Abbildung 5 weist auf den eigenständigen Einfluss der Religion hin, da sich eher die christlichen Migrant*innen mit der Wohnregion, Deutschland und Europa identifizieren, während sich die muslimischen Migrant*innen tendenziell stärker als die christlichen Migrant*innen einem anderen Land und ihrer Religion scheinbar zugehörig fühlen. Nur 13,5% der migrantischen Muslim*innen und auch nur etwa 13,3% der Muslim*innen insgesamt fühlen sich (tendenziell) als Deutsche, während dies für über 80% der Christ*innen und auch zu einem großen Anteil (64,6%) für die Christ*innen mit Migrationshintergrund zutrifft. Jedoch soll an dieser Stelle unterstrichen werden, dass an dieser Stelle der Einfluss des Herkunftslandes nicht berücksichtigt wird, da die Fallzahlen aufgeschlüsselt noch kleiner sein würden. Abb. 5: Themenblock Identitätskonstruktion nach Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit (Antwort: trifft eher zu/trifft voll und ganz zu), in % Insgesamt – wie auch hypothetisch auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen angenommen – unterscheiden sich Christ*innen und Muslim*innen bei der angegeben Selbstverortung sowohl in Bezug auf die nationale als auch regionale Dimension der Identitätskonstruktion. Dies belegt die große Rolle der Religionszugehörigkeit auch für die nationale Identitätskonstruktion, die unabhängig vom Migrationshintergrund wirkt. Tab. 4: Korrelative Zusammenhänge r zwischen Religionszugehörigkeit, Migrationshintergrund und Identitätskonstruktion (*=p<.05; **=p<.01; ***=p<.001; n.s.= nicht signifikant)

Ich fühle mich als….

Christ*innen mit Migrationshintergrund

(n=167)

Muslim*innen mit Migrationshintergrund

(n=134)

Angehörige*r meines Wohnortes.

n.s.

-.198**

Deutsche*r.

n.s.

-.519**

Mitglied eines anderen Landes.

.183**

.499**

Europäer*in.

n.s.

-.212**

Angehörige*r meiner Religion.

n.s.

.279**

So besteht zumeist keine Signifikanz bei den jungen Christ*innen mit Migrationshintergrund (vgl. Tabelle 5). Christ*innen mit Migrationshintergrund haben lediglich eine signifikante Korrelation bei der Antwort „Ich fühle mich als Mitglied eines anderen Landes.“ Muslim*innen geben hier häufiger an, sich als Mitglieder eines anderen Landes zu fühlen. Migrantisch geprägte Muslim*innen identifizieren sich zudem wesentlich weniger stark als migrantische Christ*innen mit Deutschland und Europa und stärker mit ihrer Religion, so dass also nicht der Migrationshintergrund, sondern die Religion ausschlaggebend für die identitäre Selbstverortung nicht nur in religiöser, sondern auch in nationaler Hinsicht sein dürfte. Hierfür ursächlich dürfte der geteilte religiöser Kulturraum bei den christlichen Migrant*innen mit der mehrheitlich christlich bzw. säkularen Aufnahmegesellschaft sein sowie auch der Migrationshintergrund als sogenannte Aussiedler*in, welche sich dem deutschen Kulturraum offenbar stärker zugehörig fühlen als die Nachfahren der sogenannten Gastarbeiterzuwander*innen muslimischen Glaubens. Die von den Daten angezeigte geringere Selbstzuordnung der Muslim*innen mit Migrationshintergrund als Europäer*in könnte zudem mit dem Herkunftsland der eingewanderten Personen im Bezug stehen. Die meisten Muslim*innen und ihre Eltern waren aus der Türkei eingewandert. Hierbei sind die meisten muslimischen Migrant*innen der hier betrachteten Stichprobe als Einwander*innen der zweiten Einwanderergeneration bereits während ihres ganzen Lebens in Deutschland sozialisiert worden. Dennoch ist die Identifikation mit dem Herkunftsland der Eltern oftmals größer als die Identifikation mit dem eigenen Geburtsland. Die Daten der Studie werden gegenwärtig im Hinblick auf die Verbindung zwischen dem Herkunftsland und der Selbstverortung derzeit noch vertiefter ausgewertet. Die Ergebnisse decken sich mit den Ergebnissen der Studien von Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2006) für Deutschland und Kmet und Bodi-Fernandez (2019) für Österreich, wonach diejenigen Zuwander*innen mit muslimischem Hintergrund sich insgesamt weniger stark mit Deutschland respektive Österreich und Europa identifizieren als die christlichen Zuwander*innen. Zudem fühlen sich migrantische Muslim*innen tendenziell stärker hinsichtlich ihrer Identität ihrer Herkunftskultur bzw. dem Herkunftsland und auch ihrer Religion verbunden.

5.3 Identitätskonstruktionund Stärke der Religiosität

Studien belegen die größere Religiosität von Muslim*innen (Gennerich, 2009; Zimmer & Stein, 2019), so dass hypothetisch davon ausgegangen werden kann, dass eventuell die stärkere religiöse Identitätskonstruktion der Muslim*innen teilweise über diese höhere Religiosität erklärt werden kann. Bei der deskriptiven Beschreibung zeigt sich, dass Muslim*innen häufiger angeben, (sehr) religiös zu sein (vgl. Abbildung 6).  Abb. 6: Religionszugehörigkeit und selbsteingeschätzte Religiosität bei jungen Migrant*innen Es erfolgt eine Analyse und ein Vergleich der Selbstverortung der hochreligiösen Christ*innen mit Migrationshintergrund mit hochreligiösen Muslim*innen mit Migrationshintergrund bzw. der wenig religiösen Christ*innen mit wenig religiösen Muslim*innen – ebenfalls jeweils mit Migrationshintergrund –, um auch hier die Konfundierung zwischen Religionszugehörigkeit und Religiosität aufzulösen und die Hypothese zu prüfen, ob es stärker die Religiosität als die Religionszugehörigkeit ist, die über die Stärke der religiösen Identifizierung mit der eigenen Religion entscheidet.  Abb. 7: Themenblock Identitätskonstruktion nach Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit und Stärke der Religiosität (Antwort: trifft eher zu/trifft voll und ganz zu), in % Die Abbildung 7 und die Korrelationsberechnungen (Tabelle 6) illustrieren ein differenziertes Bild zwischen hoch- und wenig religiösen Christ*innen und Muslim*innen mit Migrationshintergrund. Vor allem die nationale Identifikation mit Deutschland bzw. einem anderen Land sinkt bzw. steigt stark an, wenn sich junge Muslim*innen als hochreligiös begreifen. Hochreligiöse Muslim*innen mit Migrationshintergrund geben signifikant seltener als kaum oder wenig religiöse Muslim*innen mit Migrationshintergrund an, sich als Deutsche*r zu fühlen, während hochreligiöse Muslim*innen zudem signifikant häufiger angeben, sich als Angehörige*r eines anderen Landes zu fühlen. An dieser Stelle wird die Wirkung des Herkunftslandes nicht berücksichtigt, da die Fallzahlen keine zuverlässigen Ergebnisse an dieser Stelle liefern würden. Der Einfluss des Herkunftslandes sollte jedoch auf jeden Fall mitbedacht werden. Tab. 5: Korrelative Zusammenhänge r zwischen der Religionszugehörigkeit, den Migrationshintergrund, der selbsteingeschätzten Religiosität und der Identitätskonstruktion (*=p<.05; **=p<.01; ***=p<.001; n.s.= nicht signifikant)

 

 

 

 

Ich fühle mich als…

hochreligiöse

kaum/
wenig

hochreligiöse

kaum/ wenig

Christ*innen

Muslim*innen

mit Migrationshintergrund

Angehörige*r meines Wohnortes.

n.s.

n.s.

-.116**

n.s.

Deutsche*r.

n.s.

n.s.

-.420**

-.105**

Mitglied eines anderen Landes.

.088**

.104**

.436**

.091**

Europäer*in.

n.s.

n.s.

-.177**

n.s.

Angehörige*r meiner Religion.

.158**

-.137**

.302**

-.071*

Offenbar wird die Religion muslimischer Migrantengruppen eher mit der Herkunftskultur bzw. dem Herkunftsland in Zusammenhang gebracht, etwa der Türkei, mit dem man sich dann auch verbundener weiß als mit dem Aufnahmeland. Die Identitätskonstruktion – wie hypothetisch als Vermutung aufgeworfen – korreliert stark mit der Stärke der Religiosität. Je stärker religiös sich die Person unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit einschätzt, übt die Religiosität einen direktenund unmittelbaren Einfluss auf die Selbstverortung aus. Darüber hinaus wirkt die Stärke der Religiosität aber auch mittelbar darüber, dass junge Muslim*innen sich öfters als hochreligiös bezeichnen.

5.4 Identitätskonstruktionund mono- und interreligiöse Freundschaften

Im Weiteren wird analysiert, ob hochreligiöse Christ*innen und Muslim*innen mit Migrationshintergrund in Verbindung mit mono- und interreligiösen Freundschaften sich auch bei der Identitätskonstruktion von nicht bzw. kaum religiösen Christ*innen und Muslim*innen mit Migrationshintergrund unterscheiden, d.h. welchen Einfluss Freundschaften mit religiös anders verorteten Personen auf die Selbstverortung haben, auch in Interaktion mit der Religionszugehörigkeit, dem Migrationshintergrund und der selbst eingeschätzten Religiosität. Tab. 6: Korrelative Zusammenhänge r zwischen der Religionszugehörigkeit, dem Migrationshintergrund, der selbsteingeschätzten Religiosität, der mono- bzw. interreligiösen Freundschaft (beste*r Freund*in) und der Identitätskonstruktion (*=p<.05; **=p<.01; ***=p<.001; n.s.= nicht signifikant) 

Ich fühle mich als Angehörige*r meines Wohnortes.

Christ*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Muslim*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

-.138**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Ich fühle mich als Deutsche*r.

Christ*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Muslim*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

-.227**

monoreligiöse Freundschaft

-.341**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

-.096**

Ich fühle mich als Mitglied eines anderen Landes.

Christ*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

.087**

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

.097**

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Muslim*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

.230**

monoreligiöse Freundschaft

.360**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

.076*

Ich fühle mich als Europäer*in.

Christ*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Muslim*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

-.115**

monoreligiöse Freundschaft

-.130**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

n.s.

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Ich fühle mich als Angehörige*r meiner Religion.

Christ*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

.103**

monoreligiöse Freundschaft

.117**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

-.132**

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Muslim*innen mit
Migrationshintergrund

hochreligiös

interreligiöse Freundschaft

.177**

monoreligiöse Freundschaft

.236**

nicht religiös

interreligiöse Freundschaft

-.073*

monoreligiöse Freundschaft

n.s.

Die Berechnungen zeigen Korrelationen zwischen der angegebenen Selbstverortung sowie den interreligiösen Freundschaften (Tabelle 7). Auffällig ist hierbei, dass interreligiöse Freundschaften mit Christ*innen vor allem einen großen und eigenständigen Effekt auf die hochreligiösen Muslim*innen haben. So geben z.B. hochreligiöse Muslim*innen mit monoreligiöser bester Freundschaft signifikant häufiger als hochreligiöse Muslim*innen mit interethnischer Freundschaft an, sich nicht als Deutsche*r und auch nicht als Europäer*in zu fühlen. Zudem verstärken bei hochreligiösen Muslim*innen rein monoreligiöse Freundschaften die Identifikation mit einem anderen Land. Sie geben zudem häufiger als (hochreligiöse) Muslim*innen mit interreligiösen Freundschaften an, sich als Angehörige der eigenen Religion zu fühlen. Jedoch wird hier darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Berechnungen aufgrund der detaillierten Aufschlüsselung um ein kleines n handelt, so dass die Ergebnisse eher als Tendenzen zu lesen sind. Bei der Betrachtung, ob die zentralen Tendenzen zweier unabhängiger Stichproben verschieden sind, wird der Mann-Whitney-U-Test verwendet, denn die Voraussetzungen für einen t-Test für unabhängige Stichproben sind nicht erfüllt. Die Berechnungen zeigen signifikante Unterschiede bei zwei Verortungen, nämlich bei „Ich fühle mich als Angehörige*r meines Wohnortes“ sowie „Ich fühle mich als Mitglied eines anderen Landes“. Somit fühlen sich hochreligiöse Muslim*innen mit monoreligiösen Freundschaften (Median=3) seltener als Angehörige des eigenen Wohnortes als hochreligiöse Muslim*innen mit interreligiösen Freundschaften (Median=4, Mann-Whitney-U-Test: U=504,000, p=.012*). Die Effektstärke nach Cohen (1992) liegt bei r=.30 und entspricht einem mittleren Effekt. Dagegen fühlen sich hochreligiöse Muslim*innen mit monoreligiösen Freundschaften (Median=5) häufiger als Angehörige eines anderen Landes als hochreligiöse Muslim*innen mit interreligiösen Freundschaften (Median=4, Mann-Whitney-U-Test: U=516,500, p=.002**). Die Effektstärke nach Cohen (1992) liegt ebenfalls bei r=.30 und entspricht einem mittleren Effekt. Die Identitätskonstruktion – insbesondere bei der muslimischen Religionsgruppe – korreliert mit mono- bzw. interreligiösen Freundschaften. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Befragten großen Wert auf ihren Glauben legen, sich also als hochreligiös einstufen (vgl. Fragestellung 4). Auch Kmet und Bodi-Fernandez (2019) belegten den Zusammenhang von interethnischen bzw. interreligiösen Kontakten auf die Identitätskonstruktion von Migrant*innen. Da es sich in der vorgestellten Studie jedoch um eine Befragung zu einem Zeitpunkt handelte, kann an dieser Stelle keine Aussage darüber getroffen werden, ob Personen durch die Freundschaften beeinflusst sind (Sozialisationseffekt), oder ob Personen mit bestimmten starken Identifikationsmustern auch eher Freund*innen beispielsweise aus der eigenen Community wählen (Selektionseffekt) (vgl. Stein & Zimmer, 2020).

6 Zusammenfassung und Fazit

Junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenenalter fühlen sich zu einem hohen Prozentsatz von um die 70% als Deutsche*r. Etwa ein Fünftel fühlt sich einem anderen Land verbunden. Die Identifikation mit der Religion liegt bei einem Drittel. Diese Muster der nationalen und religiösen Identitätskonstruktionen divergieren in starkem Maße zwischen Angehörigen der unterschiedlichen religiöser Gruppen sowie in Abhängigkeit davon, als wie stark religiös sich eine Person selbst wahrnimmt und ob sie intensive Freundschaften rein in ihrer religiösen Community pflegt oder in Bezug auf Freundschaften interreligiös orientiert ist. Muslim*innen identifizieren sich wesentlich stärker als Christ*innen mit ihrer Religion und konstruieren ihre Identität stark in religiöser Hinsicht, was durch die höhere Religiosität von Muslim*innen im Gegensatz zu Christ*innen verstärkt wird. Weniger erwartungskonform ist die Tatsache, dass die Religionszugehörigkeit einen überaus starken Einfluss auch auf die Identifikation in nationaler Hinsicht hat. So fühlt sich nur eine Minderheit von etwa 13% der befragten Muslim*innen als Deutsche*r, jedoch zu zwei Drittel als Angehörige eines anderen Landes. Diese geringe Identifikation junger Muslim*innen mit Deutschland stimmt bedenklich, da es scheinbar nicht gelingt, Personen islamischen Glaubens Identifikationsmöglichkeit mit Deutschland bzw. Europa zu bieten. Dies ist nicht durch den Migrationshintergrund bedingt, sondern die Religionszugehörigkeit wirkt als eigenständiger Faktor auf die nationale Identität, da sich auch migrantische Christ*innen, wie Christ*innen allgemein überdurchschnittlich und hoch signifikant mit Deutschland und Europa identifizieren, während diese Identifikationsfolien bei Muslim*innen mit und ohne Migrationshintergrund unterdurchschnittlich präsent sind, wohin gehend diese sich stark und hoch signifikant eher mit dem Herkunftsland identifizieren. Diese Kluft zwischen Christ*innen und Muslim*innen in Bezug auf die nationale Verortung wird durch die Religiosität sowie die religiöse Community, in welcher freundschaftlicher Kontakt gepflegt wird, noch verstärkt. Hochreligiöse Muslim*innen mit Migrationshintergrund geben signifikant seltener als kaum oder wenig religiöse Muslim*innen mit Migrationshintergrund an, sich als Deutsche*r zu fühlen, während hochreligiöse Muslim*innen zudem signifikant häufiger angeben, sich als Angehörige*r eines anderen Landes zu fühlen. Offensichtlich wird von hochreligiösen Muslim*innen eine Kluft zwischen Muslimsein und Deutschsein gezeichnet, die für kaum oder weniger religiöse Muslim*innen in der Form nicht präsent ist. Offenbar wird Deutschland als christlich bzw. säkular geprägtes Land gesehen oder erlebt, welches wenig Identifikationsmöglichkeiten für junge hochreligiöse Muslim*innen bietet, während sich nicht religiös orientierte Muslim*innen eher mit Deutschland identifizieren können. Auffällig ist hierbei, dass interreligiöse Freundschaften mit Christ*innen vor allem einen großen und eigenständigen Effekt auf die hochreligiösen Muslim*innen haben, da hochreligiöse Muslim*innen in rein monoreligiösen Communities bzw. mit bester monoreligiös ausgerichteter Freundschaft signifikant häufiger als hochreligiöse Muslim*innen mit interethnischer Freundschaft angeben, sich weder als Deutsche*r noch als Europäer*in zu fühlen. Zudem verstärken bei hochreligiösen Muslim*innen rein monoreligiöse Freundschaften die Identifikation mit einem anderen Land. Was bedeuten diese Ergebnisse für die Gestaltung des interkulturellen und interreligiösen Zusammenlebens? Offensichtlich wird eine Identifikation mit Deutschland anhand der Aussage „Ich fühle mich als Deutsche*r“, die es zu bewerten galt, von den befragten Muslim*innen gleichgesetzt mit einer Identifikation mit dem ethnisch einheitlich gezeichneten Bild eines Einheimisch-Deutschen ohne Migrationshintergrund, der in einer der christlichen Kirchen beheimatet ist und sich an der sogenannten deutschen Leitkultur orientiert. Somit war eine Identifikation nur für eine kleine Minderheit von 13% möglich, auch wenn die meisten von ihnen bereits ihre gesamte Sozialisation in Deutschland durchliefen und das Zusammenleben in Deutschland wesentlich mitprägten. Insgesamt ist Deutschland stark heterogen geprägt und nicht auf eine einheitliche, einheimisch-deutsche Kultur zu reduzieren. So haben bei den unter 5-jährigen Kindern in Deutschland 40,4% einen Migrationshintergrund, wobei dieser Wert in den westdeutschen Großstädten bereits oftmals schon auf über 50% anstieg (Statistisches Bundesamt, 2020, Tabelle 1). Insbesondere wächst der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit muslimischer Religionszugehörigkeit. Auch diese Personen migrantischen und muslimischen Hintergrundes, die zum größten Teil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und in Deutschland sozialisiert wurden, prägen das Bild von Deutschland und machen ein wie auch immer geartetes oder verortetes „Deutschsein“ aus. Implikationen für die weitere wissenschaftliche Forschung An dieser Stelle wäre zu diskutieren, ob Typisierungen wie die von Heckmann, die klar zwischen einer Aufnahmegesellschaft bzw. -kultur und einer Herkunftsgesellschaft

oder -kultur unterscheiden, der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit mit vielfältigen ineinandergreifenden und einander beeinflussenden kulturellen Systemen innerhalb der Aufnahmegesellschaft – wie auch der Herkunftsgesellschaften – gerecht werden. Solche Typisierungen befördern unzulässig einen statischen Kulturbegriff, der die eine Kultur – etwa des Deutschseins – stets in Abgrenzung zum sogenannten Fremden, etwa der Identifikation mit einem anderen Land, zeichnen und definieren. Imhof (1994, S. 408) spricht in diesem Zusammenhang von „Semantiken der Fremd- und Eigentypisierung“, in welcher das Fremde dann gemäß Franke (2021) als bloße Kontrastfolie für die Definition und Abgrenzung fungiert. Hier wären neue Theoriekonzepte zu entwickeln, welche der kulturellen Wirklichkeit junger Menschen in der globalisierten Welt gerecht werden. In vertiefenden qualitativen Studien müsste zudem erfasst werden, was genau junge Muslim*innen unter dem Begriff des „Deutschseins“ fassen bzw. ob sie dieses automatisch mit einem primär christlich bzw. säkular geprägten Land in Zusammenhang bringen, ohne hierbei den Islam als eine zahlenmäßig wachsende Religionsgemeinschaft in Deutschland als Teil Deutschlands mitzudenken. Was genau über eine ethnische Verortung eine Verortung mit einem Land ansonsten ausmacht, wäre ebenfalls vertiefend qualitativ zu erheben, wie etwa die Identifikation mit einem politischen System etc. In zukünftigen Forschungen mitzufassen sind bei der Frage danach, warum sich muslimische junge Menschen wenig mit Deutschland identifizieren, auch erfahrene Ausgrenzungen und Abwertungen, etwa durch pauschalisierende Aussagen über die Religion des Islams (vgl. Halm & Sauer, 2017), die eventuell eine Identifikation erschweren. Implikationen für die Gestaltung der Gesellschaft Offenbar gelingt es nicht, auch religiös verorteten Menschen muslimischen Glaubens eine deutsche und gleichzeitig muslimische Identität in Deutschland anzubieten. Allgemein müsste neben einer Auffaltung einer Differenz zwischen einer Aufnahmekultur und einer Herkunftskultur ein dritter Weg im Sinne einer Melange unterschiedlichster kultureller Deutungs- und Handlungsmuster, die gleichberechtigt in einer Gesellschaft oder einem Land miteinander und auch ineinandergreifend existieren, als Identifikationsfolie angeboten werden. Hierzu gehört auch die Anerkennung verschiedener religiöser Deutungsmuster, die etwa im Zuge von Globalisierungs- oder Migrationsprozessen zunehmen, wie etwa die Religion des Islams, solange diese auf der Grundlage der Menschenrechte und -würde vertretbar sind. Einen ersten Schritt der Anerkennung bzw. damit auch der besseren Identifikationsmöglichkeit für Muslim*innen mit Deutschland stellt der Aufbau der Möglichkeit des islamischen Religionsunterrichts bzw. – etwa in Hamburg oder Brandenburg – die Einbeziehung des Islams in den lebenskundlichen oder religionskundlichen Unterricht dar, der in Übereinstimmung mit den Menschenrechten und Werten der Toleranz und Anerkennung unterrichtet wird.

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Prof.‘in Dr. Dr. Veronika Zimmer, Professorin für Soziale Arbeit, IU Internationale Hochschule, Fachbereich Sozialwissenschaften

Schwerpunkte: Kindheits- und Jugendforschung, Migration und Bildung, empirische Sozialforschung, Islamischer Religionsunterricht, Werte und Einstellungen von Lehrkräften, Erwachsenenbildung in der Einwanderungsgesellschaft Prof.‘in Dr. Margit Stein, seit 2010 Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Vechta, Fachbereich ErziehungswissenschaftenSchwerpunkte: Leben in ländlichen Bereichen, Werthaltungen, Engagement, Religiosität, empirische Sozialforschung, Migrationspädagogik, Kindheits- und Jugendforschung