1 Positionalität im Religionsunterricht durch die Lehrperson

Die Lehrer:innen stellen zwar nicht den einzigen, aber einen wesentlichen Faktor in Bezug auf Positionalität im Religionsunterricht dar. An den Suchbewegungen angehender Lehrkräfte im Referendariat lassen sich die damit verbundenen Herausforderungen analysieren, denn im Unterricht kann man sich in der Frage der Positionalität nicht nicht verhalten.

Der mit der Lehrkraft verbundenen Positionalität soll hier im ersten Schritt ausführlich nachgegangen werden. Im zweiten Schritt wird ein Überblick über die Frage der Positionalität im Religionsunterricht insgesamt gegeben. Dieser Überblick ist das unverändert übernommene Ergebnis der Göttinger Arbeitsgruppe „Lernende Religionslehrer:innenbildung“ (LRLB) mit Vertreter:innen aus allen Phasen der Religionslehrer:innenbildung unter dem Titel „Positionalität in der evangelischen Religionslehrer:innenbildung“. Er verdeutlicht die verschiedenen Facetten, die in der Positionalitätsfrage eine Rolle spielen, und stellt die Folie für die spezifischen Überlegungen zur Lehrperson (unter 1.) dar.

1.1 Aushandeln von Widersprüchen. Die moderierende Funktion der Lehrperson

Wie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit Positionen ergriffen und kommuniziert werden, wird gegenwärtig genau diagnostiziert (ganz aktuell: Habermas, 2022). Der Dramaturg und Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann schreibt in seiner Analyse öffentlicher Kommunikation: „Die alte, robuste Unterscheidung in privat und öffentlich, wie sie seit Kants Schrift zur Aufklärung immer wieder reaktiviert wird, ist mit den Massenmedien, wo jede intime Lebensregung unmittelbar öffentlich werden kann, kompliziert geworden. […] Ebenso vehement, wie Kant eine freie gelehrte Öffentlichkeit fordert, will er dem privaten Gebrauch der Vernunft strenge Grenzen setzen.

Privat ist der Gebrauch der Vernunft für ihn, wenn z.B. ein Lehrer vor seiner Schulklasse seine private Meinung unterrichtet. Eine solche private Meinungsäußerung lehnt Kant ab. Für ihn ist die Abhängigkeit des Lehrers von der Institution Schule wichtiger als die Freiheit seiner privaten Vernunft. Weil der Lehrer ein Angestellter der Schule ist, darf sie von ihm erwarten, dass er seinem Arbeitsverhältnis gemäß unterrichtet. Stellt der Lehrer seine private Meinung über diese öffentliche Funktion, so missbraucht er sie, und er muss in seiner privaten Meinungsäußerung eingeschränkt werden. Diese Unterscheidung findet bis heute Beachtung, wenn z.B. in Deutschland das Neutralitätsgebot und das Überwältigungsverbot für Lehrende gegenüber ihren Schülern gilt. Diese Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind nachvollziehbar, da gerade in einer Schulsituation ein Machtgefälle zwischen den Meinungen besteht. Der Lehrende spricht vor der Klasse eben nicht als Privatperson, sondern als Autorität, die im Extremfall ihre eigene Weltanschauung zum Maßstab der Prüfung machen könnte. Die Diskussion, ob heute Lehrende eine klare politische Haltung zeigen sollten, indem sie z.B. während der Unterrichtszeit zum Klimastreik aufrufen, trifft den Kern des Problems.“ (Stegemann, 2021, S. 35­-36).

Schon dieses allgemeine, nicht auf den Religionsunterricht abzielende Zitat Stegemanns zeigt, wie komplex die Sachlage der Positionierung ist. Stegemann konstatiert einen immer deutlicheren Verlust einerdeliberativen Öffentlichkeit und kritisiert in seinem Essay den identitätspolitischen Widerstreit in der Gesellschaft, der zunehmend an die Stelle des argumentativen Aushandelns von Widersprüchen getreten sei. Zugespitzt könnte man von einem Verfallen in zu starre Positionen sprechen. Stegemanns Einschätzungen sind im Kern berechtigt, ebenso wie Kants Begrenzung des privaten Vernunftgebrauchs. Der Schule wie auch dem Religionsunterricht im Speziellen kommen die Aufgabe und die Chance zu, verschiedene Wahrheitsansprüche und Positionen deutlich zu artikulieren, aber nicht durchzusetzen, sondern argumentativ aushandeln zu lassen. Dahinter steht die unerschütterliche Überzeugung, dass die Kommunikation selbst einen Gewinn bedeutet und die Akteure nicht unverändert lässt. Mit dieser professionellen Metaebene, auf der die Lehrperson unparteiisch moderierend zur breiten Partizipation im argumentativen Diskurs motiviert, ist bereits eine unhintergehbare erste Anforderung an die Lehrkraft beschrieben.

1.2 Die Bekenntnisbindung des Religionsunterrichts und die persönliche Haltung der Lehrperson

Nun kann man nicht gerade behaupten, im Religionsunterricht werde zu oft und unzulässigerweise von der privaten Vernunft Gebrauch gemacht. Im Gegenteil: Der immer lauter werdende Appell, Positionalität religionspädagogisch reflektiert auszubauen, kann als Reaktion auf einen überhandnehmenden distanziert-religionskundlichen Modus verstanden werden. Der empirische Befund der Tendenz zur Versachkundlichung (Englert, Hennecke & Kämmerling, 2014) ist bereits zum allgemeinen Begriff geworden. Der moderne Religionsunterricht leidet gegenwärtig nicht an einem Zuviel, sondern an einem Zuwenig von dem, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „konfessionelle Positivität und Gebundenheit“ und Geltendmachung von Glaubenssätzen als „bestehende Wahrheiten“ bezeichnet wird (BVerfGE 74, 1987, S. 244–256, zitiert nach Bauer, 2014, S. 234). Einen juristischen Begriff ungebrochen in den didaktischen Zusammenhang zu übertragen, ist natürlich schief. Insofern stellt sich der von der LRLB unter 2. formulierte Anspruch, „Lehrmeinungen“ oder „Praxen einer Konfessionskirche“ als „geltende Wahrheiten“ im Religionsunterricht einzubringen, mindestens heikel dar – zumal es Teil evangelischer Lehrmeinungen ist, kirchliche Lehrmeinungen stets mit Vorsicht zu genießen. Der Wahrheitsanspruch im Religionsunterricht hängt an der unverzichtbaren und ernsthaften Perspektive des etsi deus daretur, die einen anderen Charakter hat als eine bloße Hypothese. Über solche tentativen Bestimmungen hinaus ist der Wahrheitsbegriff auf didaktischer Ebene nicht eindeutig geklärt. Als Stachel gegen den distanziert-religionskundlichen Modus soll er aber im Folgenden beibehalten werden. Denn der Sache nach macht die Auseinandersetzung mit genau diesen bestehenden Wahrheiten den Religionsunterricht zum Religionsunterricht.

Die unter 1.1. skizzierte rollenkonforme Neutralität und die geltenden Wahrheiten als Proprium des Religionsunterrichts sind nun keineswegs zwei Pole eines Kontinuums, auf dem sich der „Schieberegler“ von neutral in Richtung Bekenntnisbindung verschieben ließe. Vielmehr sind Lehrkräfte gefordert, eine komplexe Doppelrolle zu füllen. Sie sind also zum einen verantwortlich dafür, positionell-konfessionelle Inhalte bzw. Lehrmeinungen in der Unterrichtsvorbereitung aufzuspüren und einzuspielen. Und zum anderen und zugleich sind sie übergeordnet Anwalt der Ergiebigkeit und Offenheit der sich daran entzündenden Auseinandersetzungen (geschicktes Moderieren). Während in einer Talkshow diese Rollen jedoch strikt getrennt sind, erfüllt die Lehrkraft beides in Personalunion.

Hinzu tritt eine dritte Anforderung. Denn die Religionslehrkraft ist zusätzlich Regisseurin ihres persönlichen Verhältnisses zur Sache. Damit ist die unter 1.1. skizzierte kantische Beschränkung des privaten Gebrauchs der Vernunft keineswegs aufgehoben. Solange jedoch der Religionsunterricht als Fach konzipiert ist, das an der Bekenntnisbindung der Lehrperson hängt, ist deren persönliches Verhältnis zu den von ihr selbst ins Spiel gebrachten Grundsätzen ihrer Religionsgemeinschaft, abweichend von anderen Schulfächern, konstitutiv. Die vozierten Religionslehrkräfte sollten sich zwar im Regelfall mit den in Materialien repräsentierten Wahrheiten identifizieren können. Allerdings unterscheidet sich ihre je eigene Perspektive notwendigerweise davon, weil es eben nicht ihre ipsissima vox ist, die ungebrochen im Unterricht erklingt, sondern exemplarisch ausgewählte, deutungsbedürftige Glaubenszeugnisse. Auch aufseiten der Schüler:innen ergibt sich so die Möglichkeit, die „eigene Stimme als Resonanz auf Impulse aus der christlichen Tradition zu erfahren.“ (Lorenzen, 2020, S. 342). Erst in diesem Zusammenspiel der Perspektiven kann gelernt werden, wie Religion funktioniert.

1.3 Rollenanforderungen tarieren lernen

Die Minimalanforderung an die Positionalität der Lehrperson ist demnach ein dreifacher Anspruch. Dass diese Dreifachrolle von angehenden Lehrkräften im Detail tariert werden muss und dass dafür keine Rezepte bereitstehen, versteht sich von selbst. Gerade Berufsanfänger:innen verfügen weder über Routinen der Impulsgebung (moderierende Funktion) noch über geübte Sicherheit in der Inszenierung religiöser Praxis oder religiöser Positionen (Einspielen der Wahrheit) und nur selten über bereits ausgereifte eigene Standortbestimmungen (persönliches Verhältnis zur Sache).

Das angemessene Tarieren lässt sich jedoch lernen. Im Unterricht treten die Wirkungen gelingender oder misslingender Positionalität zutage, zu deren Reflexion die individuelle Beratung einen Anstoß geben kann. Symptom einer Fehlform ist etwa – entgegen dem Systematiker und Sozialethiker Michael Roth – das Religionsstunden-Ich. Zwar kritisiert Roth zurecht überzogene Authentizitätsforderungen an die Schüler:innen und verweist auf das legitime Sich-Ausprobieren des lernenden Subjekts in seiner Rolle. Es gebe kein wahres Ich hinter den Rollen (Roth, 2018, S. 4-5). Die Erwägung aber, deshalb „das Religionsstunden-Ich zu stärken?“ (Roth, 2018, S. 8), verkennt die fehlgehende Positionalität. Wenn es ganz offensichtlich allein darum geht, Erwartungen zu bedienen, hat entweder der/die Schüler:in zu wenig von der Chance des Aushandelns verschiedener Wahrheitsansprüche verstanden oder die Lehrkraft hat Positionen, wie von der LRLB unter 2. formuliert, zu früh, zu autoritativ oder zu monolithisch zur Geltung gebracht und damit gegen die Prinzipien der öffentlichen Vernunft verstoßen. Ein Beispiel für gelingendes Tarieren der Positionalität dagegen liegt vor, wenn die Schüler:innen spontan, also didaktisch kaum vorhersehbar, nach der persönlichen Einschätzung der Lehrkraft fragen. Auch der perspektivische Wechsel im performanzorientierten Unterricht von Erprobungs- zu Reflexionsphasen lässt sich recht konkret daraufhin befragen, in welcher Weise die Lernenden das Agieren der Lehrkraft auffassen.

Das Einbringen der Positionalität durch die Lehrperson bleibt hochgradig kontextabhängig. Um ein hinreichend hohes Maß an Professionalität im Tarieren der drei oben genannten Rollenmuster zu erreichen, ist auch die Fähigkeit auszubilden, die jeweilige Zusammensetzung der Lerngruppe und das Alter der Lernenden als entscheidende Faktoren wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Selbst wenn eine Mehrheit der Schüler:innen Konfessionen mit Religionen verwechselt, mehrheitlich keiner Konfession angehört oder sich gar als atheistisch versteht, steht die Lehrkraft vor der beschriebenen Tarierungsaufgabe. Positionalität wird aber in anderer Form fruchtbar als in einem Milieu hoher konfessioneller Bindung und Sensibilität. Während dieselbe Lehrperson im einen Fall zeigen wollen wird, was Religion im Gegensatz zu nicht-religiösen Weltanschauungen ausmacht, bringt sie im anderen Fall ihre – etwa evangelische – Konfessionalität im Dialog mit anderen Konfessionen ins Spiel. Kurz gesagt: Der Grad der Alteritätszumutung muss der Kommunikationssituation angemessen sein.

1.4 Möglichkeiten und Grenzen von Transparenz

Wie lernt man, transparent zu unterrichten? Der Begriff der Transparenz ist ein allgemeinpädagogischer, der erst in jüngster Zeit theoretisch geklärt wird. In der Unterrichtspraxis gehört er dagegen schon lange zum Standard­inventar didaktischer Reflexion. Transparenz lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen entfalten: etwa im Hinblick auf Leistungsanforderungen oder Entscheidungsprozesse im System Schule. In Bezug auf die Positionalität im Religionsunterricht ist Transparenz auf der Ebene relevant, die der Pädagoge Hilbert Meyer als „Mikroebene der direkten Lehrer-Schülerinteraktion im alltäglichen Unterrichtsbetrieb“ bezeichnet (Meyer, 2016, S. 128).

In unserem Zusammenhang ist der Transparenzbegriff mit der Hoffnung verknüpft, dass sich die im Bemühen um Rollentarierung implizit aufkommenden Missverständnisse gleichsam explizit auflösen lassen. Wenn die Schüler:innen Absichten der Lehrperson mitgeteilt bekommen und mit zunehmendem Alter selbst Einsicht in die beschriebenen Balancierungen erhalten, werden sie – so die naheliegende Annahme – gegen Überwältigung und Willkür der Lehrkraft immun. Auch das Religionsstunden-Ich oder die zu blasse Standpunktgebundenheit des Religionsunterrichts ließen sich durch transparente, also in ihrem Status vollends markierte Positionalität, ausschalten. Diese Hoffnung ist zu einem guten Teil berechtigt. Verhalten sich Lehrpersonen etwa medialitätsbewusst und legen regelmäßig die Autorenschaft der von ihnen verwendeten Materialien und eingebrachten Perspektiven offen, wird einer Funktionalisierung von Positionen gewehrt. Betrifft die Transparenz nicht nur die Strukturierung von Inhalten und den Ablauf von Lehr-Lernprozessen, sondern auch die Begründungszusammenhänge, etwa den Zweck und den Anlass, aus denen bestimmte jüdisch-christliche Traditionen für den Unterricht ausgewählt wurden, sind beträchtliche Klärungen zu erwarten. Und insbesondere, wenn die Lehrperson ihre moderierende Funktion aufgibt, um ihr persönliches Verhältnis zur Sache zu verdeutlichen, sollte dieser Rollenwechsel durchsichtig sein. Wohldosierte, reflektierte Transparenz eröffnet zweifellos die Möglichkeit, Dekodierungsfehler zu reduzieren und die freie Erkundung der eigenen Identität der Schüler:innen zu fördern.

Neben den unbestrittenen Erträgen transparenter Positionalität hat der transparente Unterricht aber auch deutliche Grenzen. In der pädagogischen Fachdebatte werden diese Grenzen vor allem im Blick auf die Schüler:innen gezogen. Meyer etwa spricht vom „ethischen Kode der Transparenz“ und verteidigt das Recht der Schüler:innen, „Beteiligungsmotive zu verheimlichen.“ Es solle so viel Transparenz über den geplanten Unterricht hergestellt werden, dass „die Lehrpersonen mit ihren Schülern ein belastbares Arbeitsbündnis eingehen können.“ (Meyer, 2016, S. 131). Ein Zuviel an Transparenz bezeichnet Meyer völlig zurecht als „invasive Durchleuchtung“ (Meyer, 2016, S. 131). Dasselbe ist aber auch für Lehrende in Anspruch zu nehmen: „Das Unterrichtsgeschehen soll für die Schülerinnen und Schüler berechenbar sein, aber sie müssen sich nicht fortwährend outen. Das gilt ebenso für die Lehrpersonen.“ (Meyer, 2016, S. 129). Aus religionspädagogischer Sicht sind diese Erkenntnisse doppelt wichtig. Denn die permanente, lückenlose Offenlegung eigener Positionen der Lehrkraft würde nicht nur eine maßlose Überforderung darstellen, sondern ebenfalls alle Potenziale verspielen, die in einer – begrenzten – Unbestimmtheit liegen.

Auch Transparenz ist also notwendigerweise ein Balanceakt. Fast alle Berufsanfänger:innen lernen im ersten Ausbildungsabschnitt, die Struktur ihres Unterrichts bewusst zu vermitteln. An Gelenkstellen des Unterrichts die Begründungszusammenhänge und die Positionalität transparent zu machen, ist anspruchsvoller. Aber auch ein ungünstiger Überschuss an Transparenz wird bisweilen sichtbar, wenn etwa die didaktische Fachsprache in der Kommunikation mit den Schüler:innen Einzug hält: „Auf diese Weise wird ein Probehandeln für euch möglich.“, „Setzt euch bitte mit diesem kognitiven Konflikt auseinander.“ oder „Ich habe verschiedene Materialien ausgelegt, um eurer Heterogenität gerecht zu werden.“

Wie lernt man, transparent zu unterrichten? Auch für das jeweils situativ richtige Maß an Information gibt es keine Rezepte. Transparenz steht mit Beziehung und Vertrauen in engem Zusammenhang (Moegling & Schude 2016, S. 11), und zwar auf reziproke Weise. Wer seine Position und vor allem seine Intentionen kenntlich macht, erzeugt Vertrauen. Und umgekehrt macht der Vertrauensvorschuss, den Lehrende sich erwerben oder von vornherein von ihren Schüler:innen erhalten, lückenlose Transparenz verzichtbar: „In diesem Sinne müssten schulische Akteure auch einen gewissen Vertrauensvorschuss, z.B. Lehrpersonen im Sinne des professionellen Status der pädagogischen Freiheit, haben, der es ihnen ermöglicht, auch ohne ständigen Anspruch auf komplette Transparenz und Kontrolle agieren zu können. Hier dürfte es dann eher um die Möglichkeit zur Transparenz gehen und nicht um den ‚gläsernen Lehrer‘ oder den ‚gläsernen‘ Schüler, die ja auch immer bedroht sind, über ihre Durchsichtigkeit in einem organisatorischen Zusammenhang wesentliche Anteile ihrer Subjektivität einzubüßen sowie anfällig für eine übergriffige Fremdkontrolle zu sein. Anderseits – so muss dann auch wieder entgegnet werden –, geht es ebenso darum, undurchschaubare ‚institutionelle Fürstentümer‘ in den Schulen, den Studienseminaren, den schulischen Unterstützungssystemen oder den universitären Fachbereichen zu verhindern. Hieraus lässt sich schließen, dass es wohl immer um eine Balanceleistung zwischen der Forderung nach absoluter Transparenz und einem eigenen Spielraum, der von der ständigen Offenlegung im Sinne transparenter Kontrolle befreit ist, gehen dürfte.(Meyer, 2016, S. 137).

2 Positionalität in der evangelischen Religionslehrer:innenbildung

Der folgende Text wurde 2018/19 erarbeitet und zum Abdruck von der Arbeitsgruppe „Lernende Religionslehrer/innen-Bildung“ Göttingen freigegeben, wofür ich herzlich danke: Florian Dinger (Studienrat Gesamtschule), Moritz Emmelmann (wiss. Mitarbeiter), Natascha Frickenhelm-Herreira (Referendariat), Simon Kluge (Studium), Dr. Johannes Kubik (Fachberater), Christhard Löber (Studienrat Gymnasium und Praktikumsbegleitung), Rainer Merkel (Fachleiter), Prof. Dr. Bernd Schröder (Lehrstuhl für Religionspädagogik) und Thorsten-Wilhelm Wiegmann (Beauftragter für Kirche und Schule). Anpassungen erfolgten in gendergerechter Sprache.

Positionalität kann durch die Inhalte (Traditionen, Positionen, Phänomene), die Schüler:innen und die Lehrer:innen in den Religionsunterricht Eingang finden.

Nach Lage der Dinge kann evangelische Positionalität im heutigen Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG vor allem über die Lehrkraft zum Tragen kommen. Die Schüler:innen gehören hingegen immer häufiger verschiedenen Religionsgemeinschaften oder auch keiner Religionsgemeinschaft an; selbst im Falle einer religiösen Bindung bringen sie sehr unterschiedliche Kenntnisstände, Erfahrungen und Loyalitäten mit. Die Inhalte sind zwar überwiegend christlich-theologischer oder spezifisch evangelischer Provenienz, können aber auch problemorientierter oder religionskundlicher Natur sein. Ihre Auswahl im Sinne des evangelischen Religionsunterrichts liegt in der Verantwortung der Lehrkraft.

Zu den Schüler:innen

Schüler:innen sind positionell – nur womöglich ist ihnen ihre Position in religiösen Fragen nicht bewusst oder sie ist „in der Schwebe“, jedenfalls nicht in erster Linie ausgerichtet an „Konfessionen“ und „Konfessionskirchen“. Ihre Positionalität ist zudem – entwicklungsbedingt – in stärkerem Maße veränderlich.

Die Zusammensetzung und das Alter der Lerngruppe bestimmen mit, wie und wieviel Positionalität die Religionslehrer:innen einbringen sollen und können.

Religionsunterricht dient dazu, Schüler:innen ihre individuelle Positionalität bewusst zu machen und sie in Auseinandersetzung mit tradierten Positionen und deren Begründung im Blick auf religiöse Fragen / Themen / Thesen weiterzuentwickeln.

Zu den Inhalten

Angesichts der Heterogenität vieler Lerngruppen und der unterschiedlichen Diskurse, die der Religionsunterricht pflegt – das Gespräch zwischen Konfessionen, zwischen Religionen und zwischen Weltanschauungen – geht es häufig zunächst um das Einspielen einer religiösen oder christlichen Perspektive.

So wichtig und angemessen das ist, sollte in Unterrichtseinheiten des Religionsunterrichts nach Art. 7.3 GG in der Regel ein evangelischer Gegenstand, eine evangelische Vorgehensweise, z.B. der historisch-kritische Rekurs auf biblische Texte, und / oder (!) eine evangelische Sichtweise in das Unterrichtsgeschehen eingebracht werden. Und eben dies sollte nach Möglichkeit auch als solches durchsichtig gemacht werden.

Idealerweise kommen solche „konfessionellen“ Inhalte zur Sprache, die von den Lehrenden als tragfähig erachtet werden, damit sich an ihnen der Streit um die Auslegung der Wirklichkeit entzünden kann.

Zu den Religionslehrer:innen

Der Sache nach ist die Positionalität von Lehrkräften ein komplexes Phänomen: Sie umschließt

  1. das Einbringen positionell-konfessioneller Inhalte, Medien, Zielsetzungen und/oder Methoden,

  2. das sachbezogene, kriteriengeleitete, als solches transparente Urteilen,

  3. das Einbringen (und Geltendmachen) der Lehrmeinungen bzw. theologisch begründeten Praxen einer Konfessionskirche als „geltende Wahrheiten“,

  4. das Zum-Ausdruck-Bringen einer i) rollenkonformen bzw. ii) persönlichen Einschätzung der Lehrkraft. Letzteres ist nicht der Regelfall, sondern eine seltene, didaktisch kaum vorsehbare, aber sachlich unaufgebbare Ausdrucksform von Positionalität.

Das Einbringen von Positionalität in den Unterricht setzt voraus,

  • die eigene Position wahrzunehmen (ggf. im Unterschied zu derjenigen von Kolleg:innen oder Schüler:innen) und eine „positive Grundeinstellung“ gegenüber Religion, christlichem Glauben und Kirche zu pflegen (bzw. aufzubauen),

  • bei der Unterrichtsvorbereitung (1) auf etwaige spezifisch evangelische Gegenstände (z.B. eine Person evangelischer Konfession), Vorgehensweisen (z.B. einen ‚kritisch symbolkundlichen‘ Zugriff auf das Symbol „Weg“) und eine bzw. mehrere evangelische Sichtweisen auf den Gegenstand (z.B. Positionen evangelischer Ethiker im Umgang mit einer Sachfrage) aufmerksam zu werden und sie als solche zu erkennen,

  • bei der Unterrichtsvorbereitung (2) den „konfessionellen“ Schwerpunkt (Gegenstand, Vorgehensweise, Sichtweise) in Orientierung an den Schüler:innen zu setzen, also den Grad der Alteritätszumutung zu reflektieren und lernwirksam anzupassen,

  • die eigene Position zu ‚relativieren‘, d.h. den eigenen Wahrheitsanspruch nicht zu verleugnen, ihn aber „einzuklammern“ in die Einsicht, dass „deus semper maior“ (als unser endliches Verstehen) ist.

Zum unterrichtlichen Umgang mit Positionalität

Die Positionalität der Religionslehrer:innen soll nicht so (früh, autoritativ oder monolithisch) eingebracht werden, dass sie die Richtung des Lernprozesses präjudiziert. Das Einbringen von Positionalität soll nicht zur Ausbildung oder Stabilisierung eines sog. „Religionsstunden-Ich“ beitragen.

Positionen – auch diejenigen, die von Lehrenden für tragfähig gehalten werden – sind im Unterricht immer als diskutabel und strittig zu behandeln. Schüler:innen müssen sie hinterfragen und kritisch verwerfen oder aneignen können.

Die Position der Schüler:innen darf nicht Gegenstand der Bewertung werden; sehr wohl aber kann und soll Unterricht ihre Fähigkeit herausfordern, fördern und bewerten, sach- und fachgerecht begründete, eigene Urteile zu treffen.

Zu den Aufgaben der Lehrer:innenbildung im Blick auf Positionalität

Die Fähigkeit, im Sinne dieser Erwägungen Position zu beziehen, ist eine Schlüsselkompetenz von Religionslehrer:innen1– eine Kompetenz, die im Religionsunterricht wohl so bedeutsam ist wie in keinem anderen Fach, und dennoch eine Kompetenz, die andere Kompetenzen, etwa didaktisch-methodische oder fachliche, nicht ersetzt, sondern voraussetzt.

Im Rahmen der Lehrer:innenbildung ist diese Fähigkeit durch vier Szenarien anzuregen und zu fördern, die – wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten – sowohl im Studium als auch im Referendariat Berücksichtigung finden sollten.

Studium

Referendariat

Arbeit am „Ethos“ der Positionalität von Religionslehrer:innen

Klärung, was „Positionalität“ meint; Auseinandersetzung mit der Berufsrolle und den Erwartungen von Kirche bzw. Theologie speziell an Religionslehrer:innen; Ermutigung, an der eigenen Fähigkeit zur Positionalität zu feilen – dies in dem Bewusstsein, sich auch öffentlichkeitswirksam zu christlicher Tradition verhalten können zu sollen.

Arbeit am „religionspädagogischen Selbstkonzept“ von Religionslehrer:innen

Aufbau einer eigenen Haltung in Auseinandersetzung mit religionsdidaktischen Positionen (Überführung in „subjektive Theorien“); Reflexion christlich geprägter Wertvorstellungen / Verhaltensweisen (zum Beispiel Umgang mit (Minder-)Leistungen; Beratung von Schüler:innen); Reflexion des beruflichen Selbstkonzepts vor dem Hintergrund der eigenen Religiosität (Habitus); Mitgestaltung der eigenen Ausbildung durch Übernahme von Gesprächsleitung im Seminar und in Unterrichtsnachbesprechungen

Arbeit an der sachlichen Präzision, der methodischen Herleitung und der Qualität von Begründungen der eigenen Position angesichts theologischer Themen

Exemplarische Erarbeitung einer eigenen Position zu ausgewählten theologischen und religionspädagogischen Themen; Aneignung eines Instruments zur Erarbeitung von Urteilen, etwa der ‚ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung nach H.E. Tödt (adaptiert bei B. Schröder: RP, Tü 2012, 274-276; Verfahrensschritte: 1. Identifikation des Positionierungsbedarfs, 2. Situationsanalyse, 3. Entwicklung von Positionierungsoptionen, 4. Kritische Prüfung anhand religionspädagogischer Grundsätze, 5. Klärung der Verallgemeinerbarkeit; 6. Entscheid); Habitualisierung systematischer Urteilsbildung

Förderung der Fähigkeit zur lernwirksamen Inszenierung evangelischer Positionen und religiöser Praxis (Unterrichtsplanung)

Diagnostik der religiösen Einstellungen und des Entwicklungsstandes der Schüler:innen; Auswahl von Inhalten unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen; Erweiterung sowohl der Kenntnis religiös relevanter Materialien und Medien als auch des religiösen Medialitätsbewusstseins (kirchliche und individuelle Positionen, Einordnung ins religiöse Spektrum, sachliche/tendenziöse Darstellung); theologiegeleitete Vertiefung (Anleitung zur fach- und sachgerechten persönlichen Stellungnahme).

Förderung der eigenen Kommunikationsfähigkeit im Streit der Positionen in schulischen Lernarrangements

Raum geben für methodische Arrangements, in denen Positionierung gefragt und gefördert wird: Diskussion, Rezension, Rollenspiel u.ä.m.; Inszenierung typischer Anforderungssituationen, die in der schulischen Arbeit Positionierung verlangen, etwa der Abschluss einer UE zum Thema „Gibt es Gott?“ oder die Schülerfrage „Was ist Ihre Meinung?“

Förderung der professionellen Kommunikation der eigenen Positionalität wie der der Positionalität der Schüler:innen (Unterrichtsdurchführung)

Pädagogisch verantwortliche Gestaltung des Rollen-verhaltens und der Lernprozessbegleitung (provozierende oder richtungweisende Impulse); respektvoller Umgang mit abweichenden religiösen Überzeugungen; Förderung kommunikativer Offenheit mit Raum für persönliche Äußerungen im Umgang mit religiösen Inhalten; theologisch reflektierte Nutzung von Schüler:innen-Beiträgen.

Förderung und Bewährung der eigenen Positionierungsfähigkeit in ‚realen‘ Begegnungen mit theologisch, konfessionell oder religiös Andersdenkenden

Begehung von Moscheegemeinden u.ä., Exkursionen in religiös geprägte Kulturräume, Einladung anders-konfessioneller oder -religiöser Expert:innen; methodischer Anstoß zur rückblickenden Reflexion auf die Begegnung und die eigene Positionierung; Übernahme von Gesprächsleitung oder Dialog durch Studierende; Würdigung der eigenen, aktiven Beiträge zum Dialog und ihrer Wirkungen auf Gesprächspartner.

Förderung und Bewährung der eigenen Positionierungsfähigkeit im Schulleben und in der Öffentlichkeit

Religion am Lernort Schule außerunterrichtlich wahrnehmen und vertreten (Schulgottesdienste, religiöse Feiern, Seelsorge, Exkursionen, Kommunikation im Kollegium und in der Begegnung mit Eltern); exemplarische Begegnungen mit Partnern und Experten außerhalb des Studienseminars.

Literaturverzeichnis

Bauer, J. (2014). Die Weiterentwicklung des Hamburger Religionsunterrichts in der Diskussion zwischen Verfassungsrecht und Schulpädagogik. ZevKR, 59(3/4), S.227-256.

Englert, R., Hennecke, E. & Kämmerling, M. (2014). Innenansichten des Religionsunterrichts, Fallbeispiele. Analysen. Konsequenzen. München: Kösel.

Habermas, J. (2022). Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Lorenzen, S. (2020). Entscheidung als Zielhorizont des Religionsunterrichts? Religiöse Positionierungsprozesse aus der Perspektive junger Erwachsener (Praktische Theologie heute 174). Stuttgart: Kohlhammer.

Meyer, H. (2016) „Der kleine Schuss Anarchie, der viele Entwicklungsprojekte durchzieht, ist kein Malheur“. Ein E-Mail-Interview zum Thema ,Transparenz in Unterricht und Schule'. In K. Moegling & S. Schude (Hrsg.), Transparenz im Unterricht und in der Schule. Teil 1: Theorie und Praxis transparenten Unterrichts und transparenter Schulorganisation (S. 127-143). Immenhausen: Prolog-Verlag.

Moegling, K. & Schude, S. (2016). Transparenz im Unterricht und in der Schule – eine problemorientierte Einführung. In K. Moegling & S. Schude (Hrsg.), Transparenz im Unterricht und in der Schule. Teil 1: Theorie und Praxis transparenten Unterrichts und transparenter Schulorganisation (S. 10-37). Immenhausen: Prolog-Verlag.

Roth, M. (2018). Das Religionsstunden-Ich. URL: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200389/ [Zugriff: 10.09.2022].

Stegemann, B. (2021). Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Sonderausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

StD Rainer Merkel, Fachleiter für ev. Religion am Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Göttingen. 

  1. Vgl. Teilkompetenz 1 in „Theologisch-Religionspädagogische Kompetenz“ (EKD-Texte 96), Hannover 2008, S. 28.