Die in dieser Ausgabe von Theo-Web veröffentlichten Beiträge sind im Rahmen des Forschungsprojektes „Über die anderen unterrichten: Mindsets und Praktiken im fremdreligiösen Unterricht an der Hochschule” in Kooperation der Universitäten Paderborn und Osnabrück entstanden. Das Projekt ist die Fortführung der von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) ermöglichten Projektwerkstatt „Religiöse Diversität in Curricula der islamisch-theologischen Studien“, deren Ergebnisse in der Ausgabe 19/1 (2020) an dieser Stelle bereits veröffentlicht wurden.

Im Rahmen der Projektwerkstatt konnte für die islamische Religionslehrer*innenbildung gezeigt werden, dass die Mindsets der Lehrenden in interreligiösen Lehrveranstaltungen und die Praktiken in der Hochschullehre stark von der Instruktion religionskundlichen Wissens und einem formalen, auf Gemeinsamkeiten bezogenen Dialog ausgehen. Sie erreichen selten eine differenzsensible Positionierung, die Arbeit an Haltungen oder einen Perspektivwechsel, der die fremde Religion zum Lernort macht. Diese Ergebnisse überraschen, da es – neben der Vermittlung von Grundwissen – ebenso als gängiges Ziel der Lehre gilt, Studierende auf einen Religionsunterricht vorzubereiten, der von den Lehrkräften differenzstarke Praktiken und eine eigene religiöse Positionierung erfordert.

Mit dem Anschlussprojekt wird die Perspektive auf die christliche Religionslehrer*innenausbildung erweitert und die Mindsets der Lehrenden der interreligiösen Module an evangelischen und katholischen Instituten an insgesamt sechs Hochschulen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen analysiert. Unsere Hypothese ist hier, dass die beobachtete Differenz zwischen den schulischen Anforderungen und den Lernmöglichkeiten der Studierenden an der Hochschule nicht nur eine Herausforderung für die islamische Religionslehrer*innenausbildung darstellt. Wir gehen zugleich davon aus, dass die christliche Religionslehrer*innenbildung durch eine andere Implementierung in dem Hochschulsystem ihre eigene Herausforderung entwickelt, interreligiöse Differenzen sichtbar zu machen und in didaktischen Prozessen zu bearbeiten. Wie schon im Vorgängerprojekt geht es auch hier nicht darum, die Lehre in ihrer Qualität zu bewerten, sondern eher darum, die Lehrkultur überhaupt erst einmal stichprobenartig zu beschreiben, die strukturellen Herausforderungen und die Reaktionen der Lehrenden auf diese Herausforderungen vor dem Hintergrund ihrer Mindsets zu rekonstruieren. Das schafft Respekt vor den Entscheidungen der Lehrenden und vor der Komplexität der Situation, die in normativen Anforderungsbeschreibungen sonst eher untergehen. Die hier präsentierten Ergebnisse der empirischen Untersuchung bilden insofern einen wichtigen Baustein auf dem Weg zu einer Hochschullehre, die sich in der Lehre auf der Höhe der gegenwärtigen interreligiösen Theoriebildung zum Umgang mit religiösen Differenzen befindet. Dafür wird zu untersuchen sein, wie es die Lehre ermöglicht, die Ambiguität in der Mehrperspektivität der kognitiven Positionen auszuhalten oder sich im Angesicht bleibender Differenz begründet positionieren zu können (vgl. Meyer, 2019)[1].

Das Projekt wurde im Zeitraum März 2021 bis Oktober 2021 durchgeführt. Hierfür wurde zunächst der standardisierte Fragebogen aus dem Vorgängerprojekt überarbeitet. Während im ersten Durchgang noch relativ offen gefragt wurde, sind diesmal einzelne inhaltliche Frageblöcke gebildet worden, die auf Grundlage der Ergebnisse und Erfahrungen des Vorgängerprojektes basierten. Als Interviewpartner*innen konnten insgesamt acht evangelische und katholische Dozierende an den Universitäten in Dortmund, Göttingen, Köln, Oldenburg, Osnabrück und Wuppertal gewonnen werden.

Die Auswertung und die Interpretation der Daten wurde im Rahmen der Inhaltsanalyse mit MAXQDA durchgeführt. Den Schwerpunkt der Arbeit bildete nach der Transkription der Interviews die Sichtung des Materials im Sinne der Kontingenzanalyse nach dem Standard von Mayring (2015). Der Fokus lag darauf so explizites und implizites Wissen, Präkonzepte, Überzeugungen und Methoden der Lehrenden zugänglich zu machen und zu systematisieren, um daraus Mindsets zu rekonstruieren und einen Überblick über Haltungen gegenüber der religiösen Pluralität und der Lehre zu ihr zu gewinnen.

Schließlich wurden an drei Hochschulen Seminarsitzungen aufgenommen, die – der Pandemie-Situation geschuldet – via Zoom im Sommersemester 2021 abgehalten wurden. Über praxistheoretische Analysen der Videographien wurden dichte Lehrsituationen in ihren interaktionalen Aufforderungsstrukturen mit den Profilen der Lehrenden zur religiösen Pluralität und zur guten Lehre abgeglichen, um so den Einfluss der Mindsets und des spezifischen Lernorts der Universität mit ihren spezifischen Wissenspraktiken zu erkennen.

Ferner wurden Interviews mit Studierenden durchgeführt, die an diesen Hochschulen interreligiöse Veranstaltungen belegt haben. Deren Auswertung steht allerdings noch aus.

Alle interviewten Personen wurden am 01.10.2021 zu einem internen Abschlussworkshop an die Universität Paderborn eingeladen, um in einem geschützten Rahmen offen und konstruktiv über die Forschungsergebnisse zu diskutieren und über die Konsequenzen daraus auf die Gestaltung von interreligiösen Lehr- und Lernangeboten nachzudenken. Ferner waren Marion Keuchen und Tarek Badawia als Tagungsbeobachter*innen eingeladen, um gemeinsam über die Ergebnisse zu diskutieren.

In dieser Ausgabe sind folgende Beiträge zu finden, die im Rahmen des Forschungsprojektes entstanden sind:

  • Naciye Kamcili-Yildiz und Mariana Dobras analysieren in „Mindsets religiöser Pluralität als Faktor in der christlichen Religionslehrer*innenbildung“ die Interviews mit den Lehrenden der Module zu anderen Religionen in der christlichen Religionslehrer*innenbildung und erarbeiten Denkformen der Lehrenden, wie die eigene Religion im Verhältnis zu anderen Religionen gedacht wird.

  • Der Beitrag „Wir schauen dann mal, ob sich das Befremdungsgefühl wirklich einstellt“ – Zu den strukturellen Beziehungen der Mindsets guter Lehre und religiöser Pluralität in der christlichen Religionslehrerbildung“ von Oliver Reis und Caroline Hasenberg erhebt die Mindsets der befragten Lehrenden zur interreligiösen Lehre und untersucht die Profile zur Lehre mit denen religiöser Pluralität.   

  • Im Beitrag „Hmh, sehr sehr spannend.“  Zum Umgang mit differenzstarken Positionierungen in der Hochschullehre von Oliver Reis, Katharina Saß und Marius Borchert wird mit einem praxistheoretischen Blick die Realisierung von Lehre betrachtet und die konkrete Wirkung der Mindsets religiöser Pluralität und guter Lehre analysiert.

  • Andreas Kubik nimmt in ‚Blinde Flecken‘ interreligiösen Lernens. Hermeneutische Beobachtungen zur Studie“einschlägige Ausführungen in den Interviews zum Anlass, darauf zu reflektieren, wie sich einige Grundprobleme des interreligiösen Lernens in der Praxis widerspiegeln. Dabei wird deutlich, dass manche Aufgaben- und Zielvorstellungen des interreligiösen Lernens zum einen noch nicht hinreichend durchgeklärt sind, zum anderen immer wieder gegenüber den realen Lernsituationen abstrakt bleiben. Es zeigen sich gewissermaßen blinde Flecken im Fachdiskurs des ganzen Unternehmens.

  • Marion Keuchen und Tarek Badawia setzen in ihrem abschließenden Beitrag „Zwischen Mindset und Habitus interreligiöser Lehr- und Lernprozesse“ präsentierte Befunde und Erfahrungen auf der Mikroebene mit Spannungsfeldern gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse auf der Makroebene in Verbindung.

 

Als Projektzuständige bedanken wir uns ganz herzlich bei allen Beteiligten, die mit ihrer Unterstützung auf den unterschiedlichsten Ebenen zum Gelingen des Projektes beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt unseren Mitarbeiter*innen Marius Borchert, Mariana Dobras, Caroline Hasenberg, Sophie Hofmeister und Katharina Saß, die uns in allen Phasen des Projektes mit großem Engagement begleitet und unterstützt haben.

 

Die Projektleitung

Naciye Kamcili-Yildiz (Universität Paderborn)

Oliver Reis (Universität Paderborn)

Andreas Kubik-Boltres (Universität Osnabrück)

 


[1] Meyer, K. (2019). Grundlagen interreligiösen Lernens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.