1. Für eine gewinnbringende Reflexion der Frage nach dem Verhältnis von Religions- und Ethik- bzw. Philosophieunterricht ist die Offenlegung der eigenen Sprechposition unabdingbar. Nur so kann internalisierten Normalitätsvorstellungen und Vulnerabilitätserfahrungen auf die Spur gekommen werden. Das ist deswegen so wichtig, weil gerade bei diesem Thema die Frage danach im Raum steht, welche Setzungen und Erfahrungen das eigene Denken prägen. Dazu gehören immer auch Machtfragen, die in der Vergangenheit und Gegenwart prägend waren bzw. sind. Eine besondere Bedeutung kommt aller Wahrscheinlichkeit nach den institutionellen Verankerungen von Religions- und Ethik- bzw. Philosophiedidaktik sowie der von ihnen reflektierten Unterrichte zu. Die dabei vorfindlichen Strukturen sind nicht „unschuldig“. Eine reflektierte Verhältnisbestimmung braucht eine Offenlegung der jeweils leitenden Motive. Wichtige Fragen dafür wären: Was motiviert uns? Welche Vorstellungen vom Verhältnis der Fächer zueinander leitet uns? Welche Ziele verfolgen wir?

2. Gerade im didaktischen Geschäft kommt man an Normalitätssetzungen nicht vorbei. Nur mit ihnen ist es möglich, Ziele, Inhalte und Methoden unterrichtlichen Handeln innerhalb vorfindlicher Strukturen zu bestimmen. Am „Gegenstand“ Religion entzünden sich zudem weitere Fragen. Sie kulminieren nicht zuletzt im Verständnis von Allgemeinbildung bzw. von Schule insgesamt. Die dabei gegebenen Antworten sind hinsichtlich ihres jeweiligen Sitzes im Leben transparent zu machen. Wichtige Fragen dafür wären: Welche Rolle wird Religion im Rahmen schulischer Allgemeinbildung beigemessen? Welche Auseinandersetzungsform mit Religion ist dabei im Blick?

3. Wer Religions- und Ethik- bzw. Philosophieunterricht einander zuordnen will, hat nicht nur die rechtlichen Regelungen zu beachten, sondern muss sich intensiv mit deren Gemeinsamkeiten und Unterschieden auseinandersetzen. Sie liegen sowohl auf der Inhalts- wie auch auf der Adressat*innenebene und bestimmen maßgeblich darüber, ob und wenn ja, welche Form der Kooperation für denkbar oder gar wünschenswert gehalten wird.

3.1 Auf der Inhaltsebene liegt ein wichtiger, wenn nicht gar der zentrale Aspekt in der Frage, wie beim Thema Religion mit Positionalität umzugehen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt in ganz starkem Maße davon ab, aus welcher Perspektive man auf Religion schaut. Aus einer säkularen Normalitätssetzung heraus ist der Blick ein anderer als aus einer religiösen Normalitätssetzung. In didaktischer Zuspitzung heißt hier die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Positionalität? Ist sie hinderlich für ein angemessenes Verstehen von Religion oder unverzichtbar? Wie ist das Verhältnis von Innen- und Außenperspektiven zu beschreiben, wenn man Religion verstehen lernen soll? Konkretisieren lassen sich solche Fragen mit Blick auf die gängige Unterscheidung eines learning in, from und about religion. Wenn man dabei vorankommen möchte, wird man zunächst einmal zu fragen haben, wie die jeweiligen Antworten de facto vorgenommen werden und welche Motive dafür leitend sind. Von dort wäre dann eine Reflexion darüber anzustreben, was jeweils verloren ginge, wenn einzelne Aspekte von vornherein ausgeschlossen werden. Sehr deutlich wäre in einer solchen Auseinandersetzung auch die Frage zu thematisieren, ob in alledem auch ein learning against religion seinen Platz haben darf bzw. in bestimmten Konstellationen sogar haben muss.

3.2 Auf der Adressat*innenebene zeigt sich deutlich die Herausforderung, keine falschen Differenzen aufzubauen. Anders formuliert: Die auf der inhaltlichen Ebene getroffenen Festlegungen dürfen nicht unbesehen auf die Schülerschaft des jeweiligen Faches übertragen werden. Auch wenn diese Frage bisher leider noch nicht systematisch im Rahmen repräsentativer empirischer Untersuchungen in den Blick genommen wurde, lässt sich auf der Grundlage einzelner Erhebungen bereits jetzt erkennen, dass es zu einer immer stärkeren Mischung der Lerngruppen hinsichtlich des Zuschreibungskriteriums Religion kommt. Im Religionsunterricht finden sich nicht nur religiös sozialisierte Schüler*innen, sondern zu einem großen Teil ebenso solche, die sich nicht als religiös verstehen oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören, als derjenigen, die für das jeweilige Religionsunterrichtsangebot verantwortlich ist. Im Ethikunterricht ist es vergleichbar. Dort lernen nicht nur diejenigen, die sich von Religion distanzieren wollen oder sich selbst als nicht religiös verstehen, sondern auch solche, die mit dem Profil des Religionsunterrichts nicht anfangen können, für die kein eigener Religionsunterricht angeboten wird oder die sich dem entziehen wollen. Diese Differenzen in der Sicht auf Religion innerhalb der Schülerschaft sind immer mit zu bedenken. Zu fragen wäre also in beiden Fächern, wie Profil und Inhalte des jeweiligen Unterrichts für alle Schüler*innen bedeutungsvoll sein können, oder anders ausgedrückt, welche Rolle den Voraussetzungen und Annäherungspfaden der Schülerschaft in rebus religionis für die inhaltliche Profilierung es Faches beigemessen wird.

4. Die in rechtlicher Hinsicht (in den meisten Bundesländern) vorgenommene alternative Zuordnung der Fächer beruht auf konkreten historischen Entwicklungen und ist mit Blick auf die damit verbundene Gleichwertigkeit aufs Deutlichste zu begrüßen. Zugleich wäre im Horizont einer Allgemeinbildung stärker als bisher zu reflektieren, ob die sich darin ausdrückende alternative Zuordnung beider Fächer und damit auch der entsprechenden Bezugsdisziplinen wirklich hilfreich und eröffnend ist. Ein Komplementärverständnis könnte hier deutlich mehr Potenzial besitzen. Dass damit auch strukturelle Fragen hinsichtlich konkreter Projekte und Zuordnungen verbunden sind, ist immer mit zu bedenken, sollte aber zunächst nicht den hauptsächlichen Fokus bilden. Im Zentrum sollten die Heranwachsenden stehen, die in einer verletzten und verletzlichen Welt damit zu tun haben, ihr Leben verantwortlich zu gestalten. Fest steht, dass die überkommenen Kategorien (auch) in der Auseinandersetzung mit Religion an ihrer Stimmigkeit verloren haben und weiterhin verlieren. Die kategorialen Schwerter sind in vielerlei Hinsicht stumpf geworden. Nun kommt es darauf an, neue Bestimmungen und Zuordnungen zu finden. Den Herausforderungen, denen sich Schüler*innen heute zu stellen haben (und, soweit man das überhaupt antizipieren kann, in Zukunft zu stellen haben werden), sollte eine zentrale Bedeutung zukommen. Sowohl Inhalte wie Methoden und beidem zugrundeliegende Strukturen sind daraufhin abzuklopfen. An Religion scheiden sich die Geister. Sie unterrichtlich zu thematisieren, heißt auch, über die Art und Weise der didaktischen Aneignung neu ins Gespräch zu kommen. Die Schülerschaft in beiden Fächern ist hinsichtlich ihrer Positionierung dazu als divers einzuschätzen. Insofern braucht es Differenzkompetenz. Dafür könnte eine (wie auch immer in Einzelnen zu gestaltende) Fächergruppe, auf alle Fälle aber ein von allen Seiten mit großer Offenheit geführter gemeinsamer Diskurs sehr anregend sein. So wie die dem Diskurs zugrunde liegenden Kategorien (von Konfessionslosigkeit und Konfessionalität oder von religiöser Indifferenz und religiöser Differenz) nicht ohneeinander zu haben sind, braucht es die gemeinsame Reflexion dessen. Es geht hier um das Verhältnis von Religion zu dem, was nicht als Religion bestimmt oder repräsentiert wird[1] oder andersherum von Nicht-Religion zu dem, was als Religion bestimmt oder repräsentiert wird. „Religion und Nicht-Religion sind voneinander abhängig.“ Beides ist ohneeinander nicht zu haben. Auch die Bezugsdisziplinen innerhalb der sog. werteorientierenden Fächer sind nicht „ortlos“, sondern verwoben in ihre jeweiligen Bedingtheiten. Eine Kooperation der Fächer könnte die damit beschäftigten Diskurse auf „blinde Flecken im eigenen Gesichtsfeld“ hinweisen: „Was wird im eigenen Standpunkt übersehen, nicht sichtbar gemacht oder gar verschwiegen?“ Nichtreligiös oder religiös sind hier immer die anderen. Letztlich geht es um ein Offenlegen der „eigenen identifikatorischen Abhängigkeit(en)“. Eingebettet ist das alles in die Frage, „ob bzw. wie weitgehend Religion ein das Leben oder die Gesellschaft bestimmender Faktor ist“. Anders ausgedrückt: Es geht um „diskursive Normalitätsproduktion“.

Heranwachsende könnten in ihrer schulisch initiierten Auseinandersetzung davon sehr profitieren. Dazu müsste dann auch wieder über Strukturen neu nachgedacht werden. Auf alle Fälle reicht es nicht aus, die jeweiligen Fächer unverbunden nebeneinander her laufen zu lassen. Alles weitere wäre noch genauer zu bedenken.

Literaturverzeichnis

Cyranka, D. (unveröff. Manuskript, 2023). Säkularisierung als Nicht-Religion. Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte von Kategorien.

 

  1. Vgl. Cyranka, D. (unveröffentl. Manuskript 2023). Säkularisierung als Nicht-Religion. Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte von Kategorien. Die folgenden Zitate stammen alles aus diesem Manuskript. Ich danke Daniel Cyranka herzlich, dass er es mir zur Verfügung gestellt hat.

Dr. Michael Domsgen, Professor für Evangelische Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums CES (Center for Empowerment Studies/ Forschungszentrum Christliches Empowerment in der Säkularität), michael.domsgen@theologie.uni-halle.de, 06099 Halle/Saale.