In jüngster Zeit wird die Frage nach Emotion und schulischer Bildung verstärkt gestellt (Gläser-Zikuda, Hofmann & Frederking, 2021; Rubach & Lazarides, 2021; Huber & Krause, 2018). Dieses Interesse geht zurück auf eine Art ‚Wiederentdeckung‘ der Emotionen in den Humanwissenschaften, auch in der Theologie (Barth & Zarnow, 2015; Charbonnier, Mader & Weyel, 2013). Geistes- und wissenschaftsgeschichtlich lässt sich die verstärkte Beschäftigung mit den menschlichen Gefühlen einordnen in eine Entwicklung, die sich als Wellenbewegung zwischen Rationalität und Emotionalität nachzeichnen lässt, mit den prominentesten emotionsbetonten Ausprägungen in der Romantik und – bekannt-problematisch in ihren Auswirkungen – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Andererseits zeigt sich schon immer und durchgehend eine besondere Nähe der Religion zum Gefühl, die je nach Kontext und wissenschaftlichem Zugang als positiv oder problematisch bewertet wurde. Von daher erscheint es z.B. sehr sachgemäß, dass das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin im Rahmen seines Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ auch ein eigenes Forschungsprojekt „Emotionen und Religion“ aufgesetzt und dazu programmatisch festgehalten hat:

„Von Praktiken der Frömmigkeit bis zur akademischen Theologie – auf dem Gebiet der Religion sind Emotionen allgegenwärtig und bedeutsam. In vielen historischen Kontexten zielen religiöse Rituale auf die Erzeugung eines bestimmten emotionalen Erlebnisses, bei dem bestimmte Arten des Fühlens als Beweis für den richtigen Glauben oder für eine Verbindung mit dem Göttlichen gelten.“1

Aufschlussreich ist, dass der Zusammenhang von Religion und Gefühl aktuell auch von säkularer Seite Wertschätzung erfährt. So hat etwa der US-amerikanische Philosoph Stephen T. Asma in seinem Buch „Why We Need Religion. An Agnostic Celebration of Spiritual Emotions“ (2018a) herausgearbeitet, dass der Kern von Religion im therapeutischen Management von Emotionen besteht. Dies sei deshalb so bedeutsam, weil unsere Gefühle genauso wichtig für unser Überleben seien wie unser Denken:

„Unsere Spezies ist ausgestattet mit adaptiven Emotionen wie Angst, Wut, Lust usw. Religion war (und ist) das kulturelle System, das diese Gefühle und Verhaltensweisen hoch- oder herunterregelt. Wir sehen das deutlich, wenn wir uns die Mainstream-Religion anschauen statt schädliche Formen des Extremismus. Mainstream-Religion reduziert Ängstlichkeit, Stress und Depression. Sie liefert existenziellen Sinn und Hoffnung. Sie widmet sich der Aggression und Furcht gegenüber Feinden. Sie domestiziert Lust und stärkt menschliche Beziehungen.“ (Asma, 2018b; Übersetzung: M.P., vgl. auch Pirner, 2022).

Angesichts dieser vielfältig belegten großen Bedeutung der Zusammenhänge zwischen Religion und Emotion, gerade auch im Christentum, ist es verwunderlich, dass Gefühle in der Religionspädagogik – abgesehen von einigen Ausnahmen – bislang keine große Aufmerksamkeit in Forschung und Diskurs gefunden haben. Unser Themenheft „Emotionen aus religionspädagogischer Perspektive“ will dieses Defizit bearbeiten helfen und zielt zugleich auf eine domänenspezifisch interessierte Aufnahme und Weiterführung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses.

Entsprechend geht es im ersten Teil zunächst um (entwicklungs- und religions-)psychologische Grundlagen und im zweiten Teil um theologische (systematische und exegetische) Grundlagen, auf die religionspädagogische Perspektiven aufbauen können, im dritten Teil folgt ein Blick auf den Forschungs- und Diskussionsstand in Erziehungswissenschaften und anderen Fachdidaktiken, zu dem sich Religionspädagogik in Beziehung setzen muss, und schließlich werden im vierten Teil unterschiedliche religionspädagogisch-fachdidaktische Perspektiven entwickelt.

Im ersten Teil legt zunächst der Entwicklungspsychologe Manfred Holodynski die Genese (religiös konnotierter) Emotionen und Sentiments dar, wobei diese im Rahmen christlicher Glaubensgemeinschaften in westlichen Kulturen und dem Jugendalter als der für die religiöse Sozialisation entscheidenden Altersphase fokussiert werden. Religionspsychologe und Psychotherapeut Michael Utsch erläutert in seinem Beitrag den Konnex von Emotion und Religion primär mit dem Fokus auf ‚toxische‘ und gesundheitsförderliche Formen von Religiosität, wie sie in der psychotherapeutischen Beratungspraxis auftreten.

Im zweiten Teil widmet sich der systematische Theologe Dietrich Korsch in seinem Beitrag dem Verhältnis zwischen Gott und der Logik der Gefühle, während die Exegetin und Pädagogin Tanja Smailus narratologische Methoden zur Untersuchung emotiver Leserlenkung in Erzähltexten vorstellt.

Im dritten Teil fragen die Schulpädagog:innen Michaela Gläser-Zikuda. Simon Meyer & Melanie Stephan nach der Bedeutung von Emotionen für Lehr- und Lernprozesse in Schule und Unterricht und eröffnen einen Überblick über den pädagogisch-psychologischen Forschungsstand. Emotionen zeigen sich dabei zugleich als Determinanten und Ergebnis eines Lernprozesses. Ihr Beitrag wird ergänzt durch die Darstellung von Volker Frederking, Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, der zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sicht verschiedener Fachdidaktiken auf das Thema Emotionen unter dem Leitkonzept einer Allgemeinen Fachdidaktik skizziert. Er greift dazu auf Beiträge zahlreicher Fachdidaktiken in einem von ihm mit herausgegebenen Sammelband zurück.

Den vierten, dezidiert religionspädagogisch-fachdidaktischen Teil eröffnet Helga Kohler-Spiegel, sie untersucht in ihrem Beitrag die spezifische Rolle emotionalen Lernens in der Grundschule. Uta Pohl-Patalong diskutiert den Zusammenhang von biblischem Lernen und Emotionen im Religionsunterricht und Elisabeth Naurath befasst sich mit der Bedeutung von Emotionen im Feld interreligiösen Lernens. Sabine Hermisson nimmt ein konkretes Thema des Religionsunterrichts, nämlich das Thema „Schöpfung“ in den Blick, indem sie aus einer größeren empirischen Befragung von Jugendlichen die emotionsbezogenen Anteile referiert und diskutiert. Das Tableau abschließend bietet der Aufsatz von Mónika Solymár empirische Einblicke in Lehrpläne und Schulbücher für den evangelischen Religionsunterrichtund sucht nach vorfindlichen bzw. ausbleibenden Emotionen.

Wir danken allen Autor:innen herzlich für ihre Beiträge. Sie lassen aus unserer Sicht zum einen erkennen, wie wichtig und vielfältig bedeutsam das Thema Emotionen für religiöse Bildung ist; zum anderen zeigt sich auch, dass hier noch ein beträchtlicher Forschungs- und Handlungsbedarf besteht. Die Bedeutsamkeit von Emotionen für den Religionsunterricht lässt sich drei Kategorien zuordnen (vgl. auch Pirner, 2022):

a) Gefühle gehören in besonderer Weise zum Gegenstand des Religionsunterrichts, nämlich der Religion.

b) Gefühle und der Umgang mit ihnen gehören zum Menschsein des Menschen dazu; da der Religionsunterricht ein ‚ganzheitliches‘, mehrdimensionales Verständnis von Mensch und Bildung betont, zielt er auch in besonderer Weise auf die Förderung von emotionaler Bildung.

c) Gefühle begleiten unausweichlich alles menschliche Lernen und können dieses fördern, unterstützen – oder behindern; dies gilt natürlich auch für religionsunterrichtliches Lernen.  

Während die Aspekte a) und b) durchaus in religionsdidaktischen Ansätzen und Konzepten aufgegriffen und diskutiert werden, kommt Aspekt c) bislang nur wenig im religionspädagogischen Diskurs vor. Für alle drei Aspekte gilt, dass ein eklatantes Defizit an empirischer Forschung besteht. Dabei liegen lohnenswerte Forschungsthemen auf der Hand: Mit Bezug auf Aspekt a) könnte z.B. empirisch erhoben werden, welche Art didaktisch-erlebnishafter Präsentation von Religion bzw. von religiösen Themen welche Gefühle bei den Schüler:innen auslöst, wie tief und nachhaltig diese sind und wie sie die Reflexion solcher Gefühle im Religionsunterricht erleben (in diese Richtung geht der Beitrag von Sabine Hermisson). Im Sinne von Aspekt b) könnte erforscht werden, wie gängiger Religionsunterricht zur emotionalen Bildung bzw. emotionalen Kompetenz der Lernenden beiträgt und wo hier Optimierungsmöglichkeiten bestehen. Schließlich wären mit Blick auf Aspekt c) Forschungen hilfreich, die empirisch auf die Verknüpfungen zwischen Lernen und Emotionen im Religionsunterricht aufmerksam machen, z.B. indem die Gefühle der Lernenden bei bestimmten charakteristisch-religionsdidaktischen Lernformen oder Verhaltensmustern von Lehrpersonen erhoben werden bis hin zu ‚Gefühlskurven‘ einer Unterrichtsstunde. Auch Interventionsstudien wären wünschenswert, die zeigen, welche lernförderlichen Effekte das bewusste didaktische Einbeziehen der Emotionen der Schüler:innen bewirken kann.

Wir hoffen und wünschen uns, dass dieses Themenheft zu weiteren Forschungen ebenso anregt wie zu einer emotionssensibleren Praxis.  

Literaturverzeichnis

Asma, S. T. (2018a). Why We Need Religion: An Agnostic Celebration of Spiritual EmotionsNew York: Oxford University Press.

Asma, S. T. (2018b). Religion is about emotion regulation, and it’s very good at it. Aeon (digital magazine), 25. September 2018. URL: https://aeon.co/ideas/religion-is-about-emotion-regulation-and-its-very-good-at-it [Zugriff: 16.05.2022].

Barth, R. & Zarnow, C. (Hrsg.) (2015). Theologie der Gefühle. Berlin: de Gruyter.

Charbonnier, L., Mader, M. & Weyel, B. (Hrsg.) (2013). Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gläser-Zikuda, M., Hofmann, F. & Frederking, V. (Hrsg.) (2022). Emotionen im Unterricht. Psychologische, pädagogische und fachdidaktische Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer.

Huber, M. & Krause, S. (Hrsg.) (2018). Bildung und Emotion. Wiesbaden: Springer.

Pirner, M. L. (2022). Emotionen im Religionsunterricht. In M. Gläser-Zikuda, F. Hofmann & V. Frederking (Hrsg.), Emotionen im Unterricht. Psychologische, pädagogische und fachdidaktische Perspektiven (S. 190–201). Stuttgart: Kohlhammer.

Rubach, C. & Lazarides, R. (Hrsg.) (2021). Emotionen in Schule und Unterricht. Bedingungen und Auswirkungen von Emotionen bei Lehrkräften und Lernenden. Berlin: Verlag Barbara Budrich.

 

Das Herausgeberteam

Dr. Monika E. Fuchs, Professorin für Ev. Theologie/Religionspädagogik an der Leibniz Universität Hannover

Dr. Helga Kohler-Spiegel,Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Österreich

Dr. Manfred L. Pirner, Professor für Religionspädagogik und Didaktik des ev. Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg