Einleitung

Loci theologici, Orte theologischer Erkenntnis, müssen gegenwärtig im Bildungskontext in Anbindung an das glokal-dynamische kulturelle Geschehen weltweit thematisiert werden. Dabei geht es darum, andere Perspektiven außerhalb Europas zur Sprache kommen zu lassen und diese mit den vertrauten kritisch ins Gespräch zu bringen. Vor diesem Hintergrund lote ich im vorliegenden Beitrag aus, inwiefern sich die theologische und religionspädagogische Bedeutung kultureller Räume in ihrer Vielfalt und Differenz theologisch begründen lässt.  Es handelt sich um erste Überlegungen, mit denen ich mich theologisch begründet für eine globale Religionspädagogik ausspreche, deren Haltung davon geprägt ist, die glokale Wechselwirkung globaler und lokaler kultureller Transformationsprozesse differenziert und handlungsorientiert in den Blick zu nehmen.

Zuerst werde ich auf der Grundlage einer philosophisch-theologischen Verständigung zwischen Emmanuel Levinas und Paul Ricœur einerseits, Friedrich-Wilhelm Marquardt und Hans-Christoph Askani den Entwurf (m)einer Theologie des Verlassens skizzieren. Dabei sensibilisiere ich für Gott als schöpferisch-utopische Raumgabe,[1] der ausschließlich ethisch zu begegnen ist. Zweitens verdeutliche ich, wie dieser von Gott ermöglichte Beziehungsraum in Gestalt seiner Unverfügbarkeit zum Ort theologisch-christologischer Rede wird. Im Anschluss verdichte ich drittens meine grundlegenden Überlegungen zur Theologie des Verlassens religionspädagogisch, indem ich sie auf die gegenwärtigen Herausforderungen religiöser und theologischer Bildung, anwende. Im zweiten Teil des Beitrags liegt mein Anliegen darin, theologische und religionspädagogische Bedeutung kultureller Räume aus der Perspektive/im Kontext des Global Christianity inter-/transkulturell sichtbar zu machen. Dabei soll die Aufgabe religiöser Bildung heute geschärft werden. Im abschließenden Kapitel nehme ich den Begriff der Wahrnehmung (aisthesis) differenziert in den Blick, um den Mehrwert meiner theologischen Überlegungen zugunsteneiner Religionspädagogik im globalen Horizont herauszuarbeiten.  

1 Theologie des Verlassens: Alterität und Sprache

1.1 Alterität als Utopie: schöpferische Raumgabe

In der genannten philosophisch-theologischen Verständigung verdeutlicht sich die Notwendigkeit, die absolute Alterität, Gott in seiner radikalen Transzendenz, als utopischen Raum anzuerkennen. Theologische Rede vom utopischen Raum konkretisiert sich, indem sie dem Anspruch von Emmanuel Levinas und Paul Ricœur, Alterität und Sozialität Gottes gemeinsam zu denken, folgt: Der utopisch-dynamische Raum, der Ausdruck für die von Gott gewählte nahe Ferne oder ethische Nähe, ermöglicht es, die radikale Transzendenz, die Ansprache Gottes, in endlicher Anknüpfung handlungsorientierend zu denken, ohne der Gefahr, einer ideologisch-dogmatischen Totalität zu verfallen. Der Ausdruck ethische Nähe drückt die unausweichliche Verantwortung gegenüber dem qualitativ Anderen aus (Levinas, 2011, S. 318), die den Menschen davor schützt, totalitären Ideologien zum Opfer zu fallen (Krewani, 2006, S. 48). Letztere vereinnahmen und räumen das Wort Gottes aus – sie machen Gott raumlos. An dem von Gott eingeräumten Ort konstituiert sich hingegen der Anspruch, sich theologisch vom radikalen Anderen unterbrechen zu lassen und eine ethisch-theologische Perspektive einzunehmen. Es handelt sich um das paradise lost, von dem Friedrich-Wilhelm Marquardt sagt, dass die Menschen es

gründlich verloren haben, das meint auch: restlos, ohne Erinnerungsrückstand […]. So lebendig die Bibel uns das Paradies malt – sie kann dabei an keine Erinnerung anknüpfen […]. [Sie] gibt uns nur Zeugnisse von der unerhörten Geschichte, daß Gott uns einen Garten gepflanzt, uns dahinein versetzt habe als unsere Umwelt, – daß wir diesen Lebensraum aber verspielt und verloren haben und daß es dennoch Gott wichtig ist, uns von dieser unserer Geschichte etwas wissen zu lassen. (Marquardt, 1997, S. 118)

Am paradiesischen Ort – der sich trotz, oder gerade wegen seiner Unsichtbarkeit – in ewiger Beziehung verborgen ereignet, konstituiert sich die wahre Grundstruktur theologischen Denkens und Wissens in Gestalt eines Grundrisses. Folgt man diesem Gedanken, dass Gott im Wort inmitten von Differenz, Widerspruch und Verstrickung in Geschichten, schöpferischen Lebensraum ermöglicht, muss theologische Rede diese Gabe des Raumes empfangen und verantworten. Mit Levinas priorisiere ich die darin liegende ethische Verantwortung der theologischen Rede, die vor allem Bewusstsein in radikaler Passivität der Geschöpflichkeit begründet liegt (Levinas, 2011, S. 251).[2] Diese Wissens- und Erkenntnisgrenze des Menschen, die in der qualitativen Differenz zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen deutlich wird, zeigt die sinnstiftende ethische Bedeutung der Schöpfung insgesamt. Schöpfungstheologisch folgt daraus: Indem Theologie diesen Raum wahrnimmt, antwortet sie und übernimmt die darin liegende Aufgabe, ihn zu gestalten, sich und den Anderen ethisch zu verantworten. Das eindeutige Verhältnis von aktiv – passiv trägt das Geschehen nicht (mehr). Vielmehr wird im Sinne Paul Ricœurs sichtbar, dass die Grenzen von Ertragen und Erdulden bis zum Erleiden fließend sind (Ricœur, 1996, S. 192). Die „Begriffe erinnern, daß auf der Ebene der Interaktion ebenso wie auf derjenigen des subjektiven Verstehens Nicht-Handeln immer noch ein Handeln ist: Vernachlässigen, unterlassen, etwas zu tun, bedeutet auch, es durch einen Anderen tun zu lassen“ (ebd.). Theologie erfüllt die Aufgabe des Erleidenden, indem sie ausgehend vom Anderen, von Mitmenschen und Mitwelt Gott und sich selbst verantwortet. Sie richtet sich nicht unter Berücksichtigung ihrer eigenen Interessen teleologisch aus, sondern darin, dass sie ihren geschöpflichen Raum, ihr Sprechen und Handeln christologisch verantwortungsbewusst erträgt. Dabei zeigt sich das paradise lost: Theologische Rede konkretisiert Utopie, den nicht vorhandenen Ort, räumlich-ethisch; und dieser wird im Sinne einer handlungsorientierenden Real-Utopie sichtbar. Erfahrungen mit dem Anderen ermöglichen diese Real-Utopie, die sich durch ihren kontinuierlichen Bezug zur konkreten Situation verhält, ohne jemals ihr Ziel zu erreichen. Dabei begründet sich die Fähigkeit des Menschen zum Handeln in der unausgesprochenen Aufforderung des Anderen, auf den er/sie sich einlässt (ebd., S. 425).[3] Die theologische Raumgabe, die ich, (m)eines theologischen Ansatzes einer Theologie des Verlassens zufolge, primär ethisch verstehe und die damit zum Verständigungs- und Handlungsraum wird, konstituiert sich in der dem Menschen unverfügbaren Alterität. Der Ausgang vom Anderen befreit in dieser Hinsicht die Theologie, be- und entgrenzt sie aus den selbst erschaffenen Systemgrenzen, transzendiert, inkarniert und sozialisiert sie. Dabei eröffnet sie einen neuen theologischen Denk-, Sprech- und Handlungsraum. Schöpfungstheologisch legt der sich immer wieder neu stiftende Raum, die Raumgabe der Transzendenz in der Immanenz, den Grundriss eines Entwurfs einer Theologie des Verlassens.

1.2 Theologisch-christologische Rede im von Gott gegebenen Raum

Blickt man ausgehend von dieser philosophisch-theologischen Betrachtung auf die Anforderung theologischer Rede im globalen digitalen Zeitalter, im alltäglichen Umgang mit Unbekanntem und Fremdem, hat der theologische Gedanke eines ursprünglich utopischen und ethischen (neu-)schöpferischen Raums handlungsorientierendes Potenzial. Räumlich gedacht verständigt sich Theologie primär ethisch, entlastet sich selbst in der Beziehung ausgehend vom absolut Anderen. Sie hat sich nicht selbst zu verantworten, sondern steht in einer christlich-befreienden räumlichen Beziehung. Im Verständigungsraum, in dem der radikal Andere Theologie permanent infrage stellt und herausfordert, ohne sie zu verlassen, ereignet sich der von Gott geschaffene christologische Grundriss für eine theologische Rede in glokaler, d. h. wechselseitiger Lebendigkeit von Globalem und Lokalem. Letzteres betont Ricœur in seiner Kritik an Levinas, indem er die Dimension der Geschichtlichkeit der Geschichte hervorhebt (Ricœur, 1974, S. 53). Geschichte öffne sich so einer produktiven Dynamik. Sie fordere den Menschen auf, Abstand zu sich und seiner eigenen Lebenswelt einzunehmen und anderen zu begegnen. Ricœur spricht vom Ausgang aus der Verschlossenheit des Selbst, die ihm den Eintritt in die Mitwelt ermögliche. Die Distanz zu sich selbst (zum Lokalen) bedeutet demnach die Möglichkeit, mit anderen (im globalen Kontext) in Beziehung zu treten. Entscheidend ist, dass Ricœur in diesem dynamischen Interaktionsgeschehen den Ort erkennt, an dem der Mensch sein wahres Menschsein spürt (ebd., S. 54–55). Der utopische interaktive Raum in seiner differenzierten räumlichen Vielfalt trägt demnach die Geschichtlichkeit (sozial-)ethisch. Dieser Prozess geschichtlichen Wandels ist aus meiner Sicht theologisch im Christusgeschehen immer wieder neu zu entdecken, denn in der Menschwerdung Christi hinterlässt Gott eine unverfügbare Spur seiner radikalen Alterität. Die Spur ermöglicht zwar seinen Geschöpfen einerseits, Räume seiner Unverfügbarkeit im sichtbaren Zeugnis seines Sohnes zu erkennen und danach zu handeln, ihr unverfügbarer Charakter lässt es aber andererseits zugleich seine Grenze der Endlichkeit erfahren. „Die Spur des Unendlichen ist die […] Ambiguität im Subjekt“ (Levinas, 2011, S. 326). Insofern setzt die Rede von Gott im und als utopischen/r Raum voraus, Gott im Leben nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich differenziert wahrzunehmen. In dieser Hinsicht sprengt die theologische Rede die Grenzen des gewöhnlichen Raumverständnisses und konstituiert sich im schöpferischen Sprachgeschehen kontinuierlich. Die „Geste des Gebens“ des Schöpfers benötigt, Askani zufolge, Raum. Zugleich setze sie Raum frei, der als Gabe notwendigerweise an jemanden adressiert sei (Askani, 2006, S. 190). Diese schöpferische Geste öffne demzufolge einen Raum, den die Gabe selbst und die/der Empfangende für sich bräuchten: Sie sei sich selbst gebende Raumgabe. Indem sie sich ereigne, inszeniere sie ihren Raum, der sich auf beiden Seiten öffne. Dabei widerspreche der sich immer wieder neu konstituierende Raum binären (Sprach-)Systemen. Demzufolge transzendiert die Kommunikation als theologische Glaubens- und Hoffnungssprache in Christus und öffnet Hoffnungs-Raum inmitten sowie ausgehend von der geschichtlichen Lebensrealität. Ihr Sprachgebrauch erfüllt nicht nur einen zuvor gesetzten Lebensplan, so Ricœur, sondern nähere sich differenziert (Ricœur, 1989, S. 119). Im theologischen Sprachvollzug entsteht also eine Wirklichkeit, die sich nicht in Eindeutigkeit erschöpft. Auf der Grenze zeigt sich Sprache kreativ und erfinderisch, hier liegt für Ricœur ihr Wahrheitsanspruch (Ricœur, 2004, S. 93–94).

Mit Marquardt betone ich an dieser Stelle die Bedeutung, Gott geschichtlich verstrickt zu verstehen (1996, S. 452). Als Teil der Geschichte muss sich Theologie in den gegebenen Räumen ihrer Lebenswirklichkeit immer wieder neu aus- und einrichten. Indem sie ihre Komfortzone verlässt, unterbricht sie sich. Der ewige Ausgang des Vaters in Gestalt seines Sohnes, die Vermenschlichung Gottes, (er-)fordert theologisch, immer wieder neu anzufangen, Gottes Wirken wahrzunehmen und das Wahrgenommene zur Sprache zu bringen. Gott spricht nicht nur asynchron, sondern auch asymmetrisch in und aus den vielfältigen, heterogenen und komplexen gesellschaftlichen Kontexten.

Folgt die Theologie diesem räumlich-geschichtlichen Gottesverständnis, bindet sie sich utopisch an die konkrete Lebenswirklichkeit und wird ethisch handlungswirksam: Theologisch räumt sie sich ihren Raum situativ eingebettet ein, entgrenzt möglicherweise verschlossene (traditionelle) Denk- und Handlungsräume christologisch, indem sie diese in offener, vielfältiger Bindung an die sich wandelnden reale(n) Gegenwart(en) /Gegebenheiten in Raum und Zeit bindet.

Christologisch denke ich hier die unaufhebbare Beziehung zwischen Gott und seinem Geschöpf als eine „nie endende Trennung“ (Askani, 2006, S. 81). Allein christologisch gedacht, berühren sich Gott (radikale Alterität) und Mensch (ethische Sozialität) in ihrer Eigenständigkeit (d.h. getrennt) im utopischen Raum (Anbindung). Die ursprüngliche Geschöpflichkeit konkretisiert sich in dieser Art der Berührung, indem die Theologie sich im utopischen Raum verständigt, ohne sich durch die Hintertür in die eigenen (scheinbar) sicheren vier Wände zurückziehen. Im Bewusstsein der trennenden, zugleich anbindenden Differenz begründet sich, dass Theologie sich immer wieder selbst verlassen muss. Sie muss demnach ihre traditionellen Systeme prüfen, sich der konstruierten menschlichen Natur immer wieder entledigen und sich hautnah auf den Anderen einlassen (Levinas, 2012, S. 327).

Theologisch geht es darum, dass der Mensch sich nach der radikalen Transzendenz, dem utopischen Raum Gottes, in der Immanenz sehnt (Marquardt, 1996, S. 162). Dabei ist entscheidend die theologischen Termini von Transzendenz und Immanenz nicht als unüberbrückbare Antagonisten zu verstehen, sondern als ambige (un-)trennbare ethische Beziehung. Aus diesem Grund stiftet das Gefühl der Hoffnung auf die Zukunft auch im wissenschaftlichen Diskurs notwendige normative Orientierung für theologische Rede. Die eschatologische Dimension der Alterität versetzt Theologie in die Lage, christologisch zu deuten und sich dabei immer wieder neu zu entdecken (Ricœur, 2006, S. 125). Dazu ist sie fähig, weil sie die Gegenwart Gottes empfängt, ohne den Anspruch zu verfolgen, sie vollkommen im utopischen Raum zu verstehen. Die Alterität in Gestalt der Trennung ermöglicht ihr zugleich, den utopischen Raum und damit die Grenze des eigenen Handelns, schöpfungstheologisch anzuerkennen (Askani, 2006, S. 61). Deswegen ist die qualitative Trennung zwischen Gott und menschlicher Rede von Gott als „nie zu Ende kommende Differenz“ zu verstehen, die den Weg ebnet, nicht nur über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (nach)zudenken, sondern „ihre Begegnung selbst“ und deren Implikationen christologisch räumlich zu erschließen (ebd., S. 64).   

1.3Religiöse und theologische Bildung im von Gott gegebenen Raum: Herausforderungen

Bedeutung und Beitrag des Entwurfs (m)einer Theologie des Verlassens für gegenwärtige religiöse Bildungsprozesse konstituieren sich theologisch am Ort des Antlitzes. Das Antlitz ist Ausdruck der unverfügbaren Begegnung und Beziehung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, kurz: zwischen Gott und Mensch (Levinas, 2012, S. 244). Die „Nacktheit des Antlitzes“, so Levinas, gleiche der Religion und unterbreche die Struktur symmetrischer Ordnung und synchroner Zeit (ebd.). Ausgehend vom absolut Anderen, das heißt im Verlassen des eigenen vertrauten Lebensraums, konstituiert sich theologisch die Möglichkeit, kritische Distanz zum vertrauten System einzunehmen. Im Aufbruch selbstverständlicher Räumlichkeit fordern die sich stetig verändernden (Lebens-)Bedingungen Theologieund religiöse Bildung heraus. Bernd Schröder betont unter Berücksichtigung dieser Entwicklung aus evangelischer Perspektive, dass die „Weitergabe des christlichen Glaubens […] unter den modernen Bedingungen der Pluralität, der Individualisierung in hohem Maße gestaltungs- und reform-, damit zugleich reflexions- und theoriebedürftig geworden“ sei (2012, S. 2). Schröder stellt mit Blick auf die Aufgabe der Religionspädagogik im 21. Jahrhundert die großen Herausforderungen religiöser Bildung heraus und damit die Schwierigkeit, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Hierbei geht es um nichts weniger als um die Plausibilität und Tragfähigkeit des christlichen Glaubens. „Im Blick auf das Christentum protestantischer Prägung spricht man angesichts dieser Phänomene seit Ernst Troeltsch (1865–1923) und Emanuel Hirsch (1888–1972) zusammenfassend und zuspitzend von einer, „Umformungskrise“ (ebd., S. 3). Diese sogenannte Umformungskrise fordert (religiöse) Bildung heraus. Verstehen wir die religionspädagogische Aufgabe darin, religiöse Kompetenz auszubilden, geht es darum, (jungen) Menschen erstens religionskundliche Kenntnisse zu vermitteln (Sachkenntnis), zweitens ihnen Raum zu öffnen, die Kompetenz zu erwerben, Phänomene religiös zu deuten und drittens sozial fähig zu sein, an gemeinschaftlichen Ereignissen (z.B. religiösen Ritualen) zu partizipieren. Es geht um die Gestaltung, Begleitung und Förderung des Sachwissens, der Reflexionsfähigkeit und der sozial-religiösen Praxis (Gojny, Lenhard & Zimmermann, 2022, S. 173174). Theologie muss sich primär ihrer wesenhaften, sich verändernden kontextuell-kulturellen Anbindung bewusst werden, anstatt traditionell gesetzten Interessen nachzufolgen. In der Rückwärtsbewegung, dem Bewusstwerden der eigenen Abhängigkeit, übernimmt sie theologisch-ethische Verantwortung. In meinem theologischen Ansatz spreche ich im Sinne von Levinas von recurrance. Der Mensch distanziere sich aus der „Matrix des Seienden“, um ihr „die Hilfsmittel der Affektivität, die im Leib und [in seinem] Herzen […] verborgen sind, entgegenzusetzen.“ (Levinas, 2005, S. 67) Die Resonanz dieser Begegnung im Antlitz wird dann in dynamischen offenen Systemen sichtbar. Im Bewusstsein dieser wesenhaften Beziehung zum Anderen befreit sich religiöse und theologische Bildung,genauer gesagt entgrenzt sie sich aus den Strukturen selbst erschaffener Konstrukte, transzendiert und öffnet neue religiöse und theologische Bildungsräume. Dieses Bewusstsein des sich immer wieder neu stiftenden Raums der Begegnung mit Gott legt den Grundriss einer Theologie des Verlassens und impliziert folglich eine kontinuierliche Neu-Ausbildung religiöser Bildung. Dabei muss bildungspolitisch die pädagogische Ausrichtung religiöser Bildung kritisch geprüft werden, ob sie sich in wechselseitiger Anbindung globaler und lokaler kultureller Transformationsprozesse, d. h. im lebendigen Glokalem verortet. Vor diesem Hintergrund des kulturell-gesellschaftlichen Wandels in der postsäkularen Gesellschaft sind folgende Implikationen für Wesen und Funktion religiöser Bildung zu berücksichtigen: Erstens verändert sich das „Wahrnehmungs- und Aufgabenspektrum“ der Religionspädagogik. Der Besitz einer scheinbaren Eindeutigkeit religiöser Inhalte, Tradition, Symbolik weicht einer Mehrdeutigkeit, einer Vielgestalt des christlichen Glaubens, seiner Symbole und Ausdrucksformen, seiner Frömmigkeitsstile, seines Erlebens und Erfahrens (bzw. der Wahrnehmung derselben). Zweitens muss deshalb konstatiert werden, dass sich die Denkrichtung im religionspädagogischen Diskurs- und Handlungsfeld verändert. Die Überlegungen gehen über den engeren Bereich der (traditionellen) Religionspädagogik hinaus (Domsgen, 2019, S. 20) und wirken in gesellschaftliche relevante Systeme und Teilbereiche hinein. Primär ausgehend vom Individuum im Kontext seiner Lebenswirklichkeit (Sozialisation, gesellschaftliches Milieu) setzt der religionspädagogische Diskurs subjekttheoretisch an (Kunstmann, 2017, S. 372). Drittens fordern die kulturellen Transformationsprozesse religiöse Bildung, insbesondere die Religionspädagogik, nicht (mehr) als Anwendungswissenschaft heraus, sondern vielmehr in ihrem hermeneutischen Potenzial, also in Gestalt eines komplexen kontinuierlichen Deutungsgeschehens. Dabei werden Kontext und Text in Beziehung zu Menschen und Gesellschaft immer wieder neu ausgelegt und interpretiert. Die zentralen Fragen lauten entsprechend: Wie kann religiöse Bildung dem Anspruch von Komplexität und Vielfalt in einer glokalen Lebenswirklichkeit gerecht werden? Wie stehen Tradition und Innovation in dieser Hinsicht in Beziehung? Wie verhält sich die Bereitschaft zur Offenheit dem Fremden gegenüber, mit dem Bedürfnis und Anspruch nach normativer Orientierung? Ist es noch möglich, im Zeitalter der postmodernen Gesellschaft von religiöser Erziehung zu sprechen? Muss Religion im postsäkularen Kontext Religion als ordentliches Schulfach anders im Bildungsplan verankert werden? Im Bewusstsein der Veränderungen der religiösen Landkarte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sensibilisiere ich im Folgenden im Sinne meines theologischen Ansatzes dafür, Religion als Bildungsgegenstand nicht ausschließlich im Kontext europäisch-westlicher Tradition, sondern im Kontext glokaler Transformationsprozesse – die eben auch die Religion betreffen – zu verorten (Simojoki, 2023). Dabei lasse ich mich von meiner (obigen) Überzeugung, die Beziehung Gott und Mensch (christologisch) räumlich zu erschließen, leiten und weiß mich der Kulturhermeneutik verpflichtet.

2 Theologie Interkulturell: theologische und religionspädagogische Bedeutung kultureller Räume

Anzuerkennen gilt, dass der Universalitätsanspruch des Westens als einzig geltende Wahrheit gebrochen ist, und zwar bedingt durch die aufkommende und sich etablierende Konkurrenz im Global Christianity seit den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts (Küster, 2011, S. 56). Der kulturwissenschaftliche Wandel im Verständnis von Kultur und Raum, Interkulturalität als Third space diskursiver Aushandlungsprozesse (Homi Bhabha), forderten und fördern theologisch eine Perspektivenvielfalt. Epistemologisch setzt dies voraus anzuerkennen, dass (religiöses) Wissen unausweichlich „situiertes Wissen“ (Haraway, 2007) ist, das heißt ein web of meaning umfasst. Es gibt kein absolutes Wissen. (Kulturelle) Alterität wird, wie oben schon angedeutet, Ausgangspunkt theologischen Denkens und Erkennens, und zwar in zweifacher Hinsicht: Sie markiert die Leerstelle/Grenze, das dem menschlichen Denken und Handeln Unverfügbare einerseits, andererseits ermöglicht sie genau damit den Raum, in dem die dynamische Produktivität der Vielfalt kulturell-räumlicher Beziehungen sich immer wieder auf der Suche nach „gelebter Wahrheit“ vollzieht (Erbele-Küster, Küster & Roth, 2021, S. 24). Das Ringen um Wissen und Wahrheit in religiös-kulturellen Beziehungsräumen, theologisches Denken, Sprechen und Handeln, braucht notwendigerweise theologische Verantwortung. Sie (be)gründet sich theologisch in der Einsicht des Verlassens, indem sie sich der Bedeutung der (kulturellen) Alterität für den eigenen Erkenntnisprozess bewusst ist/wird. In Konsequenz plädiere ich für eine der Theologie genuine Haltung der Inter-/Transkulturalität, die nicht als special area im Sinne einer gesonderten Fachdisziplin thematisiert wird, sondern transversal allen theologischen Disziplinen – insofern auch der Religionspädagogik – zu eigen ist. Theologie Inter-/Transkulturell macht die globale Haltung einer Theologie des Verlassens sichtbar, die sich der glokalen komplexen Abhängigkeiten und Verflechtungen, insofern ihrer Verantwortung, bewusst ist. Insbesondere der adverbiale Gebrauch bestimmt die Haltung wie ich Theologie und Religionspädagogik betreibe (Doing Theology). Sie ist untrennbar mit dem Anliegen verbunden, der Gefahr vorzubeugen, neue prädefinierte Strukturen zu inkorporieren. Stattdessen geht es primär darum, den Wahrheitsgehalt im komplexen Beziehungsraum immer wieder neu auszuhandeln. Der potentiellen Kritik, Theologie verfalle damit der Willkür und Kontingenz anheim und entledige sich folglich jeglicher normativen Orientierung, widerspreche ich insofern, als dass jede theologische Rede, auch die, die einem traditionell-bestimmten dogmatischem Duktus folgt, irrtumsanfällig ist. Theologische Rede aber, so erlaube ich hinzuzufügen, die sich einer Haltung des Verlassens verspricht, strebt kontinuierlich danach, sich ihrer Irrtumsanfälligkeit – sprich ihrer partikularen Perspektive der eigenen Lebenswirklichkeit – bewusst, transparent und produktiv zu stellen. Dabei ist sie sich der produktiven epistemischen und epistemologischen Bedeutung von Alterität theologisch und ethisch im Klaren. Epistemisch beschreibt hier, was sich auf Wissen und Erkenntnis, epistemologisch, was sich auf deren Bedingungen und Möglichkeiten bezieht. Den epistemischen Aufbruch der Theolog:innen des sogenannten Globalen Südens lese ich also als eine klare Absage an jegliche Art eines universalen Absolutheitsanspruchs (des Westens), der sich alteritätsvergessen (d. h. absolut) gegenüber dem Rest der Welt konstituiert. Das bedeutet aber nicht zugleich eine Absage an normative Orientierung in religiösen Verhandlungsprozessen, sondern erfordert primär, Wissen und Erkenntnis nicht (mehr) als ontologisch feststehende Größen zu verstehen, sondern vielmehr als kontinuierlich aufzusuchende in unbedingter Beziehung mit Anderen. Allein in der Anerkennung der Gleichwertigkeit des Anderen besteht überhaupt erst die Möglichkeit, die Alterität des Anderen produktiv als im von Gott gegebenen und von Menschen erfahrbaren Third Space, insofern als notwendigen Bestandteil der eigenen (theologischen) Entwicklung wahrzunehmen.

Gesellschaftlich wurde dieser (transkulturelle) epistemische (Auf-)Bruch aus meiner Sicht im Laufe des Prozesses der Vermischung von Globalem und Lokalem (Glokalisierung) sichtbar (Küster, 2011, S. 131).Das – in den 1970er Jahren insbesondere in Gestalt der Befreiungstheologien sich entwickelte – neue Bewusstsein für Transformationsprozesse innerhalb der christlichen Theologie wurde besonders durch das Aufkommen postkolonial-theologischer kritischer Stimmen ab den 1990er Jahren gestärkt. Die bereits im befreiungstheologischen Ansatz angelegte postkoloniale Kritik entwickelte sich als ein kritisches Analyseinstrument weiter und radikalisierte den Widerstand am westlich-epistemisch gesetzten Eurozentrismus und dem darin legitimierten Überlegenheitsanspruchs (ebd., S. 107; Gmainer-Pranzl, 2016, S. 23). Theologisch entscheidend ist, den darin zum Ausdruck kommenden Widerstand nicht als einseitige Kritik gegen ein herrschendes System zu verstehen, und damit erneut hegemoniale Strukturen zu legitimieren, sondern vielmehr im Sinne meines theologischen Ansatzes des Verlassens als eine grundsätzliche systemkritische Haltung, die – Selbstkritik eingeschlossen – ontologisch-statischen Denksystemen und Handlungsräumen entgegenwirkt. In dieser Hinsicht leisten die de-/postkolonialen Prozesse, die das Anliegen verfolg(t)en, kolonialistisch gewachsene Macht- und Unterdrückungsstrukturen, die besonders im Kontext von Kirche und Mission eine Rolle spielten, aufzudecken, einen entscheidenden Beitrag für ein radikales epistemisches Umdenken. Theologisch entwickelte sich aus meiner Sicht der befreiungstheologische Diskurs unter ihrem Einfluss von innen über die Grenzen des Systems hinaus und schärft das gegenwärtige „Grenzdenken“ (Mignolo, 2012, S. 190) und damit den Blick für subalterne Räume. Postkoloniale Theologien zeigen in Gestalt ihrer charakteristischen Komplexität und Heterogenität methodisch und inhaltlich diesen transkulturellen Aufbruch, der das Anliegen/den Appell des epistemischen Bruchs kontextueller Theologien konstruktiv weiterführt und insbesondere – in kritischer Abgrenzung zum eurozentrischen Denken – den Perspektivwechsel für Episteme herausstellt. „Für die Erkenntnis ist es daher notwendig, sich zu bewegen und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen.“ (Silber, 2021, S. 124)

Perspektivismus verstehe ich in der gegenwärtigen Diskussion über Formen der Wissensproduktion als erkenntnisleitend. Er akzeptiert, dass „eine Aussage, eine Haltung, ein Motiv oder eine Erkenntnis [...] in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt [wird] im Sinne von beschränkt im Vergleich zu einem umfassenderen Anspruch.“ (Beiner, 2009, S. 27). Letzteres fordert theologisch, kulturelle Alteritäten in ihrer Vielfalt als die von Gott gewollte Raumgabe wahrzunehmen und anzuerkennen, und darin die genuin eigene theologische und ethische Abhängigkeit vom Anderen, von Gott, vom Fremden und Unverfügbaren. Dabei ist es theologisch-christologisch für mich unerlässlich, dass die räumliche Erkundigung Gottes medientheoretische und ästhetische Dimensionen einschließt. Allein mit einer solchen (methodischen) Offenheit antwortet Theologie auf den primär ethischen Appell, die Raumgabe Gottes immer wieder in eschatologischer Offenheit/Hoffnung neu wahrzunehmen, andernfalls verharrt sie in konstruierter Isolation. Wahrnehmung erfährt hier die vertiefende Bedeutung der aisthesis (vgl. Kap. 3)

Insgesamt lassen sich drei wichtige theologische Bedeutungsebenen kultureller Räume ausmachen: 

Eine räumlicheErschließung Gottes, des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, inmitten unserer ganzen Lebenswirklichkeit fordert erstens eine theologische Rede, die die Vielfalt theologischer Sprachen, Medien, Rituale als epistemische Orte er- und anerkennt. Indem sie sich auf sie in ihrer situativen kontextuellen Verstrickung einlässt, nimmt sie sie produktiv wahr, deutet sie und wird sich dabei ihrer eigenen immer wieder bewusst (Hock, 2020, S. 21).

Theologische Rede nimmt folglich zweitens das Verlassen räumlich ernst und wird fähig, Alteritäten im Diskursraum wahrzunehmen, in dem sie andere körperliche und kulturelle Ausdrucksformen jenseits der eigenen Vorstellungsmöglichkeit schöpferisch empfängt: „Wo diskurstheoretische Kritik dazu beiträgt, Erfahrungen von körperlich-leiblicher Gewalt aufzudecken und zu kritisieren, wird sie als wichtig und bereichernd erfahren.“ (Jahnel, 2021, S. 77)

Diese Haltung Theologie zu betreiben fördert demzufolge drittens die „Möglichkeit eines wissenden Körpers [anzuerkennen], der weiß, wahrnimmt, fühlt und darin Subjekt der (religiösen) Sinnbildung“ wird. (Jahnel, 2020, S. 192) Theologie bindet Diskurstheorie und Leibphänomenologi[4], ohne deren jeweilige Eigenständigkeit aufzuheben, hingegen ihr produktives Verhältnis als Raum dynamischer Wissensproduktion zu empfangen. Theologisch-christologisch erschließt sich an diesem Ort die unverfügbare lebendige Wahrheit, da die Theologie des Verlassens mit dem „situierten Wissen“ (Haraway, 2007) ernstmacht.

Diese Bedeutungsebenen lassen die Aufgabe religiöser Bildung konkreter werden. Sie liegt demnach darin, Menschen zu begleiten und zu orientieren, fähig zu werden, im Kontext von religiöser und kultureller Pluralität mit Alteritäts- und Fremdheitsphänomenen ethisch angemessen umzugehen. Es geht primär darum, sich im Angesicht konkurrierender Plausibilitätsstrukturen eigenständig im vielfältigen, zum Teil überfordernden (religiösen) Angebot von Glauben, Weltdeutung und Weltzugangsformen zu positionieren und zurechtzufinden. Jenseits traditioneller Lernorte von Religion – Familie, Gemeinde, Schule, Medien (Schröder, 2012, S. 14) – unter Berücksichtigung des öffentlichen politischen Raums ist es Aufgabe religiöser Bildung, die Lebensführung der einzelnen Personen in der Gesellschaft, deren Suche nach tragfähigen Konzepten, Ausdrucksformen und Gestaltungsmustern des eigenen Glaubens zu unterstützen. Außerdem muss das Denken an das globale/lokale Gefüge – die glokale Verquickung kultureller Kontaktzonen – herangeführt werden, zugleich lokales Handeln gefördert werden. „Es geht darum, global zu denken, lokal handeln zu können“ (ebd., S. 7). Komplementäres Denken und Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten und in Beziehung zu setzen (Meyer-Blanck, 2022), fördern einen bewussten Umgang der Kommunikation, insbesondere im Zeitalter der „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2020, S. 21), sprich der Ent-Ortung der Kommunikation.

Um diese gegenwärtigen Anforderungen an religiöse Bildung gerecht zu werden, sind konkrete religionspädagogische Maßnahmen notwendig. Zu Recht definiert Domsgen die Aufgabe der Religionspädagogik differenziert: „Religionspädagogik ist ein theoriegeleitetes Praxisfach, insofern sie als wissenschaftliche Reflexion auf eine herausfordernde Praxis Bezug nimmt (Wahrnehmung), sie interpretiert (Deutung) und mit dieser Theorie diese Praxis anleiten und verbessern will (Handlungsorientierung).“ (2019, S. 21) Deshalb lote ich abschließend aus, worin der Mehrwert meines theologischen Ansatzes für die Religionspädagogik liegt, die den Begriff der Wahrnehmung der Deutung nicht gegenüberstellt, sondern umfasst.

3 Wahrnehmen neuer religionspädagogischer Körper-Räume

Andreas Reckwitz differenziert den Begriff der Ästhetik wie folgt: Einerseits drücke Ästhetik die Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmung aus, anderseits – und das ist von weitreichender Bedeutung – ihre „eigendynamische […] Prozesse“. Letztgenannte „eigendynamische Prozesse [sind] Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus der Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben.“ (2019, S. 23) Sie folgen demnach nicht gegebenen Strukturen, sondern widersetzen sich diesen. Als sinnliche Aktivität, so Reckwitz, sind sie zudem Affekten ausgesetzt und insofern emotional involviert. Mit Reckwitz entkräfte ich die Skepsis an der Ästhetischen Wende in der Religionspädagogik der 1990er Jahre (Altmeyer, 2008). Der Kritik, die Wissenschaft der Theologie und Religionspädagogik sei mehr als Wahrnehmung, sie müsse normative Orientierung sein, ist durchaus zuzustimmen, nicht aber der Konsequenz,dass sich die Bedeutung der Aisthesis im theologischem und religiösem Verständigungsraum folglich reduziert. Stattdessen schlage ich vor, die Bedeutung der Wahrnehmung zu schärfen und sie im komplexen Auslegungs- und Deutungsgeschehen für die religiöse Bildung als Produzent von Wissen, Urteilsfähigkeit und Sinnbildung anzuerkennen. Es geht um ein grundsätzliches „Gewebe von Verflechtungen“, dem nur „ein Ethos der Verbundenheit angemessen Rechnung tragen kann (Nausner, 2020, S. 70). Dabei wird Aisthesis zum Ort des Aufbruchs theologischer und religionspädagogischer Bildungsarbeit, die, indem sie Komplexität, Alterität und kulturelle Differenz wahr- und ernst nimmt, ihre Strukturen, Interessen und Überzeugungen infrage stellt. Sinnlich wird der Wahrnehmungs- zum Resonanzraum, in dem erkenntnistheoretisch innovatives Denken und Handeln möglich wird. Theologische und religiöse Bildungsprozesse reduzieren sich nicht, sondern nehmen vielmehr die globale Aufgabe wahr, ihren Gegenstand im geschichtlichen glokalen Kontext unter Berücksichtigung von komplexen Verflechtungsstrukturen von Zeit und Raum angemessen abzubilden. Unsere lokalen Lebenswirklichkeiten, die unserer Student:innen, unserer Schüler:innen, die des Lehrerkollegiums, entsprechen häufig nicht (mehr) eindeutiger kultureller Zuordnungen, vielmehr machen sie den glokalen kulturellen Wandel, hybride Identitäten und Biografien, sprich den Reichtum sicht- und spürbar. Der aber, so Henrik Simojoki, in der Religionspädagogik noch nicht beachtet werde: „In der Religionspädagogik ist die Wahrnehmung von Religion und religiösem Wandel in der Regel eurozentristisch verengt. […] Während Religion in manchen Kontexten an Bedeutung einbüßt, erfreut sie sich in anderen unübersehbarer Lebendigkeit. Das gilt in besonderer Weise für das Christentum, dessen Wachstumsschwerpunkte schon jetzt klar im globalen Süden liegen.“ (2023, S. 189)

Die Geschichte des Christentums muss demnach theologisch und religionspädagogisch aus den Klammern des (Neo-)Kolonialismus und Eurozentrismus gelöst werden. Allein im interkulturellen und post-/dekolonialen Aufbruch der geschichtlich-reduzierten Perspektive, die sich nicht selten noch in Lehrbüchern und Bildungsplänen findet, kann die Kolonialität des Wissens, die mit dem Begriff epistemischer Gewalt zum Ausdruck gebracht wird, destruiert werden (Brunner, 2020, S. 126). Dies gilt auch für die Religionspädagogik, deren Aufgabe konstitutiv theologisch verortet ist. Aisthesis als komplexes Wahrnehmungs- und Deutungsgeschehen leistet hier einen entscheidenden Beitrag im Sinne (m)eines Entwurfs einer Theologie des Verlassens. Sie ermöglicht eine zweifach differenzierte Kritik, die aus meiner Sicht wegweisendes Potenzial für (religiöse) Bildung hat. Einerseits öffnet sie methodisch neue kulturelle Räume, die trotz ihrer Verborgen- und Unsichtbarkeit theologisch nicht weniger wirklich sind, andererseits wirkt sie genau darin jeglichem Anspruch von Eindeutigkeit und Absolutsetzung, derer sich die christliche Welt zu verantworten hat, entgegen. „Die eigentliche Pointe, die globale Perspektive religionspädagogisch zu stärken, liegt […] in der Einsicht, dass die beschleunigten Globalisierungsprozesse nicht nur die Rahmenbedingungen religiöser Bildung tangieren, sondern in den Kern ihrer Domäne hineinreichen, die Religion.“ (Simojoki, 2023, S. 188). Jenseits binärer Einordnung, die sich im Dunstkreis kolonialer Auswirkungen noch immer als dominant erweist, erkennt religiöse Bildung den „Gestaltwandel des Christentums“ (ebd. S. 189) und die religiöse Ausdifferenzierung im postsäkularen Zeitalter an. Dabei muss die Religionspädagogik als Wahrnehmungswissenschaft theologisch fähig sein, das Wahrgenommene in Beziehung zum christlichen Glauben, zu Kirche und Tradition, raumzeitlich (global) zu analysieren (korrelativer Tradition) (Heger, 2017, S. 355). Letzteres sichert die normative Dimension der Religionspädagogik, die kulturelles Handeln und Gestalten (erst) orientiert.  

Ich halte fest: Theologie, insbesondere religiöse Bildung, muss heute sozialpolitische Verantwortung übernehmen, die eigenen Wissenskonzepte, theologischen Narrative und Normative im selbstkritischen Aufbruch jenseits von System-Strukturgrenzen global zu prüfen. Theologischer Widerstand darf nicht nur als Bruch-von bzw. gegen wahrgenommen werden, sondern als grundsätzlicher Ausdruck und Aufbruch religiöser Bildung in Gestalt wechselseitigen globalen Lernens. Um der Gefahr einer funktionalistischen Engführung vorzubeugen (Heger, 2017, S. 314), ist es entscheidend, das Wahrnehmungsgeschehen als eine „synthetische Leistung“ vom Seh- und Interpretationsakt zu verstehen (Heger, 2017, S. 316). Es geht darum, die leiblich-situierte Bedingtheit vom Akt der Wahrnehmung mit der hermeneutischen Dimension von Sinn und Sinngebung als „dynamisches Kontinuum“ (Heimbrock, 2004, S. 7376) zu denken. Folglich drückt die Wahrnehmung einen komplexen ästhetischen Prozess aus, der infolge meiner Theologie des Verlassens auch als Glaube an die Vielfalt kulturellen Ausdrucks im Raum Gottes gelesen und interpretiert werden kann.

Konkret heißt das mit Blick auf die kritischen Perspektiven aktueller religionspädagogischer Diskurse, dass es unerlässlich ist, den glokalen Aufbruch theologisch fundiert zu begründen. Ansätze in der Religionspädagogik sollten konsequenterweise theologisch begründet und post-/dekolonial, d. h. alteritätssensibel (kulturelle und religiöse Dimensionen) verdichtet werden. Exemplarisch verweise ich auf Britta Konz (2022), die zwar den Anspruch einer postkolonialen Kirchengeschichtsdidaktik artikuliert, aber einer theologischen Vertiefung schuldig bleibt. Im Fall von Rita Burrichter und Claudia Gärtner, wäre eine Vertiefung des „postkolonial geschärfte[n] Blick[es]“ wünschenswert, der, wie die Autorinnen festhalten, sich „gleichermaßen als Störung wie als Ermöglichung reflektierter (inter-)religiöser Lernprozesse erweist.“ (Burrichter & Gärtner 2023, S. 73). Allein pluralitätssensibel sind eigene Erfahrungen von Welt, Umwelt und Mitmensch möglich. Sich selbst in den glokalen Verstrickungen wahrzunehmen ist demnach die Voraussetzung dafür. Das impliziert auch, die Dimension von Körper- und Sinnlichkeit als Orte der Kommunikation und der Interaktion über die verbale Sprache, wissenschaftlich auszuloten. Die Sinne ermöglichen es, „die Leibbezogenheit allen Wahrnehmens“ (Zilleßen, 2018, S. 88) zu erkennen und darin die Bedeutung von Raum und Körper (Heger, 2017, S. 318). Sie lassen nicht nur mehr zu sehen, sondern befähigen Kritik an Gegebenem zu üben, innezuhalten und Perspektiven zu wechseln. (ebd., S. 335336)[5]. Einmal mehr wird deutlich, dass es sich bei der Wahrnehmung um einen dauerhaften Prozess handelt (ebd., S. 319), der ontologisch-gesetzten (Denk-)Systemen emanzipatorischen Widerstand leistet.

Mit der Ausrichtung auf die (körperliche) Eingebundenheit des Einzelnen in seiner kulturellen Lebenswelt wird diese als Ort theologischer Erkenntnis (loci theologicus) bedeutsam. (ebd., S. 351) Insbesondere in der „Ausrichtung auf die Zukunft, auf Gott hin“ ermöglicht die wahrnehmungswissenschaftliche Perspektive „mit der Unverfügbarkeit des Subjekts eineentscheidende Grenze religionspädagogischer Forschung.“ (ebd.) Diese eschatologische Grenze legitimiert sich theologisch in meinem Ansatz einer Theologie des Verlassens, die der Gefahr, Religionspädagogik auf analytisches kulturwissenschaftliches Denken zu reduzieren, vorbeugt (vgl. ebd., S. 354). Unter diesen Bedingungen wird die „Welt und das menschliche Leben theologisch konsequent als theologierelevanter Erfahrungsraum (Gottes)“ gedacht, die qualitative Differenz von Gott und Mensch theologisch anerkannt und gestaltet und damit dem Anspruch „korrelativen Denkens“ theologisch entsprochen (ebd., S. 329).

Entscheidend ist, dass globale Religionspädagogik als Wahrnehmungswissenschaft nicht bei den ästhetischen und performativen Herausforderungen der kulturwissenschaftlichen Wende für die Erziehungswissenschaft stehen bleibt, sondern ihr Ertrag theologisch darüber hinausgeht bzw. die Wende unterläuft, will sie denn ihrer globalen Aufgabe, normative Orientierung zu bieten, nachkommen. Bildungspolitisch fordert eine Theologie des Verlassens konsequenterweise ein, neue globale Lernräume zu erschließen, die es ermöglichen, europäische Theologie, Religionspädagogik und religiöse Bildung zu dekolonialisieren. (Silber, 2022)

Literaturverzeichnis

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PD’in Dr. theol. Ulrike Sallandt, Akademische Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Theologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

 

  1. Raum verstehe ich hier zunächst im Anschluss an Marquardts schöpfungstheologische Überlegung im Spannungsfeld von Gabe und Verlust. Anhand der Genesiserzählungen verdeutlicht er die Bedeutung des von Gott geschaffenen Raumes als Lebensraum des Menschen. Als „geschichtlicher Raum“ konstituiere sich dieser „Beziehungsraum von Gott und Mensch“, werde demnach „Raum ihrer gemeinsamen Geschichte“ (Marquardt, 1997, S. 65). In gewisser Nähe zum spatial turn wird der Raum als ein sich immer wieder vollziehender Beziehungs- und Diskursraum sichtbar, der sich eindeutigen Grenzen entzieht, vielmehr die Möglichkeit bietet, Grenzen immer wieder neu zu ziehen.

  2. Die Besonderheit bei Levinas liegt darin, die Unausweichlichkeit ethischen Handelns in der Schöpfung zu verankern. Die ethische Verantwortung bestimmt die menschliche Subjektivität ursprünglich und wird zum Prinzip der Realität. Der Mensch wird im Schöpfungsgeschehen, das Levinas als Beziehung der Trennung versteht, ethisch geboren. Kurz: Er versteht die göttliche Transzendenz ethisch.

  3. Ricœur arbeitet ausgehend von und über Levinas hinausgehend heraus, dass die ethische Dimension, in der sich die unausweichliche Verantwortung begründet, ontologisch in der Grundstruktur des Menschen verankert ist. Dabei bleibt der Andere philosophisch in gewisser Weise als Aporie verborgen (ebd., S. 426).

  4. Dieses produktive Verhältnis muss an anderer Stelle theologisch aus religionsästhetischer Perspektive untersucht werden.

  5. Antje Roggenkamp spricht von der „Verlangsamung des interpretativen Zugriffs“ (dies.: Religionshaltige Popularkultur. Etüden über „implizite“ und „explizite“ Religion am Beispiel „Matrix“, in: Theo-Web 2 (2003),1, 36–46, hier: 45; theologische Überlegungen wie die von Hartmut von Sass über den Perspektivismus (2019) könnten hier zur theologischen Fundierung der Multiperspektivität – die mit dem Fokus auf die Lebenswirklichkeit per se gegeben ist – führen.