1 Standortbestimmung oder Bestandsaufnahme

Im Juli 2019 erschien in der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) die Broschüre „Verbindungen knüpfen – Bindungen stärken. Kirchliche Bildungsarbeit in Zeiten zunehmender Konfessionslosigkeit“. Diese Broschüre wurde von der Bildungskammer der EKKW, deren Vorsitzende ich bin, in den Jahren 2017 bis 2018 erarbeitet. Den Auftrag dazu erhielt die Bildungskammer als Ratsausschuss vom „Rat der Landeskirche“, einem zentralen kirchenleitenden Gremium der EKKW. Die Einleitung dieser Broschüre wurde von der Theologischen Kammer der EKKW diskutiert und kommentiert. Ebenso wurde der vollständige Entwurf dieser Broschüre im Sommer 2018 im Rahmen eines Studientages für Vertreter*innen aller Bereiche und Handlungsfelder der EKKW zur Diskussion gestellt. Alle Anmerkungen und Ergänzungswünsche wurden gesammelt, in der Bildungskammer diskutiert und bewertet. Sie flossen in die Überarbeitung der Broschüre ein, die dann im Sommer 2019 vorgelegt werden konnte. Die Broschüre wurde erstmals während einer Dekanekonferenz vorgestellt und diskutiert sowie im Anschluss daran auf mehreren Pfarrkonferenzen. Dabei konnten auch weitere Beispiele guter Praxis gesammelt werden, die in der Broschüre nicht erwähnt werden und ergänzt werden könnten. Allerdings hatte die Bildungskammer sich entschieden, keinesfalls Vollständigkeit anzustreben, sondern stattdessen exemplarisch zu arbeiten. An einem Wochenende im November 2019 fand außerdem das „Forum Konfessionslosigkeit“ in der Tagungsstätte in Hofgeismar statt, zu dem breit eingeladen wurde (auch Kirchenvorsteher*innen und andere ehrenamtlich Engagierte). Über 100 Personen diskutierten die mit dem Thema verbundenen Herausforderungen und Praxisbeispiele und entwickelten neue Ideen. Am Ende wurde nachdrücklich gewünscht, dass ein solches Forum auch in den Regionen stattfinden müsse. Wenige Tage nach diesem Forum trafen sich die Dekane*innen, die Kirchenkreisamtsleitungen und die Kirchenkreisvorstände, um die Ergebnisse der „Freiburger Studie“ bezogen auf die EKKW zur Kenntnis zu nehmen und verbunden mit der Thematik Konfessionslosigkeit zu diskutieren sowie erste Schlussfolgerungen zu formulieren. Dann kam die Pandemie und stoppte einerseits diesen intensiven Prozess, andererseits machte sie die Herausforderungen umso deutlicher. Warum und wozu diese Skizze? Sie verdeutlicht, wo und wie die Thematik in der EKKW bereits bearbeitet wird und zu welchen Ergebnissen das geführt hat. Diese Sichtung ermöglicht Vernetzung und Kooperation sowie zielgerichtete Impulse.

2 Der EKD-Grundlagentext - eine anregende Lektüre

Im Folgenden folge ich den Kapiteln der Broschüre in der Form einer Relektüre. Dabei fasse ich meine Lesefrüchte jeweils thesenartig zusammen.  Anmerkungen und Ergänzungen schließen sich an.

2.1 Einleitung und Kapitel 1

Zunächst wird das Phänomen Konfessionslosigkeit sorgfältig wahrgenommen und differenziert beschrieben.

These: Alle Handlungsfelder kirchlicher Arbeit sind von der Herausforderung zunehmender Konfessionslosigkeit betroffen.

Dieser These stimme ich uneingeschränkt zu. Gleichzeitig frage ich mich allerdings, ob sie auch in gleicher Weise bzw.  in der gleichen Intensität betroffen sind. Ich kann das nicht beurteilen. Gibt es dazu einschlägige empirische Daten?

Vorrangig hat der „Grundlagentext“ jedenfalls den Bildungsbereich im Blick. Für diesen Bereich werden Kontaktflächen entdeckt und Herausforderungen, Aufgaben und Ziele benannt. Mehr oder weniger bewährte empirische Daten können in allen Handlungsfeldern des Bildungsbereiches in der EKKW vorgelegt werden. Außerdem hat das Comenius Institut mit der Ev. Bildungsberichterstattung in dieser Hinsicht hervorragende Zuarbeit geleistet.

Als die Bildungskammer der EKKW sich an die Erfüllung ihres Auftrages machte, hat sie auch intensiv überlegt und diskutiert, ob sie sich auf den Bildungsbereich beschränken oder alle kirchlichen Handlungsfelder in den Blick nehmen soll. Es wurde nämlich während der Beratung immer deutlicher, dass auch in anderen Handlungsfeldern sowohl die Herausforderung durch eine zunehmende Konfessionslosigkeit besteht als auch Kontaktflächen zu Konfessionslosen zu entdecken sind bzw. wahrgenommen werden (müssen). Ähnlich wie der Grundlagentext hat die Bildungskammer der EKKW in ihrer Broschüre sich dann für die Fokussierung der Bildungsbereiche entschieden, während sie andere Handlungsfelder nur noch knapp im Anhang anspricht. Ganz ähnlich geht der Grundlagentext vor.

Gleichwohl ist der Beobachtung und ihrer Begründung zuzustimmen, dass alle Handlungsfelder kirchlicher Arbeit betroffen sind. Allerdings sind die sich daraus ergebenden Herausforderungen noch längst nicht überall angemessen im Blick. Zu oft wird noch die Einstellung markiert, dass man doch in allen Angeboten offen sei, dass sich Gottesdienste, Gruppen, Kreise etc. an alle, auch an Distanzierte oder Konfessionslose richteten. Es wird dabei aber oft nicht wahrgenommen, dass diese vermeintliche Offenheit auch Auswirkungen auf die Gestaltung und die Inhalte haben muss. Hinzu kommt eine notwendige Veränderung von Haltungen und Einstellungen auf Seiten der kirchlichen „Anbieter“ - eine Herkules-Aufgabe! Außerdem ist noch völlig unbestimmt, in welcher Weise sich Strukturen, Inhalte und Formate auch auf der Ebene der Kirchengemeinde verändern müssen.

Dazu exemplarische Äußerungen, die das verdeutlichen: Was haben wir in den Kirchengemeinden denn von den Angeboten der Bildungsarbeit mit Erwachsenen? Oder: Warum sollen wir denn so viel Geld für unsere Kita aufwenden, wenn doch so viele Kinder, ohne evangelisch zu sein, unsere Kita besuchen?

Die verschiedenen Bildungsbereiche in der EKKW haben die im Grundlagentext beschriebenen Veränderungen durchaus wahrgenommen und tragen ihnen auch verstärkt Rechnung.

Das gilt aber nicht in gleicherweise für die gemeindliche/parochiale Arbeit. Hier wird zum Teil die Aufgabe einer Haltungs- bzw. Einstellungsänderung noch nicht gesehen und stattdessen von den Distanzierten oder Konfessionslosen eher eine Anpassungsleistung erwartet! Das führt zum einen dazu, dass Menschen durch kirchengemeindliche Angebote nicht erreicht oder sogar abgeschreckt werden, das führt zum anderen aber auch dazu, dass sich gemeindliche Arbeit und funktionale Dienste immer weiter voneinander entfernen. In Folge dessen wird aus parochialer Perspektive die Arbeit der sogenannten funktionalen Dienste in ihrer Ausrichtung und Schwerpunktsetzung längst nicht immer verstanden und teilweise als zu oberflächlich oder wenig hilfreich diskreditiert, da dort nicht in der erwarteten Weise eine Weitergabe der Tradition stattfindet, obwohl doch ein erheblicher Traditionsabbruch zu beklagen sei.

Aus meiner Sicht ist auch eine Veränderung der Ausrichtung der kirchengemeindlichen Arbeit im Blick auf die Zielgruppen und eine Profilierung/Bündelung der Zuständigkeiten nötig. Es tun zu viele genau das gleiche in den Kirchengemeinden. Auch hier muss differenzierter/differenzierender gearbeitet werden. Daraus folgt m.E. für unsere Kirche, dass die Zuständigkeitsgebiete – dort, wo das möglich ist – über eine Parochie hinaus größer werden können und müssen, damit ggf. Zielgruppen groß genug sind. Das ermöglicht dann wiederum auch die stärkere Ausdifferenzierung der gemeindlichen Angebote zumindest in städtischen Gebieten. Die EKKW, die sehr ländlich strukturiert ist, versucht dem durch die Bildung von Kooperationsräumen Rechnung zu tragen. In der Umsetzung zeigt sich aber, wie mühsam es ist, „auf dem flachen Land“ und angesichts eines immer noch fest gefügten parochialen Denkens arbeitsteilig zu arbeiten. Auch wird das durch die Entfernungen in den gebildeten Kooperationsräumen erschwert. Der öffentliche Nahverkehr trägt (noch) nicht hinreichend zur Mobilität bei.

These: Pastorales, diakonisches, seelsorgerisches Handeln soll „bildsam“ gestaltet werden.

Diese Notwendigkeit ist längst nicht überall erkannt. Ein weit gefasster Bildungsbegriff wird schnell als Übergriffigkeit wahrgenommen. Die Empfehlung/Forderung, pastorale, diakonische und seelsorgerische Settings bildsam zu gestalten, kann leicht als Vereinnahmung missverstanden werden als solle alles für Bildung herhalten und die parochiale Arbeit „verfunktionalisiert“ werden.

Auch darf die „bildsame Gestaltung“ m.E. nicht dazu führen, dass sich die Menschen selbst (Konfessionslose, Distanzierte) vereinnahmt fühlen. Hier ist daher in verschiedener Hinsicht ein hohes Maß an Sensibilität nötig.

These: Jeder einzelne Christ ist herausgefordert, Kontakt zu suchen und in den Dialog einzutreten.

Diese Aufgabe ist selbst bei den (im engen oder im weiteren Sinn) in der Kirche Mitarbeitenden längst nicht überall angekommen. Mitarbeitende in der Verwaltung oder in diakonischen Handlungsfelder sehen das zumindest nicht als ihre prioritäre Aufgabe an. Auch Kirchenvorsteher*innen und Kirchenmitglieder schätzen dies häufig als Aufgabe der professionell mit inhaltlichen Zuständigkeiten Beauftragten ein.

Zu bedenken ist weiterhin, dass Lehrkräfte in ev. Schulen, pädagogisch Mitarbeitende in ev. Kitas, Mitarbeitende in diakonischen Einrichtungen nur dann Kirchenbindung herstellen können, wenn sie selbst als Kirchenmitglieder überzeugte Christen sind und ihr Leben wahrnehmbar entsprechend gestalten. Wenn sie loyal mitarbeiten, aber offensichtlich nicht Mitglieder der Kirche sind, wirft das die Frage auf, warum andere Mitglied werden sollten, da engagierte Mitarbeit doch offensichtlich auch ohne Kirchenmitgliedschaft möglich ist.

Ich bin daher skeptisch, ob die Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft wirklich weiterhilft. Zumindest muss die Debatte über gestufte Mitgliedschaft auch die finanziellen Ressourcen einbeziehen, sonst lässt sich mittelfristig die kirchliche Arbeit nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt finanzieren. Wenn wir nur noch loyale und engagierte Mitarbeitende in unseren Einrichtungen beschäftigen, die nicht mehr Mitglieder der Kirche sein müssen, dann haben wir am Ende keine Einrichtungen (z.B. ev. Schulen) mehr, um sie zu beschäftigen, weil uns die Kirchensteuern zu ihrer Finanzierung fehlen.

These: Es gibt neue Aufgaben und neue Chancen.

Viele (zu viele?) in der Kirche engagierte evangelische Christ*innen trauern dem Bestehenden und „Untergehenden“ nach und sehen noch nicht, dass dem Wandel auch ein Zauber innewohnt. Sie sind konsterniert, traurig, bisweilen auch ärgerlich und keineswegs offen und zuversichtlich. Das gilt auch hinsichtlich des Standings der Kirche in der Gesellschaft und ihres Bedeutungsverlusts sowie im Blick auf das veränderte Ansehen und den Bedeutungsverlust des Pfarramtes. Hier müssen m.E. bereits in der Ausbildung implizite Grundüberzeugungen, Haltungen und Leitbilder expliziert und kritisch diskutiert und mit neuen pastoraltheologischen Paradigmen in Beziehung gesetzt werden.

These: Kirche steht in Konkurrenz mit anderen Anbietern. Sie muss ihr Angebot plausibilisieren, sie muss auskunftsfähig sein bzw. werden. Unkenntnis und Distanz gibt es innerhalb und außerhalb der Kirche.

Auch wenn viele Menschen, die in den funktionalen Diensten tätig sind (mich eingeschlossen), dem zustimmen, wird das in vielen Parochien oft noch anders wahrgenommen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man sich vor Ort vornehmlich oder gar ausschließlich mit dem „inner circle“ der Kirchengemeinde befasst, statt den Sozialraum eines Dorfes oder Stadtteils insgesamt als Handlungsrahmen wahrzunehmen. In diesen Settings wird kaum wahrgenommen, dass der Plausibilisierungsdruck, unter dem die Kirche mit samt den meisten ihrer faktisch ausschließlich „kerngemeindlichen“ Angebote steht, wächst und dass ihre Inhalte außerhalb des „inner circles“ längst nicht überall die gewünschte Relevanz erhalten bzw. Resonanz erzeugen. Dann muss und will man nicht werben oder einladen. Dann hält man das Bisherige für richtig und gut. Offenheit beschränkt sich hier häufig darauf, dass die, die bislang nicht kommen, eingeladen und mitgemeint sind und doch jederzeit kommen könnten. Zudem will dieser inner circle selbst wahrgenommen und „bedient“ werden. Er will auch nicht verzichten, damit andere „bedient“ werden können. Schon gar nicht will er dafür bezahlen, dass andere, die womöglich nicht bezahlen, „bedient“ werden können.

Vielen Akteuren im Bildungsbereich ist deutlich, dass Argumente, konstruktiver Streit, Kriterien, Überzeugungsarbeit, Transparenz, Glaubwürdigkeit von entscheidender Bedeutung sind. In den Kirchengemeinden nimmt die Zahl derer, die sozialräumlich denken und handeln und die Zusammenarbeit in den Kooperationsräumen schätzen allmählich zu.

These: Kontaktfläche, Dialog, Begegnung, Brücke… sind das Gebot der Stunde.

Zu Recht wird behauptet, dass Bildungsangebote Kontaktflächen und Brücken sind. Doch was ist das Ziel all der im Grundlagentext geradezu gepriesenen Bildungsangebote? Wollen sie begleiten, Räume eröffnen, Begegnungsflächen bieten, oder zielen sie am Ende dann doch auf die zahlende Mitgliedschaft in der Kirche?

Was bringt die Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in theologischer, soziologischer und ökonomischer Hinsicht? Hier besteht noch Erläuterungsbedarf, damit die Unterschiede und ggf. damit verbundene Chancen und Risiken wahrgenommen und wo möglich Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können.

Immer wieder haben wir diese Frage in den verschiedensten Facetten in unserer Bildungskammer diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass zahlende Mitgliedschaft oder zumindest realistische Teilnahmebeiträge gebraucht werden. Auf Dauer lässt sich auch die kirchliche Bildungsarbeit durch Bezuschussung aus Kirchensteuermitteln bei zurückgehender Mitgliedschaft nicht finanzieren. Biografische, soziale, ideelle Nähe bzw. Bindung allein reicht auf Dauer nicht, da auch sie  finanziert werden muss!

These: Bei „den“ Konfessionslosen handelt es sich keineswegs um eine homogene Gruppe.

Die Gruppe der Konfessionslosen wird ausgesprochen differenziert wahrgenommen und beleuchtet. Dabei wird gut verdeutlicht, dass es hier nicht um eine homogene Gruppe geht, sondern um Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen, Erfahrungen, Interessen und Fragen, die nicht als defizitär betrachtet werden dürfen.

Zu bedenken ist aber auch, dass der sogenannte „inner circle“ ebenfalls keine homogene Gruppe ist. Soll all den unterschiedlichen Bedarfen, Bedürfnissen und Erwartungen Rechnung getragen werden, wird deutlich, wie hoch differenziert das kirchliche (Bildungs-) Angebot sein muss. Zu fragen ist daher auch danach, wo die Grenzen der Individualität und der inneren Differenzierung sind. Darf/muss man nicht auch verdeutlichen, dass manche Erwartungen einfach zu groß, zu anspruchsvoll sind? In manchen Feedback-Runden wird dieser Anspruch sehr deutlich, ohne dass Einzelne wahrnehmen, dass andere genau gegenteilige Erwartungen haben! Daher sind Kriterien wichtig, um entscheiden zu können, was es künftig wo (nicht) geben soll. Außerdem ist lokale und regionale Vielfalt wichtig. Überlegungen müssen im Blick sein, um die Mitarbeitenden nicht zu überfordern mit allzu hohen Ansprüchen.

These: Kindertagesstätten, Religionsunterricht, ev. Schulen, Erwachsenenbildung, Jugendarbeit werden als klassische Handlungsfelder mit Kontaktflächen zu konfessionslosen Menschen benannt. Darüber hinausgehend werden TV, Radio, soziale Netzwerke, Spezialseelsorge, diakonische Einrichtungen und Tagungsstätten aufgeführt.

Die Ausführungen zu diesen Einrichtungen und Handlungsfeldern sind m.E. für die Mitarbeitenden in der EKKW nicht neu. Die damit verbundenen Herausforderungen begegnen ihnen in der täglichen Arbeit. Auch die Chancen, die darin liegen, werden von ihnen wahrgenommen.

Erkannt werden muss in der EKKW dagegen, dass sich im Blick auf die wachsende Gruppe der Konfessionslosen und Kirchendistanzierten auch das kirchengemeindliche Handeln in allen Handlungsfeldern neu ausrichten muss. Einzelnen ist dies durchaus deutlich, und auch hier gibt es interessante Neuansätze und gelingende Praxis. Aber anderen ist diese Aufgabe und die damit verbundene Perspektivänderung erst noch zu plausiblisieren. Konfirmandenarbeit ist dafür ein wichtiges zentrales Beispiel! Die bewusste Entscheidung, im kirchengemeindlichen Handeln deutlich über das Bestehende hinaus zu denken, ist noch nicht gefallen!

Des Weiteren stellt sich die Frage, wie oder ob überhaupt Innovation möglich ist, wenn vom Bestehenden her gedacht wird. M.E. begrenzt das Bestehende das Denken erheblich und führt bestenfalls zu Optimierung, nicht aber zu Innovation. Innovation erfordert einen erheblichen Einsatz an Ressourcen sowie neue riskante Begegnungen und Formate. Wenn das gewollt wird, führt kein Weg an Posterioritären-Entscheidungen und damit an der Aufgabe von bisher scheinbar selbstverständlich wahrgenommenen Handlungsfeldern vorbei. Der Diskurs darüber und die sich daraus ergebenden Entscheidungen sind unumgänglich.

These: Ökumene und Kooperation werden immer wichtiger.

Auch dies ist keine neue Erkenntnis. Zur Kenntnis genommen werden muss aber, dass sowohl ökumenische Zusammenarbeit wie auch Kooperation über gliedkirchliche Grenzen hinweg das Aufeinanderzugehen von beiden Seiten erfordert. Beides muss von beiden Seiten gewollt sein. Leider ist das längst nicht immer der Fall. Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht beispielweise ist eigentlich überfällig und doch in Hessen noch immer nicht realisiert. Im Bereich der Fort- und Weiterbildung böte sich weit mehr als dies bislang der Fall ist Vernetzung an. Einrichtungen könnten in eine gemeinsame Trägerschaft übergehen wie das EKKW und EKHN seit einigen Jahren erfolgreich praktizieren. Die Möglichkeiten der Kooperation sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Ein verantwortungsbewusster Ressourceneinsatz macht solche Kooperation aber dringlich.

2.2 Kapitel 2

In Kapitel 2 wird das Phänomen Konfessionslosigkeit in einen größeren Zusammenhang gestellt und eingeordnet.

These: Kontextualisierungen müssen höchst unterschiedlich ausfallen. Ost und West unterscheiden sich erheblich. Das gilt für Deutschland wie auch für Europa. Weltweit stellt sich das Phänomen noch einmal ganz anders dar.

Mit Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass sich die Theorie einer weltweit unaufhaltsam voranschreitenden Säkularisierung nicht aufrechterhalten lässt. (S. 64)

Konfessionslosigkeit wird viel mehr als ein spezifisch deutsches Phänomen wahrgenommen und beschrieben, das in unserem spezifischen Kontext zur großen Herausforderung wird (73). Verbunden mit dem Leitbild Volkskirche – verstanden als Kirche, zu der (fast) „alle“ gehören - wird wachsende Konfessionslosigkeit zum echten Problem. Außerdem hat sie religionspolitische und staatskirchenrechtliche Folgen. Tradierte Praxen, scheinbar selbstverständliche kirchliche Mitwirkungsrechte und normative Ansprüche an den Staat werden damit auf den Prüfstand gestellt (74). Das erfordert eine Neuorientierung des gesamten kirchlichen Handelns und eine gründliche kybernetische Reflexion. Auf diese Sondersituation in Deutschland werden auch die Herausforderungen für das religionspädagogische Handeln zurückgeführt (74).

Die hier eindrücklich beschriebenen Konsequenzen sind noch zu wenig auf allen Ebenen kirchlichen Handelns angekommen. Zwar wird mehr oder weniger deutlich wahrgenommen, dass die Kirche und die Pfarrer*innen an Einfluss verlieren, aber allzu oft wird das den jeweiligen Konstellationen zugeschrieben und noch zu wenig als grundsätzliche Problematik wahrgenommen, die beschreibbare Ursachen hat. Auch wenn Einzelfragen (konfessioneller RU, Stellungnahme zu ethischen Fragestellungen, Glaubwürdigkeitsverlust) genügend Aufmerksamkeit brauchen, muss die grundsätzliche Problematik, die ja alle Kirchen in Deutschland in gleicher Weise betrifft, gemeinsam bearbeitet werden.

2.3 Kapitel drei bis fünf

Hier werden eine Reihe von Hinweisen gegeben, die jedenfalls denen, die im jeweiligen Handlungsfeld tätig sind, nicht neu sind.

Das Problem scheint mir hier eher zu sein, dass es sich dabei zu sehr um Insider-Wissen handelt, das in den kirchenleitenden Gremien wie auch bei den Verantwortlichen für andere kirchliche Handlungsfelder, die nicht explizit dem Bildungsbereich zuzuordnen sind, nicht hinreichend bekannt ist. Ein prominentes Beispiel dafür sind die jüngst diskutierten 11 oder 12 Leitsätze der EKD, die zunächst das sogenannte Z-Team zusammengestellt hatte und die dann die Synode diskutiert und ergänzt hat.

Ist in diesen Leitsätzen die Herausforderung Konfessionslosigkeit hinreichend im Blick?

Die Chancen für die Arbeit mit Konfessionslosen, die im Bildungsbereich liegen, sind jedenfalls ganz sicher nicht hinreichend in den Blick gekommen - aus welchen Gründen auch immer. Das provoziert die Frage, wie beide Veröffentlichungen zusammengebracht werden sollen? Die gleiche Frage stellt sich, wenn man die Handreichung „Kinder in die Mitte!“ rezipiert.

Offensichtlich ist hier Koordinierung und Kooperation auf EKD-Ebene gründlich misslungen!

These: Alles kirchliche Handeln ist begrenzt. Gott und das Evangelium von Jesus Christus sind größer und weiter.

Insofern wird eine selbstkritische Prüfung nahegelegt, die alle kirchlichen Strukturen und Formate auf den Prüfstand heben soll. Geprüft werden soll, ob sie die Kommunikation des Evangeliums an alle Welt bestmöglich fördern.

Diese Ausführungen habe ich gern gelesen, bringen sie doch alte theologische Einsichten wohltuend zur Sprache. Sie erinnern daran, dass die Kirche Geschöpf des Wortes Gottes ist und als verborgene Kirche (Leib Christi) und sichtbare Organisation, die von Menschen gestaltet wird, in dieser Welt existiert. Das rückt zweierlei neu in den Blick: Zum einen wird deutlich, dass Menschen das Werden und Vergehen von Kirche nur begrenzt in der Hand haben, weil immer auch das Wirken des Heiligen Geistes mitzudenken ist. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass es ein grundlegendes Kriterium für alles Gestalten von Kirche als Organisation (oder auch als Prozess) gibt. Nämlich die Kommunikation des Evangeliums von Jesus Christus in Wort und Tat.

Bei allem Nachdenken über die Kirche als Institution, als Organisation oder auch als Prozess darf dies m.E. nicht aus dem Blick geraten, wenn man sich nicht überheben will.

Denkt man von dieser theologischen Grundunterscheidung her, so sind all die Hinweise, die in den genannten Kapiteln gegeben werden, wichtig und sinnvoll, auch wenn sie denjenigen, die in den genannten Handlungsfeldern arbeiten, zumeist wohl bewusst sind, auch wenn damit ihre sachgemäße Umsetzung noch längst nicht gegeben ist.

Es wird angeregt, die Entwicklungen als Chance zu sehen und als Ruf zur Umkehr, zum Aufbruch, zur Erneuerung. Neue Aufgaben und neue Charismen würden gebraucht:

  • „Dreisprachigkeit“,

  • Raum für Begegnung und Auseinandersetzung eröffnen,

  • Relevanz des Evangeliums erschließen,

  • Lebensdienlichkeit des Evangeliums ausweisen,

  • Glaubwürdigkeit verbessern.

Diese wichtigen Ziele werden zu Recht benannt und dabei darauf hingewiesen, dass Pluralitätsfähigkeit als grundlegende Kompetenz über den Bildungsbereich hinaus gebraucht werde. Dabei gehe es darum, die eigene Überzeugung zu vertreten und auszulegen und sich doch der Vorläufigkeit bewusst zu sein, sowie die evangelische Perspektive zu vertreten bei gleichzeitiger Offenheit für den ökumenischen und den interreligiösen Dialog wie auch für den Dialog mit konfessionslosen Menschen. Nichts anderes meint der positionelle Pluralismus, wie ihn W. Härle seit langem vertritt.

Streitbar und standhaft in der Sache sollen die Mitarbeitenden sein, aber respektvoll im Dialog. So werden die Bedingungen für Relevanz, Resonanz und Tragfähigkeit beschrieben.

Wie wichtig die (religions-) pädagogische Arbeit mit Familien ist, weil Kindheit und Jugend entscheidende Phasen für die (religiöse) Bildung sind, unterstreicht noch einmal Kapitel fünf.  Darum werden hier die folgenden Prioritäten genannt:

  • Intensivierung taufbezogener Arbeit

  • Priorisierung elementarpädagogischer Arbeit

  • Ausbau von Kinder- und Jugendarbeit

  • Entwicklung medialer Formate und von neuem Material.

Der Grundlagentext scheut sich also nicht, Prioritäten im Bildungsbereich deutlich zu markieren. Das ist so in der EKKW (noch) nicht der Fall. Auch bei uns wird zwar immer wieder betont, wie wichtig die Setzung von Prioritäten sei und dass auf Dauer die Handlungsfelder der kirchlichen Arbeit nicht mehr wie gewohnt finanzierbar seien. Aber weder die Haushaltsvorgaben, noch die Positionspapiere der kirchenleitenden Gremien lassen eine echte Prioritätensetzung bislang erkennen. Erste Schlussfolgerungen aus der Zeit der Gestaltung kirchlichen Lebens unter Bedingungen der Corona-Pandemie weisen eher in eine andere Richtung. Besonders die Bedeutung von Seelsorge und Gottesdienst werden derzeit in einer Weise hervorgehoben, dass der Eindruck entsteht, als sei Kirche vornehmlich im Feiern von Gottesdiensten präsent/existent/erlebbar, während der Bildungsbereich dahinter völlig zurücktritt. Die realen „Klickzahlen“ bei vielen digital angebotenen Gottesdiensten sprechen durchaus eine andere Sprache. Dagegen sind dort, wo wir unsere  (ev.) Schulen und (ev.) Kindertagesstätten offen gehalten und mit viel Engagement der Lehrkräfte und Erzieher*innen als Kirche eine verlässliche Präsenz gezeigt haben, viele positive Rückmeldungen und Unterstützung zu verzeichnen. Und es war der Bildungsbereich insgesamt, der sich als erster erfolgreich um digitale Alternativen zu analogen Veranstaltungsformaten bemüht hat. Ein Papier der EKD zur Bedeutung religiöser Bildung gerade in Zeiten der Pandemie und eine Thesenreihe zum Religionsunterricht von namhaften Hochschullehrern*innen verfasst, geben davon „beredt“ Zeugnis.

These: Religiöse Bildung ist die Ausgestaltung positiver Religionsfreiheit. Ihre Ziele sind Alphabetisierung, Urteilsfähigkeit und Toleranz.

Der Grundlagentext hebt hervor, dass die evangelischen Kirchen auch für eine religionsbezogene Bildung außerhalb ihrer eigenen Einrichtungen Sorge tragen und diese unterstützen müssen. Gerade im Blick auf die Kindertagesstätten in kommunaler Trägerschaft ist diese Aufgabe längst erkannt. Es ist jedoch aus verschiedenen Gründen mühsam, dem nachzukommen. Zunächst fehlen notwendige Ressourcen, um dieser wichtigen Aufgabe, die vielfach auch in den regionalen Bildungsplänen für den Elementarbereich prominent genannt wird, nachzukommen. Dafür müssten spezifische Fortbildungsangebote für Mitarbeitende in kommunalen Kitas geschaffen werden. Das findet bislang nur ganz vereinzelt statt. Des Weiteren müsste den Kollegen*innen im Gemeindepfarramt, den Kirchenvorständen, den Kita-Ausschüssen verdeutlicht werden, dass auch dies eine wichtige parochiale Aufgabe ist, für die Ressourcen einzusetzen sind. Schließlich ist auch von den Mitarbeitenden und den Trägern kommunaler Kitas noch nicht oder nur unzureichend verstanden, dass religiöse Bildung als Teil der Allgemeinbildung in allen pädagogischen Handlungsfeldern – auch in der elementaren Bildung –unverzichtbar ist. Allzu schnell werden Bemühungen in dieser Richtung als kirchlich-religiöse Übergriffigkeit gedeutet und (teilweise energisch) zurückgewiesen. Um Missverständnissen vorzubeugen, gilt es auch zu verdeutlichen, dass religiöse Bildung in kommunalen Kitas sich selbstverständlich unterscheidet von den Angeboten religiöser Bildung, die in ev. Kitas gemacht werden. Ev. Schulen unterscheiden sich ja auch durch ihre ev. profilierte Schulkultur von der Schulkultur der Schulen in staatlicher Trägerschaft und doch ist auch in Letzteren religiöse Bildung eine wichtige Dimension.

Zu Recht unterstreicht der Grundlagentext in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Religionssensibilität, die in den letzten Jahren immer stärker in den Blick gekommen ist. Religionssensibilität ist nicht einfach vorhanden, sondern muss in Aus- und Fortbildung erworben, ergänzt, verstärkt werden, je nachdem, wie sehr sie bereits ausgebildet ist. Immer wieder ist zu hören, dass Kinder, Jugendliche, Erwachsene keine religiösen Fragen hätten bzw. keine religiösen Themen ansprechen würden. Wer dergleichen formuliert, macht damit vor allem deutlich, dass es ihm noch an Religionssensibilität mangelt! Hier ist noch einmal – mit Martin Luther – der Hinweis wichtig, „dass dem Volk auf ´s Maul zu schauen ist“. Häufig erscheinen religiöse Fragen und Themen in einem anderen Gewand als vielleicht erwartet und werden daher nicht sofort als solche wahrgenommen. Auch darum ist die eben schon angesprochene Mehrsprachigkeit so bedeutsam. Die eigene „Blase“ muss verlassen, ein neuer „Code“ muss angeeignet werden. Das höre und lese ich als „mitgemeint“, wenn die Bedeutung der Religionssensibilität hervorgehoben wird. Wenn diese Sensibilität gegeben ist, wird dann auch entdeckt, dass konfessionslose Menschen nicht „leere Tafeln“ oder „unbeschriebene Blätter“ sind, sondern durchaus eine eigene Sicht und Haltung ausgebildet haben, die es ernst zu nehmen gilt. Nur dann kann man ihnen auf „Augenhöhe“ begegnen, was unerlässlich ist, wenn es wirklich zu Begegnung und Dialog kommen soll. Der Bedarf daran, religiös oder kirchlich „belehrt“ zu werden, geht deutlich zurück – sofern er überhaupt je vorhanden war!

In diesem Zusammenhang wird dem Religionsunterricht besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er soll nicht träges Wissen vermitteln und auch die Konfessionslosen in den Blick nehmen. Diese Forderungen sind gewiss berechtigt. Sie können aber leicht den Eindruck erwecken, als geschehe das nicht. Das muss ich für die Lehrkräfte in Hessen deutlich zurückweisen. Natürlich kenne ich diese nicht alle persönlich und habe auch nicht in all ihren Reli-Stunden hospitiert. Aber die vielen Begegnungen bei Fort- und Weiterbildungen und im Rahmen der Vokationstagungen in den letzten Jahren wie auch die Praxisberichte und Evaluationen der Studienleitungen in unserem religionspädagogischen Institut lassen deutlich erkennen, wie sehr die meisten Lehrkräfte sich dafür einsetzen, diesen Forderungen gerecht zu werden. Allerdings ist zunehmend auch die Heterogenität der Lerngruppen deutlich im Blick, so dass hier eine Herkulesaufgabe beschrieben wird. Daher ringen die Ausbildungsstätten (Universitäten, (Studien-)seminare etc.) und Fachkommissionen ja auch um eine sachgemäße Gestaltung der Curricula, und es wird immer deutlicher, dass der Vielfalt der Erfordernisse kaum Rechnung getragen werden kann, wenn nicht an anderer Stelle auch eine konsequente „Entrümpelung“ der Curricula und Lehrpläne stattfindet. Darum ist Kooperation und Vernetzung in der Fächergruppe in den Schulen so wichtig, aber auch in den jeweiligen Sozial-, Kooperations- und Erprobungsräumen.

Im schulischen Religionsunterricht definiert sich die Konfessionalität des Unterrichts vor allem – in der Regel ausschließlich – über die Konfession der Lehrkraft. Dabei versuchen viele, durch die Umsetzung eines performativen Unterrichts Elemente religiöser Praxis in den Unterricht aufzunehmen und Schülern*innen nahe zu bringen. Je mehr sie das aber versuchen, desto schneller sehen sie sich der Anschuldigung ausgesetzt, sie wollten missionieren, die Schüler*innen überwältigen, Kirche in die Schule bringen usf.. Wer solche (unsachgemäßen) Anschuldigungen als solche „entlarven“ und zurückweisen muss – was oft mit großer Umsicht geschieht -, der wird zunehmend zurückhaltender, was die Umsetzung einer performativen Didaktik betrifft, die ja auch unter Fachleuten nicht unumstritten ist.

Was den von Gemeindepfarrern*innen erteilten Religionsunterricht betrifft, ist die Arbeit von Günter Beck-Mathieu aufschlussreich. An diese all die pädagogischen Erwartungen zu richten, die an die Lehrkräfte, die (auch) ev. Religionsunterricht erteilen, adressiert wurden, könnte dazu führen, dass jedenfalls ein nicht unerheblicher Teil, die Erwartungen als maßlose Überforderung empfindet. Das gilt vice versa im Übrigen auch für die theologischen und kirchlichen Erwartungen an die RU-Lehrkräfte im Vergleich mit den ev. Pfarrer*innen. Gemeindepfarrer*innen könnten sich zunehmend fragen, warum die Erteilung von ev. Religionsunterricht zu ihren Pflichtaufgaben gehört, wenn doch die Mehrzahl der Schüler*innen nicht der ev. Kirche angehört und sie dort nicht auf „ihre“ Kinder und Jugendlichen treffen. Die Chancen, die in diesem Handlungsfeld liegen, werden leider allzu oft ohnehin nicht erkannt. Das hat auch etwas mit der vielfach noch fehlenden sozialräumlichen Ausrichtung des parochialen Handelns zu tun.

Auch wenn die Beobachtungen und Schlussfolgerungen zutreffen, ist hier jedenfalls, was meinen Erfahrungsraum betrifft, Umsicht geboten.

Die Konfirmandenarbeit braucht angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit ebenfalls größere Aufmerksamkeit. Oftmals beruhigen sich Kirchengemeinden damit, dass doch nach wie vor über 90% der Jugendlichen der betreffenden Jahrgänge durch dieses Angebot erreicht werden, und machen sich dabei nicht oder zumindest zu wenig klar, dass es lediglich ca. 90% der getauften Jugendlichen sind, die erreicht werden, wobei die Taufquote stetig abnimmt. Darum stellt sich zunehmend die Frage, ob auch eine Teilnahme an der Konfirmandenarbeit mit offenem Ausgang ermöglicht werden soll. Dass inzwischen zu jeder Konfirmandengruppe auch Jugendliche gehören, die (sei es am Anfang, sei es am Ende) während der Konfirmandenzeit getauft werden, ist nicht mehr ungewöhnlich, sondern eher normal.

Bedacht werden muss aber m.E., ob auch ermöglicht werden soll, dass Jugendliche an der Konfirmandenarbeit teilnehmen und irgendwann wieder aussteigen oder sogar bis zum Ende teilnehmen, aber sich gegen Taufe und Konfirmation entscheiden. Eigentlich müsste dies ermöglicht werden, da ja nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Teilnahme immer zu Taufe und Konfirmation führt. Vorgesehen ist das bislang nicht, was nicht heißt, dass es faktisch immer öfter so ist. Das wirft auch die Frage auf, ob diesen Jugendlichen ein Segen mitgegeben werden sollte, egal wann immer sie sich für den Ausstieg oder gegen eine Taufe entscheiden. Dies würde aus der Konfirmandenarbeit ein eher offenes Angebot machen, und führt zu der Frage, ob es dann neben der Konfirmandenarbeit eher ein weiteres Angebot geben müsste, wie das in manchen Kirchen in den östlichen Bundesländern wohl der Fall ist. Schnell kann eine „Konfirmation light“ aber auch die Konfirmation wie wir sie bislang kennen und gestalten gefährden. Darauf wird zu Recht hingewiesen.

Diese Überlegungen sind in den Kirchengemeinden unserer Landeskirche noch nicht angestellt worden. Sie drängen sich aber auf, je mehr die Konfessionslosigkeit innerhalb eines Jahrgangs zunimmt bzw. die Kirchenzugehörigkeit abnimmt.

Die Beschäftigung mit den Anregungen des Grundlagentextes und der Versuch der Umsetzung dient auch der Selbstvergewisserung der Mitarbeitenden und der Kirchenmitglieder.

Dass die beschriebenen Einsichten selbstverständlich auch in die Aus- und Fortbildung der Pädagogen*innen und der Pfarrer*innen einfließen müssen, ist aus meiner Sicht unstrittig. Zu bedenken ist dabei allerdings, was oben schon im Blick auf die Ausbildung der Lehrkräfte erörtert wurde: die Zeit des „auch noch“ ist vorüber. Auch diesbezüglich müssen dringend Prioritäten formuliert werden!

Dr. Gudrun Neebe ist Oberlandeskirchenrätin in der Ev. Kirche in Kurhessen-Waldeck (EKKW) und leitet dort das Dezernat Bildung.