Vorbemerkung

Der folgende Essay ist aus einem Vortrag im Rahmen einer Tagung entstanden, bei der es um „Narrative in Gesellschaft und Religionspädagogik“ ging.[1] Das gestellte Thema des Vortrags, Narrative – Funktionen, Chancen und Grenzen in der religionspädagogischen Forschung, sowie die möglicherweise mit der Themenstellung geweckten Erwartungen der Zuhörenden eröffnen, nun ja, ein weites Feld. Angesichts der zur Verfügung gestellten Zeit und der üblichen Bereitschaft zur Aufmerksamkeit habe ich mich daher mit Blick auf die doch irgendwie notwendige didaktische Reduktion entschieden (Lehramtsstudierende bitte den Rest des Absatzes überspringen!): Ich werde die Weite und Komplexität des Feldes weitestgehend ignorieren und mich von drei assoziativ miteinander zu verbindenden Leitbegriff-Wolken durch das Feld führen lassen. Diese Wolken bestehen aus den Wörtern

  1. White/Brown/Braun/Schwarz,

  2. Charles/Charlie/Carl/Karl,

  3. Haden/Hayden/Haydn/Heiden.

Erster positiver Nebeneffekt: Damit kann konterkariert werden, was im Folgenden behauptet wird, nämlich dass unser Sprechen, Denken und Forschen geprägt ist durch uns kulturell vorgegebene narrative Strukturen, denen wir auch in Forschung und Vortrag folgen; man kann sich eben auch assoziativ und sprunghaft fortbewegen. Zweiter positiver Nebeneffekt: Die gerade aufgestellte Behauptung wird dann doch widerlegt, weil das Endergebnis des folgenden Textes formal eben doch den (Narrations-)Mustern „wissenschaftlicher“ Textproduktion folgt; die Richtigkeit des Inhalts erweist sich also mit Blick auf die Form.

Eigentlicher Einstieg

Unter Theologinnen und Religionspädagogen ist ein Cartoon von Charles M. Schulz beliebt, in dem Charlie Browns Freund Linus ein Schild mit der Behauptung „Christ is the answer“ hochhält. Auf dem zweiten Bild fragt Snoopy auf einem anderen Schild: „What was the question?“ – Vielleicht fühlt sich der eine oder die andere dabei ertappt (oder meint die anderen zu ertappen), in der Art von Linus Antworten zu geben, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, auf welche Fragen man sich damit explizit oder implizit bezieht.

Mir scheint, damit sind wir schon beim Thema: Je nachdem, wie in einem Gespräch oder einer Erzählung verschiedene Elemente wie Frage und Antwort aufeinander bezogen sind, verändert sich das Gespräch oder die Erzählung. Das Muster, das einer solchen Erzählung oder Narration zugrunde liegt, also das Narrativ, bietet den Rahmen, der unsichtbar bleibt – zumindest solange, bis man die Beobachtungsposition wechselt und genau diesen Rahmen in den Blick nimmt.

Genau das soll hier gemacht werden, indem gefragt wird, welche Narrative eigentlich der religionspädagogischen Forschung zugrunde liegen und wie diese Narrative die Forschung prägen.

Zunächst ist dabei eine Unterscheidung wichtig: Narrative können zum einen innerhalb von verschiedenen Disziplinen als Objekt der Forschung untersucht werden. Zum anderen prägen Narrative selbst die Forschung. Wer nach den Narrativen des eigenen Faches fragt, verbindet daher beide Perspektiven.

Narrative als Forschungsobjekte

Wer jeweils fachspezifisch nach Narrativen fragt, lenkt den Fokus auf Erzählstrukturen in einem weiteren Sinn. Das Erzählen muss dabei nicht mit Worten erfolgen. Auch Bilder und Klänge beziehen sich auf viele verschiedene Arten auf die Inhalte von Narrativen oder lassen sich als geprägt durch narrative oder narrationsähnliche Formen rekonstruieren. Deshalb als erstes Beispiel ein Bassist, ausgewählt aufgrund seines Namens: Charlie Haden ‚„erzählt“‘ mit seinem Kontrabass im Duett mit dem Gitarristen Pat Metheny „Short Stories“ – so der Untertitel des gemeinsamen Albums „Beyond the Missouri Sky“ aus dem Jahr 1997. Wie Geschichten aus Wörtern einen Anfang und einen Schluss haben und eine plot-Struktur, so auch Musikstücke, deren Struktur sich ebenfalls formal(istisch) beschreiben lässt – selbstverständlich geht das auch, ohne dabei von ‚„Narrativen“‘ zu sprechen: Die Grobstruktur (Makroebene) des Eröffnungsstückes des Albums, „Waltz for Ruth“, besteht aus einem Song von 32 Takten, der zu Beginn und zum Schluss gespielt wird. Dazwischen improvisieren erst Metheny, dann Haden über das Thema und die Harmoniewechsel (changes). Auf der Mesoebene lässt sich die Struktur des 32-taktigen Songs selbst betrachten: Dieser ist, einer klassischen Song-Struktur entsprechend, in viermal acht Takte gegliedert, wobei das Thema der ersten acht Takte im zweiten und dritten Teil variiert wird (jeweils eine Sekunde höher bzw. eine Sekunde tiefer beginnend); im vierten Teil finden wir, typisch für Schlussteile, eine Kadenz, hier als längere Quintfallsequenz. Mit Blick auf die Mikroebene sehen wir, dass das Thema in den ersten acht Takten aus einem zweitaktigen Motiv entwickelt wird; dieses Motiv wird zweimal, jeweils eine Sekunde absteigend, mit kleinen Änderungen wiederholt. – Insgesamt ist „Waltz for Ruth“ also, formal betrachtet, recht konventionell, zumal für ein Jazz-Album aus den späten 1990er Jahren.

Ganz anders übrigens ein früheres Album, an dem Charlie Haden mitgewirkt hat: „Free Jazz“ von Ornette Coleman und seinem Doppel-Quartett, veröffentlicht 1961. Das Album, dessen Name bekanntermaßen zur Bezeichnung eines ganzen Genres wurde, besteht aus einer mehr als halbstündigen Kollektiv-Improvisation. Allerdings ist auch „Free Jazz“ alles andere als strukturlos. Es hat einen Anfang und ein Ende, und dazwischen ist die gemeinsame Improvisation dadurch gegliedert, dass jeder der acht Musiker (Musikerinnen waren nicht beteiligt) alleine oder zu zweit für etwa fünf Minuten in den Vordergrund tritt – mit Ausnahme des Bandleaders himself, der sich etwa zehn Minuten im Rampenlicht nimmt. Wir sehen hier schon: Narrative und Narrationen haben auch etwas mit Macht zu tun, mit ungleicher Verteilung der Aufmerksamkeit, ungleicher Verteilung mit Blick darauf, wer mehr oder weniger lang erzählen kann und wer mehr oder weniger gehört wird. (Dass es freilich auch möglich ist, ohne Bandleader oder andere Art von Führer oder Führerin zusammenzuspielen, zeigt die weitere Geschichte des Free Jazz.)

Man kann darüber streiten, ob es mit Blick auf „Waltz for Ruth“ und „Free Jazz“ – oder auf eine Symphonie von Joseph Haydn, eine Messe von Carl Maria von Weber – sinnvoll ist, von einem ‚„Narrativ“’ zu sprechen. Natürlich lassen sich auch ohne Verwendung dieses Begriffs Strukturen und Muster der Stücke beschreiben und kann man erzählen, wie hier ‚„erzählt“‘ wird. – Wir werden darauf zurückkommen.

Vorher aber zu einem zweiten Beispiel, nun aus dem Bereich der Religionswissenschaft und Medienwissenschaft: In seiner Dissertation zum „Mediendiskurs Islam“ untersucht Tim Karis „Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979–2010“ (so Titel und Untertitel von Karis, 2013). Im Sinne des narrative turn geht Karis (2013, S. 89) von der „Überzeugung [aus], dass […] Wissen in Form von Narrativen geordnet und einzig in Form von Narrativen zugänglich ist”. Dabei versteht er mit Willy Viehöver „die Unterstellung narrativer Strukturen als ein ‚hypothetisches Instrument’“ und Narrative als „heuristische Konstrukte, d. h. die herausgearbeiteten Narrative werden als Konstruktionen des Forschers und nicht als ‚real‘ vorhandene Narrative verstanden, die durch den Forscher lediglich sichtbar gemacht würden. Es gehe also in der Analyse nicht darum, die ‚wahre‘ Ordnung des Diskurses zu ergründen, sondern um eine methodisch nachvollziehbare Interpretation der medialen Daten, die eine kritische Betrachtung ermöglichen soll.“ (Karis, 2013, S. 89) Daran anknüpfend, analysiert er das Wechselverhältnis zwischen Tagesthemen-Beiträgen und Islam-Narrativen: Die einzelnen Beiträge bilden danach die unterschiedlichen Narrative, jeweils zusammen mit anderen Beiträgen (auch aus anderen Medien) und zusammen mit anderen Äußerungen zum Islam; diese Narrative wiederum wirken jeweils auf die Einzelbeiträge, die die Deutungsmuster der Narrative aufrufen – und ihrerseits, siehe oben, die Narrative laufend fortschreiben (ebd., S. 94–95). Narrative sind nach Karis also „Strukturelemente eines Mediendiskurses, in denen Wissen bezüglich des Gegenstandes des Mediendiskurses geordnet ist“ (ebd., S. 96).

Obwohl inhaltlich unterschiedlich gefüllt, ähneln sich diese Islam-Narrative formal: Es wird jeweils ein „Normalzustand” als Ausgangspunkt vorausgesetzt („ein retrospektiv unterstellter Zustand des Gleichgewichts“); es gibt eine „Entwicklung“ (als Umgang „mit Störung selbst und ihren Folgen und Folgeereignissen“); die Störung wird ausgelöst durch einen oder mehrere „Täter“, die den „von der Störung Betroffenen“, also den „Opfern”, entgegengestellt werden können; schließlich lassen sich „Varianten der Auflösung“ identifizieren, also eine „Aufhebung der Störung bzw. […] Wiederherstellung des Normalzustands – möglicherweise auf höherem Niveau“ (ebd., S. 96). Dies konkretisiert Karis in der Beschreibung der von ihm herausgearbeiteten Islam-Narrative „Der Aufstieg des Fundamentalismus“, „Der Niedergang des alten Orients“, „Der Clash of Civilizations“, „Der islamistische Terrorismus“, „Das Problem der Integration“ und „Die Diskriminierung der Muslime“ (ebd., S. 161–304).

Wenn hier von einem ‚„Narrativ“‘ die Rede ist, dann geht es vorrangig also nicht um die formalistische Frage, mit welchen formalen Mustern erzählt wird, sondern darum, wie diese Formen inhaltlich gefüllt werden. – Auch darauf kommen wir zurück.

Narrative (in) der Forschung einer wissenschaftlichen Disziplin

Die Untersuchung der narrativen Strukturen innerhalb der eigenen Fachdisziplin ist schon lange etabliert in der Geschichtswissenschaft, wenn Historiker die Beobachtungsposition wechseln und, statt Geschichtsdarstellungen zu schreiben, mit literaturwissenschaftlichen Instrumenten narrative Strukturen in den Texten anderer Historiker analysieren. Prominent ist in diesem Zusammenhang Hayden White mit Werken wie Metahistory (engl. 1973; deutsche Übersetzung 1991) oder den Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism (engl. 1978; die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses erstmals 1986). Hayden White interessiert sich als ‚Formalist‘ für Narrative als die narrativen Formen, mit und in denen Geschichte erzählt wird, und weniger für die Inhalte. Mit dem Begriff des „emplotment“ beispielsweise weist White darauf hin, dass ein Historiker vergangenes Geschehen jeweils anders deutet und erklärt, je nachdem, mit welcher „plot structure“ er es versieht (White, 1975, S. 7). Der Begriff des „emplotment“ impliziert, dass das, was in der Vergangenheit ‚„wirklich geschehen“‘ sei, in Geschichtsschreibung nicht einfach abgebildet, sondern ‚„erschaffen“‘ wird: „In the poetic act which precedes the formal analysis of the field, the historian both creates his object of analysis and predetermines the modality of the conceptual strategies he will use to explain it.“ (ebd., S. 31)

Axel Rüth (2012, S. 23) stellt fest, dass „nur die wenigsten“ noch White in der These folgen, „dass die unbewussten ‚präkognitiven‘ sprachlichen Entscheidungen grundsätzlicher und wesentlicher sind als die bewusst stattfindende methodische Reflexion des Historikers, dass die Geschichte also keine Historik, sondern nur eine Poetik habe.“ Die „gesellschaftliche und kulturelle Funktion der Historiographie“ setze vielmehr einen „Wahrheitsanspruch nach den Standards einer wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft“ voraus: „Die Geschichten der Historiker sind also nicht nur aus sich heraus überzeugend, sondern der Historiker muss auch explizit erklären, warum sie einen bestimmten Verlauf und nicht einen anderen nehmen. So gesellt sich zur Geschichte an sich eine sie permanent begleitende erläuternde Rede über Methode, Theorien, Fragestellungen, Quellen und Begriffe.“ (ebd., S. 34) Dennoch bleibt „die Einsicht in den Konstruktcharakter von Geschichte“ unhintergehbar, eine Einsicht, „die es ermöglicht zu zeigen, dass Geschichtsschreibung nicht einfach historische, also textexterne Wirklichkeiten, nachahmt, sondern historiographische Texte auch Strukturen konstruieren und Texteffekte inszenieren können, also Geschichte als Konstrukt wiedererstehen lassen“ (Jaeger, 2009, S. 120–121).

Mit Blick auf die religionspädagogische Forschung ließe sich daraus vielleicht lernen: Die religionspädagogische Forschung bezieht sich nicht einfach auf Probleme, die in der Welt gegeben sind, sondern sie konstruiert und inszeniert die Welt auf eine Art und Weise, dass sie (fast könnte man sagen: endlich) Probleme bekommt, die sie dann (fast könnte man sagen: endlich) bearbeiten kann. Welche Probleme das sind, hängt aber von dem plot ab, mit und in dem das Problem narrativ als Problem plausibilisiert wird: Wer die europäische Gesellschaft als von Traditionsabbrüchen gekennzeichnet sieht (vgl. Dressler, 2003) und dem Christentum trotzdem immer noch eine hohe Bedeutung zuweist, der sieht und bearbeitet möglicherweise Probleme, die andere Menschen gar nicht haben – was nicht ausschließt, dass diese Problembeschreibung im Rahmen des religionspädagogischen Fachdiskurses (und teils auch außerhalb) in gewissen Kreisen höchst plausibel sein kann. Insofern ist die Frage, wie eigentlich Plausibilität hergestellt wird und welche Rolle Narrative darin spielen, auch für die Religionspädagogik relevant. Folgt man der idealtypischen Unterscheidung von Christian Klein und Matias Martínez (2009, S. 6), die deskriptive, normative und voraussagende Wirklichkeitserzählungen unterscheiden, so zeigt sich an diesem Beispiel, dass in der Religionspädagogik eine Wirklichkeit von Säkularisierung zunächst beschrieben wird: Was ist? Antwort: Traditionsabbruch. Diese Wirklichkeit wird dann in der Religionspädagogik, anders als gemeinhin in der Geschichtswissenschaft, normativ evaluiert: Was soll sein? Antwort: Verstehen von Religion (und deshalb performative Religionsdidaktik, die religiöse Ausdrucksformen ‚„künstlich“‘ tradiert). Schließlich entfaltet sich die Plausibilität dieser Aussagen mit Blick auf die voraussagend entworfenen Zukunftsszenarien: Was wird sein? Antwort: Entweder ein fortschreitender Verlust einer wesentlichen Dimension des Menschseins – oder religiöse Bildung.

Im Folgenden soll Hayden Whites formalistische und mit Blick auf die eigene Disziplin selbstreflexive Perspektive verbunden werden mit Tim Karis’ methodischen Ansatz, Narrative zu rekonstruieren und inhaltlich zu beschreiben.

Narrative (in) der religionspädagogischen Forschung – Das Beispiel des „Inter"

Lassen sich mithilfe des Schemas, das Karis verwendet, religionspädagogische Narrative beschreiben? Schauen wir zunächst auf die gemeinsame Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik (AKRK) und der Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik (GwR) in Trier 2021, auf der – auch zum Thema Narrative in der religionspädagogischen Forschung – für jeden Programmpunkt zwei Menschen vorgesehen sind, von denen jeweils eine Person als „katholisch“ angenommen wird, die andere als „evangelisch“. Vorausgesetzt, es handelt sich nicht schlicht um Zufall, dass interkonfessionelle Paare gebildet wurden – welches Narrativ könnte dann im Hintergrund stehen? Wenden wir das Schema an, mit dem Tim Karis arbeitet: Der vorausgesetzte „Normalzustand“ als Ausgangspunkt ist dann wohl ein geeintes Christentum (zumindest Westchristentum; die Orthodoxen gehören möglicherweise in diesem Narrativ nicht zu „uns“). Die „Störung“, die eine „Entwicklung“ in Gang setzt, ist möglicherweise die Reformation (je nach Sicht als Erneuerungs- und Freiheitsbewegung oder als Abfall von Glauben und Kirche). Darüber, wer der oder die „Täter“ sind, ließe sich trefflich streiten. In Frage kommen: Martin Luther und Konsorten, Papst und Kaiser Karl V. oder gleich der Teufel höchstselbst (darauf können sich einige Evangelische und einige Katholiken einträchtig einigen, auch wenn es Meinungsverschiedenheiten bei dessen Identifikation mit menschlichen Personen geben dürfte). Ebenso sind mehrere potentielle „Opfer“ in Betracht zu ziehen: möglicherweise wir alle, die wir unter den Bedingungen anhaltender Kirchenspaltung leben, möglicherweise auch Jesus Christus selbst, dessen Bitte, „ut omnes unum sint“ (Joh 17,21) missachtet wird, oder gar die „braunen“ und „schwarzen“ „Heiden“, die aufgrund der Unglaubwürdigkeit einer gespaltenen Christenheit nicht zum Heil geführt werden? Die Störung lässt sich schließlich auflösen, der Normalzustand (auf höherer Ebene) erreichen, indem der katholische AKRK und die evangelisch geprägte GwR eine gemeinsame Jahrestagung durchführen oder die dort Anwesenden sich dafür aussprechen, dass ihre Schriften zur ökumenischen Religionsdidaktik und ihre Materialien für konfessionell-kooperierenden Religionsunterricht breiter rezipiert werden.

(Ich bin mir nicht sicher, wie ernst der Verfasser dieses Textes es mit der Beschreibung eines solchen religionspädagogischen Ökumene-Narrativs meint. Aber möglicherweise lindert es tatsächlich die Schmerzen der narzisstischen Kränkungen, weder etwas biologisch anderes als ein Tier noch Herr im eigenen Haus oder gar Mittelpunkt des Universums zu sein, wenn man den eigenen Ort in einem halben Jahrtausend abendländischer Geschichte sinnstiftend definieren kann.)

Schauen wir auf ein anderes aktuell relevantes Beispiel, das interreligiöse Lernen: Nimmt man als Quelle das neue Standardwerk, die Grundlagen interreligiösen Lernens von Karlo Meyer, dann findet man in der „Hinführung“ (Meyer, 2019, Kap. 0, S. 13–20) die Beschreibung eines Normalzustands bzw. Ausgangspunkts. Der erste Satz des Buches lautet: „Der Religionsunterricht ändert sich“ (ebd., S. 13); in den Blick kommt dabei eine vielfältige Pluralisierung – die externe Pluralisierung durch die Einführung weiterer Religionsunterrichte (islamisch, jüdisch, orthodox etc.) neben dem evangelischen und dem katholischen sowie die interne Pluralisierung in den Lerngruppen, weil evangelischer wie katholischer Religionsunterricht offen ist für alle Schülerinnen und Schüler, ungeachtet ihrer Konfessionszugehörigkeit oder -nichtzugehörigkeit, und weil sich in einigen Ländern offiziell, in anderen unter der Hand verschiedene Formen eines gemeinsamen (religionskundlichen oder interreligiösen) Religionsunterrichts etabliert haben. Die Aussage zur Veränderung des Religionsunterrichts impliziert einen Ausgangspunkt, in dem es keine oder zumindest weniger Pluralität gegeben haben muss, also eine zumindest situative (bi)konfessionelle Homogenität und Übersichtlichkeit. Dieser implizierte Ausgangspunkt ist insofern interessant, als Karlo Meyer sonst kein Homogenitäts-Narrativ bedient, sondern dies gerade (implizit und explizit) hinterfragt. Dies geschieht etwa durch den Vergleich mit mäandernden Flüssen, der die Schwierigkeit veranschaulicht, die Grenzen einer religiösen Tradition wie „des“ Judentums, Christentums oder Islams zu bestimmen, die in sich zudem als vielfältige Judentümer, Christentümer und Islame existieren – wo das Flussbett des Hauptstroms ist und was als Nebenfluss zu gelten habe oder als gar nicht mehr dazugehörend, ist in der Regel durchaus umstritten (ebd., S. 22–27). Auch der Ansatz beim Individuum (ebd., Kap. 10) dient dem Ziel, religiöse Traditionen nicht essentialisierend zu beschreiben, sondern durch den Bezug darauf, wie Menschen jeweils auf individuell spezifische Weise in einer religiösen Tradition schwimmen, das Bewusstsein offen zu halten dafür, dass andere Individuen die gleiche religiöse Tradition anders auslegen und vielleicht im gleichen Strom baden, aber nicht in dasselbe Wasser gestiegen sein können.

Springen wir gleich ans Ende des Plots, zu den „Varianten der Auflösung“, also der Aufhebung der Störung und/oder Wiederherstellung des Normalzustands. Dabei bewegen wir uns nicht mehr im Bereich der Beschreibung, sondern der normativen und voraussagenden Wirklichkeitserzählungen. Der Plot in Karlo Meyers Buch zielt nicht auf eine Wiederherstellung von (vermeintlicher) Homogenität und Übersichtlichkeit ab, sondern (normativ) auf einen bestimmten Umgang mit Heterogenität und Unübersichtlichkeit. „Ziel“ und „gesellschaftliche Notwendigkeit“ (so die Überschrift 0.2.2; Meyer, 2019, S. 18) sei es, „das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Traditionen zu verbessern“ (ebd., S. 18). Wie dies geschehen könne, zeigt in der Hinführung zu Beginn des Buches der Hinweis auf die „Utopie einer idealen Schülerin oder eines idealen Schülers am Ende einer Schullaufbahn mit regelmäßigen Unterrichtseinheiten interreligiösen Lernens“, der oder die über die „Fähigkeit und Bereitschaft [verfügt], in Überschneidungsbereichen religiöser Traditionen konstruktiv als Akteur auftreten zu können“ (ebd., S. 17). Hier wird vorweggenommen, was Karlo Meyer später in Kap. 6 ausführlich entfaltet, nämlich sein Modell von vier Religionenerschließungsmodi (ebd., S. 162–208). Aber (hier kommt, wenn nicht ein „Täter“, so doch ein Widersacher in den Blick) im „schulischen Bereich wird das Fach oft stiefmütterlich behandelt. Auch gesamtgesellschaftlich ist die Förderung von Projekten auf diesem Gebiet begrenzt […]. Der gesellschafts- wie schulpolitische Rückhalt bleibt also trotz der unmittelbar einsichtigen Notwendigkeit schwankend.“ (ebd., S. 18–19)

Wie wird dann trotzdem das Ziel erreicht? Die Annäherung an die „Utopie“ wird erwartet von einer Veränderung der Kompetenzen, Motivationen und Handlungen Einzelner (vgl. oben, Meyer, 2019, S. 17: „Fähigkeit und Bereitschaft“ der idealen Schülerin oder des idealen Schülers), initiiert durch „interreligiös kompetente Professionelle“, die entsprechende Bildungsprozesse anleiten – deshalb ein solches Buch. Die „Heldinnen“ und „Helden“ der Erzählung, die „Täter“ im positiven Sinne, sind damit die lernbereiten Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte sowie, im Hintergrund, die wissenschaftliche Religionspädagogik. Was bringt’s? Was bringt es uns nun, wenn wir ein Buch von über 400 Seiten, hier exemplarisch für einen ganzen Forschungszweig innerhalb der Religionspädagogik, ins Prokrustesbett eines Narrativ-Schemas zwingen und damit weder der interreligiös orientierten Religionspädagogik noch dem Buch und erst recht nicht seinem Verfasser gerecht werden?

Möglicherweise eröffnet dieses Vorgehen Reflexionsräume und den Blick auf alternative Forschungs- und Handlungsoptionen, indem man fragt: Was könnte bei diesem Narrativ aus dem Blick geraten? Was würde sich beispielsweise ändern, wenn man die Erzählung damit beginnt, dass Heterogenität der weltgeschichtliche Normalfall ist und keine „Störung“? Und was, wenn der Hinweis darauf, dass die religiös heterogene Gesellschaft geprägt ist durch Machtstrukturen und Dominanzverhältnisse, zentraler Teil der narrativen Struktur wäre? (Im Verlauf des Buches weist Karlo Meyer durchaus darauf hin, „dass es im realen Geschehen immer auch um Dominanzfragen geht“; vgl. Meyer, 2019, S. 50).

Eine veränderte Beschreibung der Herausforderung könnte dann einhergehen mit einer Akzentverschiebung bei den Bearbeitungsstrategien: So richtig es ist, dass Individuen Gesellschaft und Politik gestalten, so wäre es doch auch eine Überforderung, wenn man von Individuen, hier von Heranwachsenden, erwartete, das „Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Traditionen zu verbessern“ (ebd., S. 18). Einerseits ist es im Rahmen von (Religions-)Pädagogik und (religions-)pädagogischen Narrativen so verständlich wie unvermeidbar, den Blick auf die Lernenden in Bildungsprozessen zu richten. Andererseits bewirkt die (in einem religionspädagogischen Werk natürlich naheliegende) pädagogische Akzentuierung der Erzählung eine Schlagseite hin zum Versuch einer pädagogischen „Lösung“ von Herausforderungen, wodurch andere Formen der Bearbeitung ausgeblendet zu werden drohen. Eine Pädagogisierung politischer Probleme in gesellschaftlichen Konstellationen von Ungleichheit würde aber zu kurz greifen, weil Schule und Religionsunterricht als Sozialisationsinstanzen zwar nicht ohne Einfluss sind, aber kaum oder allenfalls mittelbar und höchstens sehr langfristig gedacht die politischen, rechtlichen oder ökonomischen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens verändern und verbessern – und deshalb auch nur in engen Grenzen das Zusammenleben selbst. Die Rolle von (interreligiöser) Pädagogik würde in dieser Konstellation daher anders bestimmt werden, wenn auf andere Narrative Bezug genommen würde. Dann müsste beispielsweise der Einfluss eines Islamdiskurses in den Medien, von dessen Narrativen die Schülerinnen und Schüler geprägt sind, systematisch in die religionspädagogischen Überlegungen einbezogen werden. Zu bedenken wäre dann beispielsweise vor diesem Hintergrund der Umgang mit dem Wunsch von einigen hochreligiösen muslimischen Jugendlichen, auf die Thematisierung von (ihrer) Religion in der Schule lieber ganz zu verzichten, weil sie nicht einer Form der Thematisierung ausgesetzt sein wollen, in der sie keine Definitionsmacht über die eigene Religion haben und massiven Fremdzuschreibungen ausgesetzt sind (Willems, 2017a; Willems, 2017b).

Ge- und hinterfragt werden könnte dann auch, wie viel Konflikt eigentlich die Zielvorstellung eines „Managens“ von Heterogenität zulässt. Haben wir es in Karlo Meyers Narrativ möglicherweise mit einer recht harmonischen Erzählung zu tun, die den meisten akademisch arbeitenden Religionspädagoginnen und Religionspädagogen nahe liegt, weil sie (also wir, wenn ich Sie als Leserin oder Leser von Theo-Web ungefragt mit einschließen darf) Heterogenität schätzen und von gesellschaftlichen Positionen aus sprechen, auf denen sie kein Interesse an Konflikten haben, weil sie mehr verlieren als gewinnen können – zumindest wenn es um die Differenzdimension Religion geht? Ziehen wir nicht sogar ökonomischen Gewinn aus unseren interreligiösen Narrativen, weil wir die „Heldinnen“ und „Helden“ in der Erzählung sind, nämlich die gesellschaftlich unverzichtbaren interreligiös kompetenten Professionellen und die, die weitere solcher Professionellen ausbilden?

Freilich, wenn man ausgehend von diesen Fragen und Überlegungen eine interreligiös orientierte Religionspädagogik anders konzipiert als Karlo Meyer, dann entstehen unweigerlich andere blinde Flecken. Diese könnten und müssten unter anderem durch die Analyse der dann zugrunde liegenden Narrative benannt werden. Der Wechsel des Narrativs ist eben ein Wechsel des Narrativs und kein Sprung aus der narrativ strukturierten Wirklichkeit heraus in eine Wirklichkeit, wie sie wirklich ist. Ein (Zwischen-)Fazit zum Abschluss Wissenschaftliche Religionspädagogik kann sich ein Stück weit – und vielleicht sogar noch ein klein wenig weiter – über sich selbst aufklären, wenn sie selbstreflexiv versucht, durch einen Wechsel der Beobachtungsposition offen zu legen, welche die in der eigenen Forschung vorherrschenden Narrative sind und damit auch, welche Voraussetzungen, Vorannahmen, Kontextkonstruktionen mitlaufen, die sonst unbeobachtet und unbewusst bleiben. Eine solche Religionspädagogik erhöht sowohl die eigene wissenschaftliche Qualität (was auch immer das sein soll) als auch die eigene gesellschaftliche Relevanz, wenn es ihr durch die Selbstreflexion der eigenen Narrative gelingt, diese Narrative zu öffnen hin auf die Narrative von Personen und Gruppen, die sonst in der religionspädagogischen Forschung keinen Widerhall finden.

Ob es dazu nötig ist, den Begriff Narrativ und die damit verbundene Begriffsfamilie zu verwenden, ist eine andere Frage. Einerseits ermöglicht es der Begriff, Anschlusspunkte an die Diskurse in anderen wissenschaftlichen Disziplinen klar zu benennen. Andererseits gibt es eine Reihe von alternativen Begriffen und theoretischen Ansätzen – ich denke etwa an die Luhmann-Rezeption (nicht nur) in der konstruktivistischen Religionspädagogik –, mit denen man ebenfalls die Beobachtungsposition wechseln kann, um selbstreflexiv den Konstrukt-Charakter der eigenen Forschung aufzuzeigen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Literaturverzeichnis

Dressler, B. (2003). Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch. In T. Klie & S. Leonhard (Hrsg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik (S. 152–165). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Jaeger, S. (2009). Erzählen im historiographischen Diskurs. In C. Klein & M. Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (S. 110–135). Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.

Karis, T. (2013). Mediendiskurs Islam. Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979-2010. Wiesbaden: Springer VS.

Klein, C. & Martínez, M. (2009). Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In C. Klein & M. Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (S. 1–13). Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.

Meyer, K. (2019). Grundlagen interreligiösen Lernens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rüth, A. (2012). Narrativität in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. In M. Aumüller (Hrsg.), Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung (S. 21–46). Berlin: De Gruyter.

White, H. (1973). Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore & London: The Johns Hopkins University Press.

Willems, J. (2017a). „Dann merke ich auch hier, ich bin der Moslem“: Interreligiöse Kompetenz und Differenz, Diversität, Dialogizität. In S. Alkier, M. Schneider & C. Wiese (Hrsg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten (S. 360–378). Berlin: De Gruyter.

Willems, J. (2017b). The Position of Muslim Pupils in Discourses at German Schools: Two Accounts. PrTh, 21(2), S. 194–214. Dr. Dr. Joachim Willems, Professor für Religionspädagogik am Institut für Ev. Theologie und Religionspädagogik der Universität Oldenburg.

  1. „Wenn sich die Mitte auflöst…“ – Große und kleine Narrative in Gesellschaft und Religionspädagogik. Jahrestagung von AKRK (Arbeitsgemeinschaft Katholische Religionspädagogik und Katechetik) und GwR (Gesellschaft für wissenschaftliche Religionspädagogik), 10.9.–12.9.2021, Robert-Schuman-Haus Trier.