1 Die Schwimmbadkirche am Nevskij-Prospekt

Im Herbst 1989 und 1990 war ich zum ersten Mal in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Ich studierte Slavistik an der Universität Hamburg, der Partnerstadt von Leningrad, und machte das sogenannte Rossicum: einen Sprachaufenthalt im Land von mehreren Wochen. Es war die Zeit des politischen Umbruchs mit mehr Freiheit und mehr Engpass zugleich. Beides bekamen wir Studierenden zu spüren, obwohl wir nicht ahnten, wie sich die Dinge entwickeln würden. 1989 waren wir als erster westlicher Jahrgang in Familien untergebracht und konnten den Alltag der russischen Gastgeber teilen. Wir bekamen Einblick ins private Leben, wurden umsorgt und konnten frei reden über die gegenwärtige Lage und den Nachhall des Weltkriegs. 1990 wohnten wir in einem Wohnheim auf der Vasil’evskij-Insel am Ufer der Ostsee. Das Wohnheim war völlig heruntergekommen, falls es je gute Zeiten gekannt hat. Ein Betonklotz in einer öden Hochhaussiedlung mit vielen Stockwerken und düsteren Fluren, auf denen die Lampen zerbrochen waren und nachts manchmal Schüsse fielen. Der Fahrstuhl war außer Betrieb. Ein Stockwerk glich dem anderen, so dass man froh war, wenn man die richtige Etage gefunden und die richtige Wohneinheit aufgeschlossen hatte. Jede Einheit hatte eine Küche, ein Bad und ein Zimmer mit mehreren Betten. Die Küche bestand aus einem Spülbecken und einer fettstarren Kochplatte. Die Dusche war ein Hahn an der unverputzten Wand, und das magere Rinnsal, das daraus hervorkam, wahlweise kochend heiß oder eiskalt, führte zu einem Loch im Boden. Die Fenster waren gefroren, die Heizung nicht individuell einstellbar, und über den Betten flitzten die Kakerlaken an der Decke. Es war Oktober, das Wetter schneidend kalt, und der Wind zog vom Meer her durch alle Ritzen. Die Versorgungslage war katastrophal, die Beschaffung von Nahrungsmitteln unser wichtigstes Thema, und es gab nichts an Ablenkung und Entlastung, wie wir es, westlich sozialisiert, gewohnt waren: keine Cafés und Restaurants, keine bunt dekorierten Geschäfte, kein Naschwerk und kein Zuckerzeug. Unser einziger Lichtblick war das „Pribaltijskaja“. Ein Vorzeigehotel, das nur wenige Meter vom Wohnheim entfernt am Finnischen Meerbusen lag. Es war von Skandinaviern erbaut und hatte in der fünfzehnten Etage eine Devisenbar. Ab und an gingen wir hin, bestellten muffige Schokobonbons und eine Pepsi-Cola und stibitzten beim Hinausgehen eine Rolle Klopapier. Klopapier war Mangelware.

Eines Tages kam eine Kommilitonin ins Zimmer, klemmte ihren Badeanzug an die Leine, die wir über der Heizung ausgespannt hatten, und berichtete begeistert von einem Besuch im Schwimmbad. Das Wasser sei herrlich. Es gäbe zwei Sprungtürme, aufsteigende Zuschauerplätze aus Beton rund um ein hellblau gekacheltes Becken, alles gechlort, sauber und geheizt, und zum ersten Mal seit Tagen habe sie sich wieder warm und wohl gefühlt und richtig entspannt. Das Schwimmbad sei gut besucht, wenn auch etwas kurios. Es sei nämlich eine ehemalige Kirche direkt am Nevskij-Prospekt, aber mit allem Drum und Dran: Umkleidekabinen, Wasserbecken, Sprungturm, Sauna, Turnsaal und Tribüne. Eine echte Unterbrechung in trostloser Zeit. Sie wolle unbedingt wieder hin ‒ ob ich mich anschließen wolle dann. Schwimmen in einer Kirche? Baden im Gotteshaus? Ich komme aus dem lutherischen Lübeck und wollte nicht.

Später erfuhr ich, dass es sich bei der sogenannten Schwimmbadkirche um die lutherische Petrikirche handelt. Sie liegt bis heute am Nevskij-Prospekt, der Prachtstraße von St. Petersburg, und war bis zur Russischen Revolution das Zentrum der deutschen Gemeinde. Seit der Gründung der Stadt im Jahr 1703 hatte es hier deutsches Gemeindeleben gegeben. Die erste lutherische Kirche, eine Holzkirche in Form eines Kreuzes, hatte man bereits 1708 erbaut für die ausländischen Militärs evangelischen Glaubens. Peter der Große hatte für den Bau seiner Stadt Fachleute aus ganz Europa geholt. Unter ihnen viele deutschsprachige Architekten, Ingenieure, Ärzte, Apotheker und Professoren, Soldaten aus dem Baltikum, Kaufleute aus den Hansestädten sowie Handwerker aus Pommern und Ostpreußen. Sie brachten neben ihrem Können auch ihre Familien, ihre Sprache und ihren Glauben mit, genossen Religionsfreiheit und durften eigene Gotteshäuser errichten. Als Gründungsjahr der Petrigemeinde gilt das Jahr 1710. Damals war die lutherische Gemeinde zahlenmäßig noch überschaubar, wuchs aber so rasch, dass Peter II. den Deutschen 1727 das zentral gelegene Grundstück am Nevskij-Prospekt für ihre Gemeinde überließ, um hier eine Kirche mit Schule und Pastorat zu errichten. Am 29. Juni 1728, dem Gedenktag der Apostel Petrus und Paulus, wurde der Grundstein zur Kirche gelegt, die am 14. Juni 1730 offiziell als „Peter-und-Paulskirche“ eingeweiht wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Gemeindeglieder stark an. Das erste Gebäude wurde für die Gemeinde bald zu klein, so dass man es 1833 abreißen und durch den Neubau ersetzen ließ, der bis heute erhalten ist und den meine Kommilitonin als Schwimmbad kennengelernt hat. Der Entwurf stammte von dem Architekten Aleksandr Brjullov. Ein eleganter, hell gestrichener Bau mit zwei gedrungenen Türmen, der das Konzept einer romanischen Basilika mit der Formensprache des russischen Klassizismus verbindet. Er liegt zwischen zwei hohen Mietshäusern am Nevskij-Prospekt Nr. 22-24, ist aber von der pulsierenden Prachtmeile etwas nach hinten versetzt und mit einem eigenen Gebäudeensemble verbunden zu einem Ort stiller Einkehr, von Bildung und Kultur. Am 31. Oktober 1838, am Reformationstag, wurde er eingeweiht. Auch der Innenraum war reich gestaltet, enthielt viele Kunstschätze und die bekannte Walcker-Orgel, an der Pëtr Čajkovskij Orgelunterricht erhalten haben soll.

Die Deutschen waren die größte Ausländergruppe der Stadt, ihre Kirche das Zentrum ihres kulturellen Lebens sowie der deutsch-russischen Begegnungen. Mit ihren 1000 Quadratmetern Grundfläche und etwa 2000 Plätzen im Kirchenschiff und auf der dreistöckigen Empore war sie die größte lutherische Kirche im Russischen Reich. 1862 hatte sie bereits über 17.000 Mitglieder und erreichte um 1900 mit 20.000 ihren Höchststand. Glaube, Kultur und Bildung waren hier eng verbunden. Hinter der Kirche lagen die Gebäude der Deutschen Schule, der Petrischule. Sie gehörte als eines der renommiertesten Gymnasien der Stadt zu den angesehensten Ausbildungsstätten, und bekannte Persönlichkeiten wie der Architekt Carlo Rossi und der Komponist Modest Musorgskij haben sie besucht. In der angeschlossenen Buchhandlung und Bibliothek gingen im 19. Jahrhundert Schriftsteller wie Puškin und Gogol’ ein und aus, und ab 1817 sorgten Einrichtungen der Diakonie mit Armenpflege und Waisenhaus für die Versorgung ärmerer Schichten. Die Pastoren kamen oft aus Deutschland, hatten in Halle, Erlangen oder Kiel studiert und brachten evangelisches Brauchtum und deutschsprachige Theologie mit in die russische Hauptstadt.

Einen radikalen Einschnitt in die lange und fruchtbare Beziehung von Russen und Deutschen brachten der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution 1917. Das Verhältnis zum Kriegsgegner kühlte ab. Deutsche Geschäfte wurden demoliert, Petersburg zu „Petrograd“ russifiziert und nach Lenins Tod in Leningrad umbenannt. Die deutsche Sprache wurde verboten. Ein Großteil der Gemeindeglieder floh aus Angst vor Repressionen ins Ausland. Die Petrikirche und alle Gebäude der Gemeinde wurden verstaatlicht. 1928 wurde das Gymnasium geschlossen, 1929 die gesamte Jugendarbeit eingestellt, Konfirmationen waren nicht mehr gestattet. Gottesdienste waren zunächst noch möglich, doch nahmen die antikirchlichen Verfolgungen und Verhaftungen zu und erreichten unter Stalin ihren Höhenpunkt. Am Heiligabend 1937 wurde die Kirche gesperrt, die Türen verschlossen, die Weihnachtsgottesdienste entfielen. Fortan konnten die Gläubigen nur noch heimlich in Privatwohnungen zusammenkommen. Die Innenausstattung wurde beschlagnahmt, Altargemälde, Pastorenporträts und Abendmahlsgeschirr verschwanden in den Depots der Leningrader Museen, und die Walcker-Orgel und ein Holbein-Gemälde sind bis heute verschollen. Die letzten Pastoren der Petrikirche, Paul Reichert und sein Sohn Bruno Reichert, wurden während des Großen Terrors verhaftet und 1938 erschossen. Das Ende des Gemeindelebens war erreicht.

In der Folgezeit stand die Kirche leer und wurde dann zweckentfremdet. In den 1940er und 1950er Jahren waren verschiedene Materiallager in ihr untergebracht, ehe man das Gebäude in der Chruščëv-Zeit zu einem Schwimmbad umbaute. Von außen blieb die Kirchenansicht erhalten, im Inneren jedoch entstand ein nüchterner Nutzbau aus Eisen, Stahl und Beton. Wand- und Deckenbemalungen wurden übertüncht. Die Emporen zu Tribünen umgestaltet. In den Boden des Kirchenschiffs wurde ein Schwimmbecken eingelassen, und im Halbrund der Apsis wurden verschiedene Sprungtürme mit einer Höhe von bis zu zehn Metern errichtet. So entstand in dem Kirchenraum „ein vielfrequentiertes, modernes Schwimmbad […], das vor allem von der Jugend gern besucht wurde“ (Börnsen-Holtmann, 1993, S. 181) und ein wichtiger Trainingsort der Sportschwimmer war, die sich mit diesem Vorhaben gegen andere profane Nutzungsmöglichkeiten durchgesetzt hatten.[1] 1962 wurde das Schwimmbad eröffnet und aus St. Petri „die Schwimmbadkirche“ ‒ zur konstruktiven Nutzung für viele, aber auch als destruktive Machtgeste und Demütigung der Gläubigen,[2] die daran ablesen sollten, dass die alten Zeiten endgültig vorüber seien.

Doch darüber hatten sich die Machthaber getäuscht. Zwar war die Gemeinde von 1937 bis 1988 als eigene Organisation nicht mehr existent. Doch ihre versprengten Reste versammelten sich weiter außerhalb der Stadt, und so konnte die Kirche schon in den Jahren des staatlichen Umbruchs überraschend schnell an ihr altes Leben anknüpfen und sich auch wieder öffentlich strukturieren. Bereits im Oktober 1988 fand in St. Petri der erste evangelische Gottesdienst in deutscher Sprache statt, und als 1992 das Schwimmbad technisch am Ende und die Stadt nicht willens war, für seinen Erhalt aufzukommen, wurde das Gebäude den deutschen Lutheranern zurückgegeben. Am Reformationstag 1992 wurde die Petrikirche mit einem großen Gottesdienst wieder eröffnet. Dafür wurde die Schwimmbadfunktion für einen Moment außer Kraft gesetzt,[3] das Wasser abgelassen, und der Gottesdienst am offenen Schwimmbecken gefeiert. Unter dem Sprungturm, direkt unter dem Dreimeterbrett, war der Chor platziert, schwarz-weiß gekleidet, und links davon ein Behelfsaltar mit Kreuz und Kerzen hergerichtet. Der Chor blickte auf die vor ihm liegenden Startblöcke und das hellblau gekachelte, gähnend leere Wasserbecken. Die Gemeinde war auf den Seitenrängen der ehemaligen Zuschauertribüne platziert und sah bei ihrem Blick auf den Altar zugleich die Uhr aus Wettkampfzeiten hinter dem Sprungturm an der Wand und konnte an ihr ablesen: die Zeiten hatten sich geändert.

Nach der Schließung des Schwimmbetriebs wurde die Kirche am 1. Januar 1993 offiziell zurückgegeben, im Juni 1993 der neugebildeten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) übergeben und nach einer umfangreichen Sanierung am 16. September 1997 neu eingeweiht. Heute hat die Gemeinde etwa 600 Mitglieder, darunter viele Russlanddeutsche, die nach den Zwangsumsiedlungen unter Stalin nach Petersburg zurückgekehrt sind. Auch Christen aus Deutschland gehören dazu, die als Geschäftsleute oder Diplomaten hier wohnen und deren Kinder in die ebenfalls wiedereröffnete Deutsche Schule gehen. Auch einige Russen gehören nun zur Gemeinde, denen die orthodoxe Kirche zu eng und nationalistisch erscheint und die bewusst die Nähe zum Luthertum suchen. Manche von ihnen sind konvertiert. Die Gottesdienste werden zweisprachig in Deutsch und Russisch abgehalten, und gelegentlich kommen auch Lutheraner aus anderen Ländern zu Gast, aus Skandinavien oder aus den USA, die als Touristen in der Stadt unterwegs sind. So ist „Nevskij 22-24“ heute wieder eine Adresse und ein Ort der Begegnung, an dem Kirche, Bildung und Kultur mit Konzerten, Konferenzen und Ausstellungen neu zusammenfinden, ohne das Alte ganz loszuwerden: Unter dem Hauptschiff befindet sich noch immer der Betonboden des Schwimmbeckens. Eine Art Jugendkeller ist dort untergebracht, und im hinteren Gewölbe, direkt unter dem Altar, gibt es eine kleine Kapelle. An ihren Seitenwänden ist ein Bilderzyklus des russlanddeutschen Künstlers Adam Schmidt zu sehen. Er zeigt die wechselvolle Geschichte der deutschen Christen in Russland, ihre Verfolgung, Deportation und Zwangsumsiedlung. Auch der amerikanische Künstler Matt Lamb hat hier Gemälde und Skulpturen geschaffen, und Kreuze wurden aufgestellt für die Opfer des Stalinismus. Damit ist im Keller der Kirche, in den Katakomben, eine Gedenkstätte entstanden, die die Erinnerung wachhält und die Spuren der Umwidmung nicht tilgt. Tatsächlich sind sie auch gar nicht so einfach zu löschen. Denn eine komplette Wiederherstellung des Hauptschiffs unter Ausräumung aller Schwimmbadreste lässt sich nicht realisieren, wie ein Gutachten bescheinigt: das Herausnehmen des Wasserbeckens könnte die Kirche selbst zum Einsturz bringen, und so wurde das Bassin zwar durch eine Stahlkonstruktion mit Betonplatten abgedeckt, auf eine Absenkung des Bodens musste man dagegen verzichten. Hallenkirche und Hallenbad bleiben miteinander verwachsen und müssen aus ihrer Geschichte das Beste machen.

2 Konfessionslosigkeit als Thema der Praktischen Theologie

Als wir 1989/1990 in Russland waren, wurde Zeitgeschichte geschrieben. Wir waren mittendrin und haben es gefühlt, ohne es zu wissen oder überblicken zu können. Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 feierten wir im Deutschen Konsulat, und als ich nach Hamburg zurückkam, habe ich mein Slavistikstudium nicht wie andere abgebrochen, es aber um ein zweites ergänzt und zusätzlich ein Theologiestudium angefangen. Ich bin in den neunziger Jahren noch öfter in Russland gewesen, habe Begegnungen des evangelischen Fachbereichs und der Landeskirche mit der russisch-orthodoxen Kirche begleitet, Gespräche gedolmetscht und auch die Rückführung von St. Petri in ihren Etappen erlebt. „Konfessionslosigkeit“ spielte dabei noch keine Rolle. Es ging vielmehr um den nicht immer einfachen Dialog der Konfessionen, um interkonfessionelle Verständigung also, um Einfühlung und Diplomatie, die Wahrnehmung der Orthodoxie und die Situation der deutschen Gemeinde, um deren Erfahrung mit der aggressiven Religionspolitik der Sowjetzeit, die Folgen atheistischer Erziehung und die zarten Versuche religiöser Neubelebung. Ich besichtigte dies alles aufgeschlossen und neugierig, aber auch mit einem gewissen Gefühl von Fremdheit und Exotik. Dass nachlassende Kirchenbindung, Abbruch und Verlust auch bei uns ein Thema sein würden und es schon waren, wurde mir trotz der deutsch-deutschen Wiedervereinigung wenig bewusst. Es war, wenn überhaupt, das Problem „der anderen“. Dabei war das Thema auch in einer westlichen Großstadt wie Hamburg längst angekommen. Im Hintergrund liefen die neuen Stichworte: Sparkurs, Effizienz, Fusion. Und als man die Gemeinden meines eigenen Stadtteils 1998 zusammenlegte und in diesem Zuge die Kirche St. Stephanus in Eimsbüttel, zu der ich als Studentin gehörte, entwidmen ließ, habe ich das zwar als persönlichen Verlust empfunden und mich an den neuen Nutzungsversuchen als Event-Location, Café und Medienagentur gestört. Mit der Schwimmbadkirche in St. Petersburg habe ich es aber nur assoziativ verknüpft und nicht als eine (Forschungs-) Frage erkannt, die mich in Theorie und Praxis noch beschäftigen würde. Im Nachhinein muss man sich darüber wundern. Aber ich vermute: Die inneren Beharrungsbilder einer evangelisch und katholisch aufgeteilten Welt, wie sie die eigene Kindheit und Jugend geprägt hatten, waren einfach stärker und die Praktische Theologie durch ihr neu ausgegebenes Paradigma von der „Gelebten Religion“ mit der Wahrnehmung, Deutung und Einholung religiöser Spurensuche in allen möglichen Bezügen völlig ausgelastet.[4]

Wenn ich nun vor diesem Hintergrund auf den Grundlagentext „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit. Aufgaben und Chancen“ der EKD aus Sicht der Praktischen Theologie reagieren will, dann ist zunächst zu begrüßen, dass die Kammer für Bildung, Erziehung, Kinder und Jugend diesen Text erarbeitet, Konfessionslosigkeit auf die Agenda gesetzt und dabei die konfessionslosen Menschen „erstmals in den Mittelpunkt einer ihrer Verlautbarungen“ gestellt hat (EKD, 2020, S. 14). Der Text ist informativ, strukturiert und verständlich. Er konzentriert sich auf das eigene Land (Deutschland), die eigene Religion (Christentum) und die eigene Konfession (evangelisch). Er redet nicht um den heißen Brei, sondern benennt, dass gut ein Drittel der Bevölkerung keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft mehr angehört, und respektiert dies als eine grundsätzlich legitime Lebenshaltung. Ausdrücklich soll mit dem Begriff Konfessionslosigkeit keine (Ab-) Wertung verbunden sein. Konfessionslosigkeit fungiert vielmehr als Dachbegriff, der im Kern die Information transportiert „nicht getauft“ oder „aus der Kirche ausgetreten“ (EKD, 2020, S. 15): „Das Attribut ‚konfessionslos‘ meint in diesem Text, bezogen auf Individuen, zunächst nur dies: Jemand wurde nicht getauft (bzw. in eine andere Religionsgemeinschaft aufgenommen) oder jemand ist aus der Kirche (bzw. einer anderen Religionsgemeinschaft) ausgetreten.“ (EKD, 2020, S. 14). Die Schwierigkeit, dass der Begriff eine Fremdzuschreibung ist und einen Umstand negativ ausdrückt (konfessions-los), der zudem Kirchenferne, Religionsferne und Beziehungslosigkeit gleichermaßen abdecken muss, ist bewusst, kann aber mangels sprachlicher Alternativen nicht behoben werden (EKD, 2020, S. 32). Die Vielschichtigkeit des Phänomens wird benannt und auf seine Vergleichbarkeit mit anderen Organisationen, deren Bindekraft und Mitgliederzahlen ebenfalls sinken (Parteien, Gewerkschaften, Vereine), sowie auf ähnliche Bewegungen in anderen Religionen (Judentum, Islam) aufmerksam gemacht. So kommt Konfessionslosigkeit als ein Phänomen in den Blick, das nicht mit pauschalen Urteilen und einfachen Gegenüberstellungen zu fassen ist, sich nicht auf Ostdeutschland beschränkt und das auch nicht nur eine „Langzeitfolge eines offen atheistisch und antikirchlich agierenden Gesellschaftssystems“ ist, sondern das als Nachhall längerer Entwicklungen (Reformation, Aufklärung, Industrialisierung; EKD, 2020, S. 29) mit einem spezifisch deutschen Zuschnitt (EKD, 2020, S. 73) und zugleich einem hohen Maß an Individualisierung und Ausdifferenzierung verstanden werden muss. ‚Die‘ Konfessionslosen als homogene, organisierte Großgruppe gibt es nicht. Die Gründe für die Nichtzugehörigkeit zur Kirche sind vielfältig, abhängig vom jeweiligen Kontext und den lebensgeschichtlichen wie familiären Bedingungen im Generationenverbund, deren Dynamik (EKD, 2020, S. 35) und Konkretisierung in dem Text mitgedacht, aber nicht angemessen abgebildet werden können (EKD, 2020, S. 105): „Jeder und jede ist ein Einzelfall.“ (EKD, 2020, S. 32).

Im Mittelpunkt der Verlautbarung stehen im Grunde auch nicht die Konfessionslosen selbst, sondern vielmehr die Folgen ihres Daseins für die Kirche und die Frage, wie man ihnen begegnet und wie man sie wiedergewinnen kann (EKD, 2020, S. 96). Welche Konsequenzen also die Kirche aus dem Faktum ihres Daseins für ihre Handlungsfelder und Ausbildungsbezüge zieht und welche Handlungsimpulse sie aussenden kann, weil eine sich ausbreitende, nicht mehr nur erworbene, sondern bereits ererbte Konfessionslosigkeit, der Abbruch an religiösem Brauchtum, an religionsbezogenem Wissen und die Gleichgültigkeit religiös-theologischen Fragen gegenüber natürlich nicht einfach nur ein neutrales Besichtigungsobjekt darstellt und auch nicht nur eine Herausforderung, die diejenigen kreativ angehen könnten, die dabei auf die Chancen, nicht auf die Verluste blicken (EKD, 2020, S. 99), sondern auch eine Desavouierung der Kirche als gesellschaftliche Größe, die mit Wahrnehmungs- und Relevanzverlust sowie massiven Kränkungserfahrungen einhergeht. Letzteres wird in der Verlautbarung nicht thematisiert, so dass die Folgen der Entkirchlichung für das Selbstbild derer, die sich für ein Theologiestudium entscheiden und für die Kirche arbeiten, eher als eine persönlich zu verantwortende Sache erlebt werden dürften, nicht als strukturelle Auswirkung einer Entwicklung, die die Kirche im Ganzen betrifft und die dazu geführt hat, dass sie „in den westlichen säkularisierten Gesellschaften ihre bisherige gesamtgesellschaftliche Bedeutung und Integrationsfunktion früherer Zeiten verloren“ hat (EKD, 2020, S. 5).

Das Eingeständnis ist klar und angemessen. Die Frage ist nur: Wann genau waren die ‚früheren Zeiten‘? Prozesse der Entkirchlichung hatte es im 19. Jahrhundert schon gegeben und zwar, wie Manfred Gailus sagt, „auf breiter gesellschaftlicher Front“ (Gailus, 2001, S. 29). Die nachlassende Bindung ließ sich an Kirchenmitgliedschaft, Kirchenaustritt, Teilnahme oder Nichtteilnahme an Gottesdienst, Abendmahl und Kasualien indizieren, auch wenn damit allein nicht erfasst war, wie die persönlichen Überzeugungen und Suchbewegungen im Einzelnen tatsächlich aussahen. Formal möglich war der offizielle Kirchenaustritt seit 1873, und er wurde auch vollzogen. Der Schritt in die offizielle Konfessionslosigkeit war aber noch selten (Gailus, 2001, S. 31). Auch lief der Säkularisierungsprozess, der mit Industrialisierung und Urbanisierung einherging, nicht linear und war auch nicht durch die Diktaturen im NS-Staat und in der DDR allein ausgelöst. Vielmehr wurde die „Austrittsdynamik“ (Gailus, 2001, S. 37) durch den Ersten Weltkrieg zunächst noch einmal unterbrochen, während in der Zwischenkriegszeit der Anteil der sogenannten „Gemeinschaftslosen“ zumindest in Statistiken für Berlin, der „Hochburg von ‚Gottlosigkeit‘“, schon vor 1933 14% ausmachte. Sie waren damit die zweitgrößte Gruppe in der Konfessionsstatistik (Gailus, 2001, S. 30 und S. 31).

Solche historischen Einzeichnungen des Phänomens Konfessionslosigkeit werden in der Verlautbarung nicht vorgenommen. Ihr Bezugsrahmen ist die Gegenwart und die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, zu der die Vorgaben des Rechtsstaats und damit die rechtliche Möglichkeit eines Kirchenaustritts gehören, was ausdrücklich akzeptiert (EKD, 2020, S. 60) und sogar als theologisch legitime Option im Sinne christlicher Freiheit verstanden wird (EKD, 2020, S. 69 und S. 70). Für diese Gegenwart macht sie Handlungsvorschläge, die nicht unbedingt auf messbare Kircheneintritte zielen, wohl aber Kirchenaustritten entgegenwirken und Verlorene wiedergewinnen sollen.[5] Dafür gelte es, den „früheren, scheinbar besseren Zeiten“ nicht nachzutrauern (EKD, 2020, S. 100), sondern sich den gegenwärtigen Aufgaben aufgeschlossen, realistisch und „positionierungsbereit“ (EKD, 2020, S. 104) auf der Basis von Argumentation und persönlichem Einstehen (EKD, 2020, S. 47) zuzuwenden. Anzuknüpfen sei dafür an Grundsätze aus dem interreligiösen (vorher schon: interkonfessionellen) Dialog, der übergriffige Kommunikationsformen (EKD, 2020, S. 103) meidet, das offene Gespräch sucht und sich vom anderen auch zur „selbstkritischen Musterung kirchlichen Handelns aus konfessionsloser Perspektive“ (EKD, 2020, S. 107) anregen lässt. Auch wird dazu ermuntert, konventionelle Wege zu verlassen, neue Formen auszuprobieren und ungewohnte Worte zu sagen (EKD, 2020, S. 107). So will man dem Phänomen Konfessionslosigkeit, das die Kirche inzwischen mehr herausfordere als der religiöse Pluralismus, konstruktiv begegnen.

Der konzeptionelle Anknüpfungsunkt dafür ist „Bildung“. Das ist schon darum schlüssig, weil die Religionspädagogik (Michael Domsgen, David Käbisch u. a.) neben der Religionssoziologie das Thema Konfessionslosigkeit früher als andere entdeckt und bearbeitet hat. Es ist aber auch darum überzeugend, weil über die verschiedenen Bildungsträger und Lernorte von Kindergarten, Schule und Akademie bis hin zu kulturellen Artefakten Bildung in der Tat die wichtigste Kontaktfläche zur Bevölkerung herstellt: „Bildungsarbeit bietet in einer Häufigkeit, Dauer und Dichte Kontaktflächen zwischen Konfessionslosen und Kirche, die ihresgleichen sucht.“ (EKD, 2020, S. 21). Auch ist es eine verbindende, weil gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Kirchennahen und Kirchenfernen, religionsbezogenes Wissen als Teil der Allgemeinbildung wachzuhalten, ohne die die Kulturgeschichte nicht lesbar wäre. So wirkt man dem Traditionsabbruch durch Information und Wissen entgegen, sorgt für eine „religionsbezogene Alphabetisierung“ (EKD, 2020, S. 110) und kann das auch selbstbewusst vertreten: von religionsbezogener Bildung könne man sich auch unter Berufung auf Artikel 4 des Grundgesetzes nicht befreien (EKD, 2020, S. 111).

Angedacht wird dies auch für den Bildungsraum Universität, wo Konfessionslosigkeit kein fester Baustein in den theologischen Teildisziplinen ist, obwohl es sich als ein Querschnittsthema eignet, das, wie ansatzweise durchgespielt (EKD, 2020, S. 66‒69), von allen Fächern der Theologie aufgegriffen werden kann. Dass Konfessionslosigkeit über die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen hinaus auch von der Praktischen Theologie „schon seit Längerem“ thematisiert wird (EKD, 2020, S. 14), lässt sich nach meinem Eindruck nur in Maßen für einzelne Handlungsfelder bestätigen.[6] Es ist aber möglich, dies auszubauen, dafür „auch pastorales, diakonisches, seelsorgliches Handeln bildsam zu gestalten“ (EKD, 2020, S. 19) und sich damit an das Grundkonzept der Verlautbarung anzuschließen. Dass dabei nun gerade Bereiche stärker in den Fokus kommen sollen, die auch in Marburg schwerpunktmäßig gelehrt werden, muss natürlich freuen.[7] Und in der Tat: Rundfunkformate, alle Formen von Spezialseelsorge, Altenarbeit und Kirchenbau ‒ „die baulichen Hinterlassenschaften“, wie es im Text heißt (EKD, 2020, S. 122) ‒ sind Orte, an denen christliche Deutungsangebote in die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Milieus einfließen können. Der Text hebt solche praktisch-theologischen „Säulen“[8] zu Recht hervor, sagt aber nicht, dass gerade an solchen Säulen in Kirche und Universität gespart wird[9] ‒ wie überhaupt das Faktum Geld und Finanzen erstaunlich wenig zur Sprache kommt, obwohl die vielen Austritte und Abbrüche ja nun genau zu dieser ungemütlichen Konsequenz führen und die Kirche dazu nötigen, ihre (alte) bundesrepublikanische Komfortzone zu verlassen. Ideen und Innovationen sind sicher nicht nur eine Frage des Geldes. Aber ganz ohne Geld werden sich viele Ideen eben nur denken und nicht realisieren lassen. Was dazu zwingt, Prioritäten zu setzen und mit Verlusten zu leben: für das eine, für das man sich starkmacht, fällt anderes weg (EKD, 2020, S. 106).

Von diesem Verteilungskampf zeigt der Text wenig. Dafür gibt er dem Konstrukt von der „Kommunikation des Evangeliums“ breiten Raum und führt damit einen normativen Begriff ein (EKD, 2020, S. 86), der die ansonsten kontextnahe Darstellung unterwandert. Zwar mag eine normative Orientierungsfigur für die Auseinandersetzung mit einem entkirchlichten Kontext wichtig sein. Gerade dort, wo Konfessionslosigkeit selbst als familiär tradierte, gesellschaftliche Norm fungiert (Friedrichs, 2011, S. 431). Die gewählte Formel scheint dafür aber nun gerade nicht geeignet. Sie transportiert mit konfessorisch-missionarischem Unterton kleine Überlegenheitsgesten, für die Kirche schon bekannt sein dürfte und die ihre Beliebtheit in einem skeptischen Umfeld kaum steigern werden. Etwa wenn sie behauptet, dass die christliche Botschaft eine „starke Lebensgrundlage“ (EKD, 2020, S. 7) ist, es eine „beglückende Erfahrung“ sei, „das eigene Leben im Licht des Evangeliums deuten und führen zu können“ (EKD, 2020, S. 20), und die Aufgabe offenbar darin gesehen wird, andere an der Kommunikation des Evangeliums teilhaben zu lassen, „die Relevanz des Evangeliums für einzelne Menschen zu erschließen“ und „öffentlich auszuweisen, dass das Evangelium lebensdienlich ist“ (EKD, 2020, S. 22) für die Kirchenmitglieder wie für das Gemeinwesen insgesamt.

Mal abgesehen davon, dass es kaum wahrscheinlich ist, jeden Tag vom Evangelium „beglückt“ durchs Leben zu gehen und Glück überhaupt eine eigenwillige Kategorie ist, die eher zur Ratgeberliteratur einer Bahnhofsbuchhandlung passt, stellt die Denkschrift mit solchen Ideologemen auch in Zweifel, wie aufrichtig ihre Toleranz und Großzügigkeit einer konfessionslosen Lebenshaltung gegenüber wirklich ist. Denn: Kann man nicht auch „konfessionslos glücklich sein“ (Barth, 2013)? Nicht auch ohne Kirchenbindung dankbar? Nicht auch dann solidarisch und gesellschaftsverändernd wirken, ohne dies als einen Akt der Nächstenliebe zu bezeichnen? Hier vermischt sich die sachliche Analyse mit emotionalen und moralischen Kategorien, werden hermeneutische Fragen zu wenig geklärt und zu früh von Handlungsanweisungen überboten, wenn die christliche Religion dezidiert nicht nur Verstehens- und Deutungshilfe sein soll, sondern eine Quelle für Angebote zu einer Lebensführung, die praktisch werden will (EKD, 2020, S. 118). ‚Das‘ Evangelium wird damit zu einer enthistorisierten, kirchlich handhabbaren, auch optimierbaren Größe. Es schwimmt wie Öl auf dem Wasser ‒ man braucht es nur abzuziehen. Dass Konfessionslose sich von solcher Kirchenrhetorik beeindrucken lassen, scheint unwahrscheinlich gerade für die Orte, die die Verlautbarung als wichtige Kontaktflächen nennt: Rundfunk, Krankenhaus, Gefängnis. Und es verdeckt zudem den Umstand, dass es die „religiöse Grunderfahrung vieler Zeitgenossen ist, keine Erfahrung des Unbedingten, der Transzendenz mehr zu machen. Sie erleben an sich das Schwinden religiöser Gewissheiten ‒ an ihre Stelle tritt nichts Neues und nichts Anderes, sondern buchstäblich: Nichts“ (Höhn, 2011, S. 204) ‒ und zwar nicht nur bei Entkirchlichten, sondern auch im kirchlichen Bereich selbst, wo die Abwesenheit eigener religiöser Erfahrungen und der Verlust eines personalen Gottesbildes auch bei den Hauptamtlichen zu den sorgsam verschwiegenen Tabuthemen gehört. Nicht zuletzt ist die Formel von der „Kommunikation des Evangeliums“ auch im Wissenschaftsbetrieb, wo die Theologie sich langfristig nur dann behaupten kann, wenn es ihr gelingt, ihre Perspektiven in interdisziplinären Verbünden zu Gehör zu bringen, weder anschlussfähig noch diskurseröffnend. Hier hätte der Text sorgfältiger argumentieren und sich wohl auch damit begnügen sollen, von „christlichen Wirklichkeitsdeutungen“ (EKD, 2020, S. 22) zu sprechen und den „Streit um die Auslegung der Wirklichkeit zu suchen“ (EKD, 2020, S. 143), ohne dies mit einem Kampf um die rechte Lebensführung zu verknüpfen.

Gleichwohl: Ich finde den Grundlagentext grundsätzlich gelungen und nehme mir für die praktisch-theologische Arbeit an der Universität mit, Konfessionslosigkeit künftig konsequenter auf die Agenda zu setzen und Studierende über Argumentation und Information zur Auseinandersetzung mit dem nicht-kirchlichen Kontext ihrer Zeit anzuregen. Dafür schließe ich mich aber lieber an die Forderung nach „Kontextualität und realistische[r] Selbsteinschätzung“ (EKD, 2020, S. 79) an, um auf „die Wandelbarkeit des neuzeitlichen Christentums“ hinzuweisen (EKD, 2020, S. 57) und die eigene historische Kontextgebundenheit mit anderen Zeitkontexten zu vergleichen (EKD 2020, S. 63 und S. 64). Dafür braucht die Praktische Theologie das Gespräch mit der Kirchlichen Zeitgeschichte, um weniger prinzipiengeleitet (EKD, 2020, S. 67 und S. 68: für die Kirchengeschichte allgemein gesagt), weniger theologisch abstrakt, sondern mit einem Gespür für Zusammenhänge ihre „Zeitgenossenschaft“ (EKD, 2020, S. 117) auszuüben, das Gespräch mit der „Situation der Zeit“ zu suchen (EKD, 2020, S. 83), die Phänomene mehrperspektivisch und differenziert zu betrachten (Hauschild, 2004, S. 558) und Zeitgemäßheit nicht mit Aktualismus zu verwechseln. Die Einbindung in die vielfältigen Realitäten, wie sie der Kirchlichen Zeitgeschichte eigen ist, bedeutet, auch widerständige Fakten korrigierend einzubeziehen (Greschat, 2005, S. 94), damit man nicht die Anschauungen der eigenen Kreise für das Ganze, Wahre und Wirkliche hält. Für den Grundlagentext „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit“ hieße dies etwa, stärker die Diskrepanz wahrzunehmen zwischen dem konstatierten guten Leben durch Glauben und der schwierigen Realität, in die jede Glaubenspraxis hineingestellt ist, und die eigene kirchliche Mythenbildung zu reflektieren. Die Kirchliche Zeitgeschichte übernimmt dabei, mit Martin Greschat gesagt, drei wichtige Funktionen: Sie begrenzt „die Breitenwirkung und Aussagekraft von Theologien“ durch eine ideologiekritische Haltung (Greschat, 2005, S. 98: „Die Kirchliche Zeitgeschichte zerstört alle Identifizierungen historischer Fakten, Prozesse und Ereignisse mit dem Willen Gottes.“). Sie bereichert sie aber auch durch neues Material, und sie erschwert die Arbeit der Theologie, indem sie Verbrechen, Gräuel und Grausamkeit nicht aus der Wahrnehmung ausschließt, wie sie die Realität des 20. Jahrhunderts mitbestimmt haben und die die großen Worte „und das billige Reden von Gottes Güte, Fürsorge und Liebe zerschellen“ lassen (Greschat, 2005, S. 99). Erst aus solcher Konfrontation erwächst der Tiefgang (Greschat, 2005, S. 99), an dem die Praktische Theologie in besonderer Weise interessiert sein muss, weil sie stärker als andere Disziplinen die Beteiligung der eigenen Person an der Forschung und den Einfluss der eigenen Biografie auf die wissenschaftliche Arbeit einbezieht.

Dazu gehört auch wahrzunehmen, dass es manchmal mehr Zeit braucht als praktisch-theologisch vorgesehen, um Phänomene der Gegenwart angemessen einordnen und bewerten zu können. Die eingangs am Beispiel der Petersburger Schwimmbadkirche beschriebene eigene Erinnerung an den politischen Umbruch in Russland meldet sich in diesem Beitrag zurück mit einer Verspätung von 30 Jahren ‒ und damit genau mit dem Abstand, den die Kirchliche Zeitgeschichte für ihre Arbeit voraussetzt. St. Petri wurde damals in einer katastrophalen Versorgungslage von vielen Bewohnern der Stadt als identitätsstiftender Faktor erkannt, der nicht nur für die (wenigen) Kirchenmitglieder mit Zugehörigkeit und Verantwortlichkeit verbunden war, sondern für das Gemeinwesen insgesamt erhaltenswert schien. Die Rückführung in einen Raum der Kirche war auch ein Anliegen für den 1990 gegründeten „Internationalen Fonds zur Rettung Petersburgs-Leningrads“, dem Wissenschaftler, Künstler, Geschäfts- und Verwaltungsleute angehörten, die sich der Erhaltung der heruntergekommenen Architekturdenkmäler der Stadt widmeten und dabei priorisieren und Entscheidungen treffen mussten, um die „‚Wiedergeburt Petersburgs‘“ (Börnsen-Holtmann, 1993, S. 146) zu realisieren. Oder wie der Direktor des Fonds, Aleksandr Margolis, damals sagte: „Es geschieht sehr viel […]. Doch unser Problem ist die sehr, sehr große Zahl der Fragen, die sofort und gleichzeitig gelöst werden müssen. Sollen wir erst die Bibliotheken, Museen, Theater retten, das Puschkin-Haus mit seinen Manuskripten, den Großen Saal der Philharmonie, die deutsche Petrikirche wiederherstellen? Oder sollen wir erst unsere Krankenhäuser, Kinderheime, Schulen, Altenheime sanieren? Wir haben das quälende Problem der Prioritäten (Börnsen-Holtmann, 1993, S. 147).

Für die Petersburger Petrikirche ist es im Verbund von Kirchennahen und Kirchenfernen gelungen, zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückzufinden. Aus Sicht von Kirchenvertretern war sie damit „nach mehr als einem halben Jahrhundert der Besudelung wieder frei für das Wort Gottes“ (so Bischof Harald Kalnins, Vorsteher der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Moskau; Börnsen-Holtmann, 1993, S. 182), und die Bedrohung der eigenen Existenz und Werte, die daraus spricht, muss man historisch kennen, wenn sogenannte „Simultankirchen“ heute, nun von der Kirche selbst initiiert, versuchen, kirchliche und profane Nutzung kreativ zusammenzuführen und, wie etwa in Thüringen, Kirchengebäude zu Herbergen und Schwimmbädern umzufunktionieren, um Kontaktflächen mit Konfessionslosen zu schaffen oder weil der dörflichen Gemeinde vor Ort ein Schwimmbad fehlt.[10] Es ist aber auch mit Blick auf diejenigen zu bedenken, die die russische Schwimmbadkirche als Raum ihrer Jugend kennengelernt und hier eine Unterbrechung vom Alltag gefunden haben. Auch wenn sie diese Unterbrechung nicht selbst im Sinne von „Gelebter Religion“ oder im Anschluss an Johann Baptist Metz (EKD, 2020, S. 65) als „Religion“ bezeichnen würden ‒ hier haben sie schwimmen gelernt und damit eine Ausstattung für ihr Leben bekommen, die erklärt, warum jenseits von ideologischer Verortung der Rückbau der Kirche aus ihrer Perspektive zu Recht auch als Verlust erlebt werden kann. Im konkreten Beispiel bleibt architektonisch beides erhalten: Hallenkirche und Hallenbad bringen ihre Geschichte baulich weiterhin zusammen, was man allerdings nur entdeckt, wenn man sich in die Katakomben begibt.

Literaturverzeichnis

Barth, H. M. (2013). Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Beelitz, T. (2018). „Wenn ich trauere, bin ich dann schon religiös?“ Beobachtungen und Reflexionen zu professioneller Seelsorge in der „Kultur der Konfessionslosigkeit“. WzM, 70(5), S. 429‒447.

Biskupski, W. (2005). „Vielleicht macht es doch Sinn…“. Seelsorge mit nicht kirchlich gebundenen Menschen. PrTh, 40(4), S. 276–283.

Börnsen-Holtmann, N. (1993). Sankt Petersburg ‒ wiedergefundene Stadt. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag.

Deeg, A. & Lehnert, C. (2017) (Hrsg.). Nach der Volkskirche: Gottesdienste feiern im konfessionslosen Raum. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

EKD (2020) (Hrsg.). Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit. Aufgaben und Chancen. Leipzig 2020: Evangelische Verlagsanstalt.

Friedrichs, L. (2011). Konfessionslosigkeit als homiletische Herausforderung. PTh, 100(9), S. 426‒437.

Gailus, M. (2001). Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag.    

Greschat, M. (2005). Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16). Leipzig 2005.

Grözinger, A. (1997). Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns. Rheinbach: CMZ-Verlag.

Grözinger, A. & Pfleiderer, G. (2002) (Hrsg.). „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich: Theologischer Verlag.

Hauschild, W.-D. (2004). Zeitgeschichte, Kirchliche. TRE, XXXVI, S. 554–561.

Höhn, H.-J. (2011). Gottes Fremde? Theologie in postsäkularen Konstellationen. In T. Unger (Hrsg.). Zum Glauben reizen. Mission und Glaubensvermittlung in der postsäkularen Gesellschaft. Hannover: LVH, S. 175‒176.

Sankt-Petri-Kirche (Sankt Petersburg). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Sankt-Petri-Kirche_(Sankt_Petersburg) [Zugriff: 23.04.2021].

Schwahn, H. (2010) (Hrsg.). St. Petri 1710‒2010. Drei Jahrhunderte evangelisch-lutherischen Gemeindelebens in St. Petersburg. Moskau: Business Continent GmbH [zweisprachig].

Steffensky, F. (1994). Auf der Suche nach der verlorenen Sinnlichkeit. In: H. M. Fraund & J. Goetzmann & R. Rengstorf. (Hrsg.). Wie sag ich’s…? Ein Handbuch für die kirchliche Rede in Hörfunk und Gemeinde. Hamburg/Stuttgart: Steinkopf, 3. Aufl., S. 77‒91.

 

Maike Schult ist Professorin für Praktische Theologie, Philipps-Universität Marburg

 

  1. Die Sportschwimmer konkurrierten mit Schauspielern des Theaters „Lengosestrada“, die die Kirche zu einem Dokumentarfilmstudio umbauen wollten, doch hatten die Sportler „die bessere Lobby und bekamen das Gebäude.“ (Schwahn, 2010, S. 83). Obwohl die baulichen Eingriffe beim Umbau in ein Hallenbad gravierend waren, erwies sich die Entscheidung vielleicht als Glück: „Bei einer Nutzung als Theater wäre es ‒ nach den Erfahrungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche bei ähnlichen Konstellationen in Omsk, Kaliningrad oder Krasnodar ‒ ungleich schwerer, wenn nicht unmöglich gewesen, ein funktionierendes Theater auszusiedeln.“ (Schwahn, 2010, S. 87).

  2. So wurde die deutsche evangelisch-lutherische St. Annenkirche aus dem 18. Jahrhundert bis 1934 für Gottesdienste genutzt, dann von den Sowjets zum „Kino Spartak“ umgebaut und zum Nachtclub degradiert. Sie geriet 2002 in Brand und brannte völlig aus. Doch nicht nur evangelische, auch russisch-orthodoxe Kirchengebäude erfuhren perfide Umwidmungen wie die Kasaner Kathedrale, die, ebenfalls am Nevskij-Prospekt gelegen, 1932 zum „Museum für Geschichte der Religion und des Atheismus“ umfunktioniert wurde, um auf der Basis und im Sinne von Marxismus und Leninismus über Entstehung und Rolle von Religion zu unterrichten.

  3. Das Schwimmbad war übergangsweise noch bis zum 1. Januar 1993 in Betrieb.

  4. So der Programmbegriff, der individuellen Wirklichkeitsbezug vor theologischen Prinzipienfragen starkmachen sollte und zu vielen kreativen Streifzügen in Theorie und Praxis geführt hat. Vgl. etwa Grözinger, 1997; Grözinger & Pfleiderer, 2002.

  5. Bei der Gewinnung Konfessionsloser durch religiöse Bildung gehe es schon um die Hoffnung, konfessionslose Menschen für einen (Wieder-) Eintritt in die evangelische Kirche zu gewinnen, aber „ohne sie unter statistischen Ertragsdruck zu stellen und geistliche Renditeerwartungen zu formulieren.“ (EKD, 2020, S. 96).

  6. So fehlte Fulbert Steffensky mit Blick auf die Rundfunkarbeit schon 1994 eine Homiletik für die nicht-kirchliche Öffentlichkeit, obwohl kirchliche Verkündigungssendungen in einem hohen Maße kirchlich nicht gebundene und in der christlichen Tradition nicht beheimatete Menschen erreichen (Steffensky, 1994, S. 85). Auch 2011 sucht Lutz Friedrichs das Thema Konfessionslosigkeit in der Homiletik noch vergebens, was daran liege, dass sich Homiletik zu stark auf die Sonntagspredigt ausrichtet; er schlägt darum vor, sich mehr auf Kasualien zu konzentrieren (Friedrichs, 2011, S. 426). Für die Seelsorge vgl. Biskupski, 2005 und Beelitz, 2018; für den Gottesdienst Deeg & Lehnert, 2017.

  7. Für Konfessionslose attraktive Schnittflächen zur Kirche seien kirchliche Tagungsstätten, Radio- und Fernsehformate, Internet und soziale Netzwerke, Frauenwerke und Männerarbeit, Kirchgebäude und Jugendkirchen, Krankenhaus- und Militärseelsorge, Fernseh- und Kinogottesdienste, diakonisches oder zivilgesellschaftliches Engagement sowie die Seniorenarbeit (EKD, 2020, S. 41).

  8. Konkret genannt: die Seelsorge, weil sie Menschen verschiedener religiöser und weltanschaulicher Orientierung adressiert und erreicht: „Dies ist eine wichtige, öffentlich sichtbare Säule der Begegnung auch mit Konfessionslosen.“ (EKD, 2020, S. 134).

  9. Solche Entscheidungen sind insbesondere für die Kirchenmusik in Gemeinden und für das Marburger Kirchbauinstitut mit seiner außerordentlich wichtigen Vermittlungsarbeit zwischen Theorie und Praxis nicht nachvollziehbar.

  10. Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich meinem Kollegen Thomas Erne.