Der Einschnitt in universitäre Lehre und schulischen Unterricht war und ist durch die Coronakrise radikal. Die Notwendigkeit digitaler Formate stellt viele pädagogische Selbstverständlichkeiten auf den Kopf: Leibliche Präsenz und Ausstrahlung spielen nur noch am Rande eine Rolle; in „breakout sessions“ ist die Dynamik von Gruppenarbeiten deutlich reduziert; ein Gefühl für die Lerngruppe stellt sich für Lehrende oft nur mühsam ein; ausgeschaltete Videoansichten der Teilnehmenden lassen bei Wortmeldungen Lehrkräfte ins Schwarze blicken. Didaktische Fantasie ist nun im Rahmen des technisch-digital Möglichen auf ganz neue Weise gefragt.

Der Verlust der leiblichen Anwesenheit hat jedoch nicht nur Nachteile: Gehörtes wie auch Schriftliches treten stärker hervor. Die Frage danach, wie ich mich präsentiere, stellt sich anders und ist oft auch weniger zentral. Gemeinsames Arbeiten am schriftlichen Dokument ist durch geteilte Bildschirme und Wiki-Formate möglich und gewinnt an Relevanz. Grundsätzliche Fragen zur Digitalität mit ihren Optionen und die Beschäftigung mit der Realisierung für die Lehre rücken in der religionspädagogischen Diskussion stärker in den Vordergrund als es sonst geschehen wäre – eine digitale (Corona-)Lehre im doppelten Sinn des Wortes.

Angesichts all dieser Umstellungen sind erste wissenschaftliche Einschätzungen und Verortungen eine Hilfe, um die digitalen Erfahrungen zu systematisieren und zu interpretieren. Es versteht sich, dass sich dabei vieles noch im Stadium von Übergängen und auf der Ebene der jeweiligen lokalen Erfahrungen befindet. Dies kann jedoch kein Grund sein, eine völlige Konsolidierung abzuwarten. Vielmehr können die ersten Klärungen auch im Fluss der gegenwärtigen Umstände Impulse geben.

In diesem Sinne fand am 11. September 2020 eine Tagung zum Thema „Digitale (Corona-)Lehre: erlebt, erprobt, evaluiert“ der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik statt – selbstverständlich im digitalen Format. Die Beiträge behandelten jeweils ganz unterschiedliche Situationen, Fragen und Anregungen. Gerade darin sind sie Spiegel einer Situation, die sich in Bewegung befindet und über die dennoch schon Aussagen und Feststellungen gemacht werden können.

Einen ersten Überblick ermöglichen Uta Pohl-Patalong, Silja Leinung und Antonia Lüdtke. Sie machen es sich zur Aufgabe, am Beispiel der Evangelisch-Theologischen Fakultät Kiel eine systematische Erfassung der Lehre in Coronazeiten zu dokumentieren und im Beitrag anschaulich zu visualisieren. Ein solcher Überblick kann die künftige Planung digitaler Lehre an anderen Standorten unterstützen und erleichtern, auch weil eine parallel durchgeführte und in den Beitrag integrierte Evaluation unter Studierenden und Lehrenden Einblick in die Stärken und Schwächen der jeweiligen Formate gibt.  

Ins Detail gehen dann die folgenden Aufsätze, zunächst mit weiteren empirischen Erhebungen. Der erste von Claudia Gärtner, Anna Hans, Lena Tacke und Anika Thanscheidt setzt bei der Lehre an der Universität Dortmund an. Den Autorinnen geht es um religionspädagogische Lernprozesse in den digitalen Lehrveranstaltungen. Fragen nach Individualisierung und Performanz treten dabei in den Vordergrund. In den Blick der empirischen Erhebung kommt neben den Chancen und Herausforderungen aus Sicht der Studierenden auch der religionspädagogische Kompetenzerwerb.

Andrea Dietzsch fasst im Blick auf Erfahrungen in Ludwigsburg einen weiteren, spezifischen Aspekt ins Auge: die Bedeutung der Lehrenden-Lernenden-Beziehung im Religionsunterricht im Gegenüber von Präsenz- und digitalem Unterricht. Im Zentrum dieser qualitativen Studie stehen Aspekte einer gelungenen Lehrenden-Lernenden-Beziehung aus Sicht der SchülerInnen, auch in ihrer Bedeutung für die Qualität des Faches und für das Lerngeschehen.

Durch die letztgenannte Frage nach dem Beziehungserleben ändert sich auch der Blick auf spezifisch religiöse Themen.

Die folgenden drei Aufsätze nehmen jeweils einen exemplarischen, thematischen bzw. methodischen Aspekt auf, den es unter digitalen Voraussetzungen zu bedenken gilt.

Michael Waltemathe hält fest, dass sich die thematische Frage nach der Bewältigung von Kontingenz im Zeitalter oft ungefilterter, digitaler Informationsmöglichkeiten neu stellt. Verschwörungstheorien und die Entwicklung von Meinungsblasen mit eigentümlichen Erklärungsmustern, die sich in den social media gegenseitig verstärken und oft mit abstrusen Details ergänzen, seien auch Antworten auf Verunsicherungen. In der Religionspädagogik könne es nun nicht darum gehen, Kontingenz mit den verbundenen menschlichen Problemen „aufzulösen“, sondern diese auch in ihrer Unauflösbarkeit wahrzunehmen und nach Wegen zu suchen, bleibende Kontingenz zu bewältigen. Dabei sei offenzulegen, wo sich religiöse Annahmen der Überprüfbarkeit entziehen, aber auch darzulegen, dass und wie solche religiösen Annahmen als gangbare Wege erfahren werden können und sich dennoch nicht einer kritischen Prüfung entziehen.

Antje Roggenkamp nimmt exemplarisch das sehr konkrete Beispiel des Theologisierens mit „Digitorials“ auf und reflektiert dazu Erfahrungen mit Studierenden, die sie im Sommersemester 2020 in Münster sammeln konnte. Sie verknüpft auf diese Weise drei Forschungstendenzen der neueren Religions- und Bildungsforschung: Zum einen das wachsende Interesse an der Materialität und Performativität religiöser Praxis, wie sie der Frankfurter Ethnologe Hans Peter Hahn und die Erlanger Praktische Theologin Ursula Roth erforschen,[1] zum anderen das Interesse an neuen Formaten der Wissensvermittlung durch Erklärfilme und Tutorials, die sich mit religiösen Praxen und Artefakten beschäftigen.[2] Darüber hinaus kommt das empirische Forschungsinteresse der sog. Kinder- und Jugendtheologie ins Spiel und wird auf die Frage nach der doppelten Materialität religiöser Bildung, d.h. auf Filme und Artefakte als Unterrichtsgegenstand bezogen.

Stefanie Pfister und Matthias Roser fragen in Anknüpfung an den Soziologen Hartmut Rosa nach „Resonanz“ und Leiblichkeit in der digitalen Lehre. Ihr Aufsatz wertet konkrete digitale Lehrexperimente und Rückmeldungen von Studierenden aus, an denen sich zeigt, dass und wie im digitalen Raum entsprechende Erfahrungen angebahnt werden können. Zwar sei es schon in herkömmlichen, in Präsenz durchgeführten Lehrveranstaltungen herausfordernd, der leiblichen Dimension gerecht zu werden. Wenn Dozierende und Studierende es aber wagten, in digitalen Lernarrangements etwas von ihrem Privatraum zu zeigen – sei es das heimische Bücherchaos, seien es persönlich relevante religiöse Fragen –, dann eröffneten sich unerwartete Resonanz- und Beziehungsräume. Die Unwägbarkeiten und Chancen digitaler Lehre gehen Hand in Hand.

Die Corona-Krise ist noch nicht ausgestanden, ein zweites weitgehend digitales Semester liegt vor uns. Die vorliegenden Ansätze können aber vielleicht mit ihren Impulsen, Systematisierungen sowie mit ihren Fragen helfen, die wissenschaftliche Aufarbeitung voranzutreiben und zukunftsweisend auch praktische Möglichkeiten aufzuzeigen.

  1. Vgl. zuletzt: Anne Gilly/Ursula Roth (Hrsg), Die religiöse Positionierung der Dinge. Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis, Stuttgart: Kohlhammer (erscheint Ende 2020).

  2. Pars pro toto sei verwiesen auf relithek.de – Ein Multimediaportal zur (inter)religiösen Verständigung und Bildung (www.relithek.de).