In den vergangenen Jahren haben in der interdisziplinären Bildungsforschung Überlegungen über Fragen der „Positionierung“ und „Positionalität“ im Zusammenhang mit der religionspädagogischen und gemeindepädagogischen Praxis erheblich an Gewicht gewonnen. Diese Neuakzentuierung spiegelt sich in einem programmatischen Entwurf vom 31. August 2022 mit dem Titel „Koblenzer Konsens zur Religionsdidaktik: Theologische Positionalität im Kontext religiöser Bildung“ wider, der einige zentrale Grundsätze für pädagogisches Handeln formuliert. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Betont wird zunächst das Prinzip des transparenten Erkennen-Lassens der eigenen „Positionalität“ seitens der Lehrkräfte, d.h. des argumentativen Vertretens ihrer eigenen Standpunkte in multireligiösen und multikulturellen Konstellationen, mit dem Akzent auf dem Gebot der Achtung vor alternativen Positionen und dem Bewusstsein der bleibenden Fraglichkeit der jeweils eigenen Position. Das zweite dort benannte Prinzip betrifft das Erfordernis der Förderung von Kontroversität, d.h. der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit differenten Überzeugungen und Wertorientierungen in demokratischen pluralen Gesellschaften sowie der Einübung einer Pluralitätsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz, die mehr bedeutet als bloße Beliebigkeit. Ergänzt wird dies drittens durch das Prinzip der respektvollen Kommunikation im Umgang mit differenten Positionen bei gleichzeitiger klarer Positionierung gegenüber Formen der (gruppenbezogenen) Menschenfeindlichkeit sowie viertens das Prinzip der Stärkung der Entwicklung individueller Urteils- und Handlungsfähigkeit auf Seiten der Schülerinnen und Schüler als Bestandteil ihres Bildungsweges.

Dabei handelt es sich um Prinzipien, die – ebenso wie der Begriff der „Positionalität“ oder der „Positionierung“ – auch in religionswissenschaftlichen und religionsphilosophischen Reflexionen über Fragen religiös-weltanschaulicher Pluralität und Differenz eine zentrale Rolle spielen. Der vorliegende Essay wendet sich dem Thema nicht aus religionspädagogischer oder -didaktischer Perspektive zu, sondern versucht einen anderen Zugang aus der Perspektive der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne und der interreligiösen Forschung. Ausgangspunkt ist ein kurzer Bericht über den Ansatz eines interdisziplinären Forschungsprojekts, das sich in den vergangenen Jahren an den Universitäten Frankfurt und Gießen unter dem Titel „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“mit Fragen des Umgangs mit religiöser Diversität und Differenz befasst hat (vgl. Wiese, 2017a). Der Hauptteil befragt sodann ausgewählte jüdische Entwürfe aus dem zwanzigsten Jahrhundert darauf, ob sich von ihnen aus Linien zu den oben angesprochenen Prinzipien der „Positionalität“ im Kontext religionspädagogischer Praxis ziehen lassen (dazu ausführlich Wiese, 2017b).

1  Elemente eines interdisziplinären Theoriekonzepts

Im Zentrum des Projekts „Religiöse Positionierung“ stand die Frage nach den Bedingungen und Grenzen eines konstruktiven, respektvollen Umgangs mit religiöser Vielfalt und Differenz. Im Unterschied zu interreligiösen Pluralismus- und Dialogkonzepten, die eher auf eine – eigene Wahrheitsansprüche relativierende – Überwindung von Gegensätzen zielen, ging das Projekt davon aus, dass Religionen unvermeidlich positionell sind, d.h. sich genötigt sehen, ihren eigenen Standpunkt gegenüber differenten Wirklichkeits- und Wertvorstellungen zu  vertreten, und zwar innerhalb der eigenen plural verfassten Tradition ebenso wie gegenüber konkurrierenden religiösen und nichtreligiösen Weltbildern. Die Existenz des Anderen oder des Fremden, so die Prämisse des Projekts, nötigt zu Positionierungen im Sinne einer Repräsentation und Affirmation des Eigenen. Dabei ist beides – aufgrund der lebendigen Begegnung oder Konfrontation mit dem Anderen – nicht als statisches Gegenüber festgeschriebener Positionen, sondern immer schon als relationale Bestimmtheit und somit als offenes, dynamisches Geschehen zu verstehen.

Diversität als Wahrnehmung von Verschiedenheit und Andersheit kann dabei faktisch sehr unterschiedlich gedeutet werden: als bereichernde Vielfalt, aber auch als irritierende, mit der eigenen Überzeugung unvereinbare Differenz, ja sogar als fundamentale Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses. Je nachdem können sich daraus entsprechend sehr unterschiedliche Handlungsoptionen ergeben: die nivellierende Relativierung eigener wie fremder Wahrheits- und Geltungsansprüche, das argumentative Werben für die jeweils eigene Position, das pragmatische Ertragen der Existenz des Anderen, religiöse Apologetik, Polemik und Diskriminierung bis hin zur missionarischen Überwältigung des Differenten oder dessen gewaltsamer Unterdrückung. Möglich sind aber auch Formen dialogischer Annäherung und des Dialogs, sofern es gelingt, die widerstreitenden Positionierungen zum Ausgangspunkt wechselseitiger Anerkennung werden zu lassen. Auf dem Hintergrund dieser möglichen alternativen Folgen erfahrener Diversität stellt sich die Frage, welches Potenzial, aber auch welche Widerstände religiöse Traditionen hinsichtlich eines konstruktiv-dialogischen Umgangs mit religiöser und/oder weltanschaulicher Differenz in sich bergen.

Im Gegensatz zu interreligiösen Projekten, die sich vornehmlich auf die Frage nach den gemeinsamen ethischen Werten der unterschiedlichen religiösen Traditionen konzentrieren und die Notwendigkeit, Diversität und Differenz theologischauszuhandeln, bewusst ausblenden, sowie zu den relativierenden Neigungen mancher Ansätze pluralistischer Theologien ging das Projekt von einer vorläufigen These aus, die sich im Laufe des Projekts verifizieren ließ: Die Frage, ob religiöse Positionierungen einen eher destruktiven, integrativen oder dialogischen Charakter haben, hängt nicht in erster Linie vom Inhalt der vertretenen Positionen ab, sondern von den jeweiligen historischen, politischen und kulturellen Konstellationen, etwa herrschenden Machtverhältnissen zwischen Minderheiten und Mehrheiten, in deren Kontext sie sich vollziehen, sowie von den Modalitäten, unter denen sie in gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden. Der Begriff der „Pluralismusfähigkeit“ bzw.  „Pluralitätsfähigkeit“ religiöser Positionierungen beschreibt dabei nicht die Befähigung zu einem Standpunkt jenseits eigener Glaubens- und Wertvorstellungen, sondern eine Haltung der bewussten Bejahung von Pluralität und Diversität, die das Recht des Anderen auf Anerkennung voraussetzt und die eigene Position im Sinne einer kritisch zu reflektierenden Standortgebundenheit im öffentlichen Diskurs begreift.

Eine Perspektive bei der Näherbestimmung des Konzepts der „Positionierung“ ergab sich im Anschluss an sprach- und literaturwissenschaftliche Theorien, insbesondere des russischen Intellektuellen Michail M. Bakhtin, die mit dem Begriff der „Dialogizität“ verbunden sind (vgl. Holquist, 2002). Dabei handelt es sich um ein Element eines Theoriekonzepts, das nach den philosophischen, den kommunikationstheoretischen sowie den historisch-gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und Implikationen dialogischer Praxis fragt und darüber reflektiert, wie differierende argumentative Positionen auch tatsächlich als solche zur Sprache gebracht werden können, ohne sie miteinander in Einklang bringen zu müssen. Dialogizität verweist also im Wesentlichen auf die Möglichkeit eines dialogischen Verständnisses von „Positionierung“, das programmatisch die Möglichkeit der Anerkennung bleibender, vielleicht unaufhebbarer Pluralität und Differenz mit einbezieht. Das Konzept versucht zudem eine kommunikative Praxis zu begründen, die auf einer Bejahung der Polyphonie differenter Stimmen beruht und dazu befähigt, den eigenen Standpunkt zu affirmieren, ohne ihn monologisch geltend zu machen oder absolut zu setzen, d.h. die eigene Position klar zur Sprache zu bringen, ohne die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen zu überwältigen oder ihrer Position die Anerkennung zu verweigern.

Für die theoretische Reflexion des Begriffs der „religiösen Positionierung“, so hat sich in dem Projekt erwiesen, ist seine multidisziplinäre Mehrdimensionalität bedeutsam. So lässt er sich religionstheologisch oder kommunikations- und bildungstheoretisch, aber auch soziologisch ausformulieren. Für die Analyse von Modalitäten religiöser Positionierungen besonders hilfreich sind etwa konfliktsoziologische Ansätze, welche die integrative Kraft der offenen, reflektierten Austragung von Differenzen hervorheben. So ist Georg Simmel zufolge der Konflikt selbst eine „Vergesellschaftungsform“, weil er „Wechselwirkungen“ zwischen den Konfliktparteien hervorzubringen und dauerhafte Austauschbeziehungen zwischen ihnen zu stiften vermag (Simmel, 1992, S. 284–286). Entscheidend ist dabei, ob und unter welchen Bedingungen das offene Austragen von Differenzen die Reflexivität und Soziabilität der eingebrachten Positionen zu steigern vermag. Wie, so lautete vor diesem theoretischen Hintergrund die Frage, müssen religiöse Geltungsansprüche formuliert sein, um keine destruktiven Identitätskonflikte heraufzubeschwören? Und welchen Wert besitzen religiöse Positionierungen, deren Geltungsansprüche so unverbindlich oder beliebig sind, dass sie den Status der Konfliktfähigkeit gegenüber anderen religiösen oder säkularen Positionierungen erst gar nicht erreichen?

Als hilfreich haben sich zur Erhellung von Prozessen religiöser Positionierung zudem sozialphilosophische Überlegungen erwiesen, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Anerkennung des Anderen, aber auch des eigenen Selbst in seiner Eigenständigkeit und radikalen Fremdheit auseinandersetzen. Das gilt etwa für Elemente der Theorie der Anerkennung, die – mit Blick auf multikulturelle Gesellschaften – die Verletzlichkeit des Anderen diskutiert, dem gegenüber Positionierungen erfolgen, und eine Anerkennung seiner Integrität auch bei Wahrung oder Akzentuierung der Differenz fordern (Honneth, 1994). Wichtige Anknüpfungspunkte bieten in diesem Zusammenhang zudem die Anregungen zu einer „kritischen Theorie der Toleranz“, wie sie Rainer Forst formuliert hat: Toleranz wird hier gerade nicht, wie es häufig geschieht, als paternalistische Duldung, sondern im Sinne eines Zusammenspiels von fester Überzeugung, Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und Respekt vor dem Anderen gedeutet, das Raum für tiefgreifende Differenzen lässt und es auf diese Weise gestattet, die Grenzen einer wechselseitigen Verständigung auszuhandeln (vgl. Forst, 2003, S. 675–707).

Nicht zuletzt spielten auch die Emotionsforschung und die Frage eine Rolle, wie sich im Feld des Interreligiösen Angst vor der Fremdheit und Differenz anderer religiöser Traditionen überwinden ließe. Anstöße dafür bieten etwa die Reflexionen Martha Nussbaums über Strategien zur Begrenzung und Überwindung religiöser Intoleranz. Angeregt von der Diskussion um das Burkaverbot, aber auch von der Antisemitismusforschung, analysiert die Philosophin Phänomene der Angst, die in Gesellschaften zu religiösen Stereotypen und Fremdheitsgefühlen bis hin zum Hass führen. Angst, ein narzisstisches Gefühl,ist„eine ‚verdunkelnde Voreingenommenheit‘, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, der andere Menschen in die Dunkelheit verbannt. Wie wertvoll und sogar essentiell Angst in einer wahrhaft gefährlichen Welt auch ist, so ist sie doch selbst eine der großen Gefahren des Lebens“ (Nussbaum, 2014, S. 57) – gerade dort, wo real existierende Sorgen auf religiöse Minderheiten projiziert werden, die mit dem eigentlichen Problem wenig zu tun haben.

In ihrem philosophisch-ethischen Entwurf plädiert Nussbaum für eine dreifache Strategie der Überwindung der „Politik der Angst“: Wichtig sind zunächst politische „Grundsätze“ (Nussbaum, 2014, S. 13), die Orientierung zu geben vermögen, wo die Angst Verwirrung stiftet. Mit Blick auf Religion sollte man dazu als Grundprämissen Menschenwürde, Respekt, Gewissen, Verletzlichkeit und Freiheit ins Zentrum stellen: Verletzlichkeit deshalb, weil alle Menschen gerade auch dort, wo es um die Fragen nach der letzten Bedeutung des Lebens geht, auf den Schutz ihrer Würde und ihrer existentiellen Überzeugungen angewiesen sind (Nussbaum, 2014, S. 60–65). „Grundsätze“ allein, so Nussbaum, genügen jedoch nicht, um Angst entgegenzutreten. Erforderlich sei zudem eine rigorose kritische Selbsterforschung: Jede Person müsse sich prüfen, ob sie in ihren Urteilen konsequent sei, ob sie also die gleichen Maßstäbe an sich selbst und an andere anlegt. Einer starken Emotion wie der Angst, so Nussbaums drittes Argument, sei am besten mit einer anderen emotionalen Fähigkeit zu begegnen – und zwar der „mitfühlenden Phantasie“, dem, was Nussbaum das „innere Auge“ nennt (Nussbaum, 2014, S. 13). Damit meint sie die Fähigkeit, Empathie zu empfinden, sich in andere hineinzuversetzen und die eigene Denkrichtung zu verändern:„Bei der Angst wird die Aufmerksamkeit eines Menschen eingegrenzt und konzentriert sich auf die eigene Sicherheit. Bei der Empathie richtet sich das Denken nach außen“ (Nussbaum, 2014, S. 125).Nur so können Grundsätze und Selbsterforschung wirksam werden, insofern Empathie verstehen hilft, dass und warum andere Menschen andere – auch religiös andere – Lebensvorstellungen haben, die für ihr gutes Leben ebenso wichtig sind wie meine Vorstellungen für mich.

2 „Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eignen Beschlossenseins“ – Perspektiven aus der jüdischen Religionsphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts

Die jüdische Religionsphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts bietet vielfältige Perspektiven, die aufzeigen können, wie sich im Zusammenleben der Religionen Brücken bauen lassen, die über Ängste – vor allem jene vor religiöser Differenz – hinweghelfen und konstruktive Formen der „Positionierung“ begründen können. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf ausgewählte Stimmen, die programmatisch darüber reflektiert haben, wie differente religiöse Traditionen – insbesondere Judentum und Christentum – in eine dialogische Beziehung zueinander treten können, ohne dass die Dialogpartner ihre Identität preisgeben oder aber versuchen müssen, den jeweils Anderen im Gesprächsversuch zu verzeichnen, zu überwältigen oder das Fremde, Differente, Widerständige seiner Tradition zum Schweigen zu bringen oder aber die eigene Position zu verschweigen. Der Fokus liegt dabei auf einer bestimmten wiederkehrenden Argumentationsfigur, welche die Herausforderung jüdischer Vertreter einer Minderheit an die Mehrheitskultur in besonderer Weise auszeichnet: das Argument, dass Diversität ebenso wie differente Identitäten eine legitime, kulturell schöpferische und – theologisch gesprochen – gottgewollte Erscheinung der modernen Gesellschaft darstellten, dass die Wahrnehmung und Bewahrung von Differenz unerlässliche Voraussetzung dialogischer Begegnung religiöser Traditionen seien und dass religiöser Dialog gerade nicht auf Überwindung oder Relativierung von Differenz, sondern auf prinzipielle Achtung des Anderen in seiner radikalen und auch durch den Dialog selbst nicht aufhebbaren Differenz ausgerichtet sein müsse – und zwar auch deshalb, weil göttliche Wahrheit oder göttliche Offenbarung selbst polyphonen Charakter habe.

Am Anfang steht Martin Buber, der Philosoph des Ich und Du, der die Grundlage für seine Reflexionen über religiöse Differenz seit den 1920er Jahren gelegt hatte. In dieser Zeit war er in das spannende Projekt einer interreligiösen Kulturzeitschrift involviert, die er zwischen 1926 und 1930 über einige Jahre hinweg gemeinsam mit dem vom Priesteramt suspendierten katholischen Theologen Joseph Wittig und dem protestantischen Mediziner Viktor von Weizsäcker herausgab. Der Titel – Die Kreatur – zielte darauf, die Verbundenheit der geschöpflichen Welt trotz und in ihrer Vielfalt hervorzuheben. Ursprünglich war ein anderer Titel geplant – nämlich „Grüße aus den Exilen“ – ein Motiv, das für Bubers Denken über den interreligiösen Dialog zum Leitmotiv werden sollte. Im Geleitwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift heißt es programmatisch:

„Religionhafte Sonderungen, aus denen es keine andere Befreiung gibt als die messianische, haben die Not und die Zucht von Exilen. Sie sind uns nicht Imaginationen, wolkige verrückbare Gestaltungen, sondern sinnvoll beständige Wahrheitssphären, die nicht eher als in der Wirklichkeit des Reiches aufschmelzen dürfen. Erlaubt aber und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch: der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eignen Beschlossenseins, die Unterredung über die gemeinsame Sorge um die Kreatur. Es gibt ein Zusammengehen ohne Zusammenkommen. Es gibt ein Zusammenwirken ohne Zusammenleben. Es gibt eine Einung der Gebete ohne Einung der Beter. Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden, gehen einander nichts an; aber Intentionen, die sich am Ziel begegnen werden, haben ihr namenloses Bündnis an der von ihren Wahrheiten aus verschiedenen, aber von der Wirklichkeit der Erfüllung aus gemeinsamen Richtung. Wir dürfen nicht vorwegnehmen, aber wir sollen bereiten.“ (Buber, Wittig & v. Weizsäcker, 1926, S. 1, Hervorhebungen nicht im Original).

Religiöse Pluralität und religiöse Differenz, so Buber – die „religionhaften Sonderungen“ – sind demnach sinnvolle und von Menschen unaufhebbare Sphären der Wahrheit, die „Exilen“ gleichen. In ihrer Exilhaftigkeit, dem Fragmentarischen, zeichnen sie sich durch zwei Eigenschaften aus: erstens die radikale Vorläufigkeit der Erkenntnis und des jeweiligen Wahrheitsanspruchs, d.h. das Noch-Nicht und die Ferne der Vollendung, und zweitens die nicht selten konfliktreiche Fremde gegenüber anderen Traditionen und Wahrheitsansprüchen. Das Motiv nicht allein der Pluralität, sondern der Differenz, ja des unaufhebbaren Getrenntseins in der Unterschiedenheit, ist hier unüberhörbar, wird aber begrenzt vom Motiv des gemeinsamen Ursprungs und der Aufhebung der getrennten „Exile“ in einer – wenn auch im Gespräch nicht vorwegzunehmenden – messianischen Zukunft. Dialog ist laut Buber in zweifacher Form möglich und notwendig: einmal als Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung für das Humanum und zugleich als Gespräch über die Differenz, das, um dialogisch zu sein, zwei Pole besitzen muss: die wechselseitige Offenheit und Achtung, das „Sich-einander Auftun“, im Zusammenspiel mit der „Strenge und Klarheit des eigenen Beschlossenseins“, d.h. dem Bewusstsein der Bindung an das Eigene. Wie kaum ein anderer jüdischer Denker des zwanzigsten Jahrhunderts hat Buber diese Figur der Polarität von Verwurzelung in der eigenen und Offenheit für die fremde Tradition hervorgehoben.

Die theologische Voraussetzung dieser Argumentation entfaltete Buber 1929 in seinem bemerkenswerten Essay „Zwiesprache“. Die Tatsache, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens einander wechselseitig in ihrer Differenz begegnen und bejahen können, liegt aus seiner Sicht im Fragmentarischen des göttlichen Wortes in der Sphäre der Geschichte begründet. Deshalb grenzte sich der Philosoph von Gesprächshaltungen ab, die darauf zielen, „der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen“ (Buber, 1962, S. 179), so als lasse sich über Gottes Wort verfügen. Der Mensch der Moderne lebe in einer weitgehend offenbarungslosen Zeit, einer Zeit des Harrens, in der es „ein eindeutig kennbares und vertretbares Gotteswort“ nicht gebe, sondern in dem sich die überlieferten Worte „in unserem menschlichen Einanderzugewandtsein“ ausdeuteten (Buber, 1962, S. 180). Buber hoffte, es sei eine „Zeit echterReligionsgespräche“ angebrochen, im Gegensatz zu den dialogisch verkleideten Monologen der Vergangenheit, „nicht jener so benannten Scheingespräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeit schaute und anrief, sondern echter Zwiesprache, von Gewißheit zu Gewißheit, aber auch von aufgeschloßner Person zu aufgeschloßner Person. Dann erst wird sich die echte Gemeinschaft weisen, nicht die eines angeblich in allen Religionen aufgefundenen gleichen Glaubensinhalts, sondern die der Situation, der Bangnis und der Erwartung.“ (Buber, 1962, S. 180).

Wie sich diese theologische Einsicht in Bubers dialogischer Praxis auswirkte, lässt sich an einem seiner bedeutendsten öffentlichen Religionsdialoge zeigen, der am 14. Januar 1933 am Stuttgarter Jüdischen Lehrhaus stattfand, vor dem zeitgeschichtlich dramatischen Hintergrund des drohenden Endes der Weimarer Republik und der bürgerlichen Gleichberechtigung der deutschen Juden (vgl. Stegemann, 1988). Sein christlicher Gesprächspartner war der liberale protestantische Neutestamentler Karl-Ludwig Schmidt, ein prononcierter Kritiker des Nationalsozialismus, der selbst bald sein Ordinariat in Bonn verlieren und in die Emigration getrieben werden sollte. Schmidt begegnete Buber und dem Judentum in diesem „Zwiegespräch“ mit außergewöhnlicher Achtung, hob die Bedeutung Israels als des „erwählten Volkes Gottes“ für die Kirche hervor und wandte sich mutig und solidarisch gegen jegliche religiös-ethische Herabsetzung der jüdischen Tradition. Gleichwohl ließ er sich in seinem Gesprächsangebot von der traditionellen christlichen Israel-Theologie leiten und fühlte sich als Christ verpflichtet, seinem jüdischen Gegenüber den Anspruch der christlichen Kirche zuzumuten, das neue, „wahre“ Israel zu sein:

„Die Kirche Jesu Christi eifert fort und fort um dieses Judentum; ihre Duldsamkeit ist ein hoffendes Warten, daß schließlich auch die Juden, ja gerade die Juden erkennen möchten, daß nur die Kirche des Messias Jesus von Nazareth das von Gott berufene Gottesvolk darstellt, dem die Juden einverleibt werden, wenn sie sich wirklich als Israel verstehen.“ (Schmidt, 1981, S. 155).

Buber antwortete weder mit einem Gegenangriff noch unternahm er den Versuch, dem Christentum den Titel „Israel“ streitig zu machen oder den Anspruch der Überlegenheit des Judentums gegenüber der christlichen Tradition zu verteidigen. Stattdessen setzte er Schmidts Zumutung das eigene Selbstverständnis des Judentums entgegen und formulierte die unhintergehbare Position, von der aus er sich zu Schmidt und zum Christentum verhielt:

„Israel ist das, was sich auch heute noch inmitten mannigfacher Verzerrung, Entartung, Verwischung als ein Eigenes in diesem Judentum birgt, als verborgene Wirklichkeit in ihm lebt. Von da aus allein können wir Juden zu den Christen sprechen, von da aus allein haben wir die existenzielle Möglichkeit der Antwort. Und je wahrhafter wir als Israel angerufen werden, um so rechtmäßiger ist das Gespräch.“ (Buber, 1993a, S. 544–545).

Beide, Kirche und Israel selbst, wüssten um Israel, „auf grundverschiedene Weise“: Grundverschiedenheit sei jedoch etwas vollständig anderes als „zweierlei Ansicht“, die man erörtern könne, um dann zu versuchen, „sie miteinander in Einklang zu bringen“ – denn das „Wissen der Kirche um Israel und das Selbstwissen Israels“ stünden einander in einer Weise gegenüber, die „strenger ist in ihrer Gegensätzlichkeit als ein nur logischer Widerspruch“. Buber erkennt an, dass sich die Kirche aus ihrem Selbstverständnis als „neues, wahres Israel“ heraus notwendigerweise das „Verworfensein“ Israels zu behaupten genötigt sah, weil das Judentum Jesus nicht als Messias anerkenne, ja, er geht davon aus, es handle sich bei dem christlichen Anspruch und der damit einhergehenden Verwerfung um „eine Glaubensgewißheit, die unantastbar ist“, der das Judentum kein theologisches Argument entgegensetzen könne, der gegenüber es sich jedoch positionieren müsse:

„Aber wir Israel wissen um Israel von innen her, im Dunkel des von innen her Wissens, im Licht des von innen her Wissens. Wir wissen um Israel anders. Wir wissen …, daß wir, die wir gegen Gott tausendfach gesündigt haben, tausendfach von Gott abgefallen sind, die wir diese Jahrtausende hindurch diese Schickung Gottes über uns erfahren haben – die Strafe zu nennen zu leicht ist, es ist etwas Größeres als Strafe –, wir wissen, daß wir doch nicht verworfen sind. Wir wissen, daß das ein Geschehen nicht in der Bedingtheit der Welt, sondern in der Wirklichkeit des Raumes zwischen Gott und uns ist.“ (Buber, 1993a, S. 545–546).

Das jeweilige Wissen um Israel ist Buber zufolge demnach „grundverschiedenes, unverträglich grundverschiedenes Wissen“, dessen Gegeneinander „von der menschlichen Sprache aus, vom menschlichen noch so kameradschaftlichen Verständigungswillen her“ nicht aufzuheben sei, das erst von Gott her überwunden werden könne. Eine Brücke über die Kluft dieser Grundverschiedenheit gebe es nicht, wohl aber den Hinweis auf den „Geist der Heiligung“ (ruach ha-kodesch), der über den unaufhebbaren Differenzen wehe und der Menschheit zugeteilt sei, „so wie sie ist, in die Zerklüftung, in der sie steht; so aber, daß sie gemeinsam – von hüben und drüben – hinschauen kann zu dem, der sich so niederläßt auf die Menschen, wie verschieden auch deren Standort, ja deren Glaubensgewißheit ist“. Mit diesem Verweis auf den Geist als eine „Bürgschaft der Einheit“ jenseits der unüberwindbaren Differenz zwischen Juden und Christen ist jedoch die zentrale Frage des Religionsgesprächs in keiner Weise entschärft: Was ist die Grundlage eines Dialogs, wenn „die Gewißheit der einen Seite durch die andere Seite, von einem Letzten her, als Letztes abgelehnt wird?“ (alle Zitate Buber, 1993a, S. 546–547).

Der Philosoph vertrat in seiner Antwort auf diese Frage die Überzeugung, das Judentum sei imstande, etwas „sehr Schweres“ zu leisten: trotz der eigenen Positionsgebundenheit die fundamentale christliche Bestreitung des jüdischen Selbstverständnisses auszuhalten und „als ein Geheimnis“ anzuerkennen, als Zeichen der tiefen „Verschiedenheit des Menschlichen“. Dass es diese zentrale, unüberbrückbare Differenz zwischen Judentum und Christentum gebe, die Schmidt zu Recht betone, stand für Buber unumstößlich fest: Aus jüdischer Perspektive sei dies der Gegensatz zwischen dem christlichen Glauben an das Gekommensein des Messias und dem jüdischen Bewusstsein der Unerlöstheit der Welt. Allerdings gebe es einen anderen Weg als den, die Messiasfrage zum ausschließlichen Gradmesser der Wahrheit beider Religionen zu machen. Das Judentum, so Buber, könne das Christentum in seiner Wahrheit anerkennen, ohne die Differenz, das im Tiefsten Trennende, zu verschweigen. Die Grenzen der Gotteserkenntnis verwehrten es jeder historischen Religion, sich als Ausdruck der „endgültigen Offenbarung Gottes“, als unüberbietbare Wahrheit in einem absoluten Sinne zu verstehen: Vielmehr ist „Gott jeder seiner Manifestationen schlechthin überlegen“. Was auf dieses Argument folgt, ist ein eindrucksvoller Versuch, Wesen und Grenzen eines religiösen Dialogs zwischen Judentum und Christentum auszuloten:

„Das Juden und Christen Verbindende […] ist ihr gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit [‚Israel‘], und von da aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines anderen echten Heiligtums anerkennen. Das Geheimnis des anderen ist innen in ihm und kann nicht von außen her wahrgenommen werden. Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit. Aber nichtwissend können sie einander im Geheimnis anerkennen. Wie es möglich ist, daß es die Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes Geheimnis. Wie es möglich ist, daß es eine Welt gibt als Haus, in dem diese Geheimnisse wohnen, ist Gottes Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubenswirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander erschleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir hoffen, daß wir uns einst ohne Scheidewände umgeben fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in dem einen gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es in dem jüdischen Gebet am Fest des Neuen Jahres heißt: ‚ein einziger Bund, um Seinen Willen zu tun‘.“ (Buber, 1993a, S. 549).

Buber fasste zwar am Schluss dieser Passage die eschatologische Aufhebung der Verschiedenheit ins Auge – aber vorerst bleibt es auf unabsehbare Zeit bei der Differenz, und insoweit gilt es die Grundverschiedenheit auszuhalten. Das Bild vom bleibenden Nebeneinander und Gegeneinander von Kirche und Israel im Gegenüber zu Gott, der Differenz, die es auszuhalten gelte, ist eine theologische Schlüsselkategorie, die es Buber ermöglichte, ein Dialogmodell zu entwerfen, das sich durch die Verbindung zweier wesentlicher Elemente auszeichnete: erstens der tiefen Gewissheit der Gültigkeit des eigenen Glaubensgeheimnisses und zweitens der Achtung vor der Wahrheit des fremden, dem eigenen widersprechenden Glaubensgeheimnisses – beide ein „echtes Heiligtum“, beide mit der Dignität des Gottesgeheimnisses ausgestattet, beide unter dem Vorbehalt zukünftiger Bewahrheitung, die den menschlichen Gesprächspartnern im Dialog unverfügbar bleibt. Dass es dabei nicht um Beliebigkeit ging, um ein Verschweigen des Trennenden, mit dem eine möglichst konfliktfreie Koexistenz „erschlichen“ werden könne, sondern um die Anerkennung und Bejahung einer ernsthaften Differenz, ist mit aller Deutlichkeit betont.

In seiner zweiten Antwort an den protestantischen Gelehrten formulierte Buber dann in einem eindrucksvollen Zeugnis seiner Standortgebundenheit beides, seinen Anspruch auf die Achtung seiner persönlichen Glaubensgewissheit und seine eigene Bewunderung der differenten Tradition, indem er einen Spaziergang auf dem Wormser Judenfriedhof beschrieb, von dem aus der Dom zu sehen war:

„Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu einer herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. […] Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.“ (Buber, 1993a, S. 549).

Martin Bubers interreligiöse Dialogik wäre gründlich missverstanden, wollte man sie im Sinne einer „Gleich-Gültigkeit“ aller Religionen deuten, die den Dialog zu einem beliebigen, indifferenten Unterfangen machte. Auch wenn der Philosoph– gerade mit Blick auf Judentum und Christentum – immer wieder auch Gemeinsames und Versöhnendes betonte, kann etwa die Schärfe, mit der er in seiner 1950 publizierten Schrift Zwei Glaubensweisen Jesus von Nazareth für das Judentum in Anspruch nahm und den christlichen Glauben daran maß, aus christlicher Perspektive als Zumutung wirken. Woran ihm dabei lag, war die Doppelperspektive von bleibender Verschiedenheit bei gleichzeitiger dialogischer Verwiesenheit aufeinander: Der Glaube des Judentums und der Glaube des Christentums sind, so endet sein Buch, „wesensverschieden, jeder seinem menschlichen Wurzelgrund gemäß, und werden wohl wesensverschieden bleiben, bis das Menschengeschlecht aus den Exilen der ‚Religionen‘ in das Königtum Gottes eingesammelt wird“, sie hätten einander jedoch bis dahin „Ungesagtes zu sagen und eine heute kaum erst vorstellbare Hilfe einander zu leisten“ (Buber, 1994, S. 183).

Unmittelbar vor seinem Tod in Jerusalem am 13. Juni 1965 formulierte Martin Buber dann in seinen „Fragmenten über Offenbarung“ – so etwas wie sein kritisches geistiges Vermächtnis im Blick auf die Religionen der Welt, das bis heute seine herausfordernde und orientierende Kraft mit Blick auf den Religionsdialog nicht verloren hat. Darin hat der Akzent auf der Bedeutung des Festhaltens der Differenz nichts von einer Schärfe eingebüßt, allerdings ist die Perspektive der selbstkritischen Begrenzung des eigenen Wahrheitsanspruchs und der Bemühung um das Miteinander in der Welt mit ganz neuer Dringlichkeit hervorgehoben:

„Jede Religion hat ihren Ursprung in einer Offenbarung. Keine Religion ist absolute Wahrheit, keine ist ein auf die Erde herabgekommenes Stück Himmel. Jede Religion ist eine menschliche Wahrheit. Das heißt, sie stellt die Beziehung einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft als solcher zum Absoluten dar. Jede Religion ist ein Haus der nach Gott verlangenden Menschenseele, ein Haus mit Fenstern und ohne Tor; ich brauche nur ein Fenster aufzumachen, und Gottes Licht dringt ein; mache ich aber ein Loch in die Mauer und breche aus, dann bin ich nicht bloß hauslos geworden: mich umgibt ein kaltes Licht, das nicht das Licht des lebendigen Gottes ist. Jede Religion ist ein Exil, in das der Mensch vertrieben ist; hier ist er deutlicher als sonstwo, weil er in seiner Beziehung zu Gott von den Menschen anderer Gemeinschaften geschieden; und nicht eher als in der Erlösung der Welt können wir aus den Exilen befreit und in die gemeinsame Gotteswelt gebracht werden. Aber die Religionen, die das wissen, sind in der gemeinsamen Erwartung verbunden; sie können einander Grüße von Exil zu Exil, von Haus zu Haus durch die offenen Fenster zurufen. Doch nicht das allein: sie können miteinander in Verbindung treten und miteinander zu klären versuchen, was von der Menschheit aus getan werden kann, um der Erlösung näherzukommen; es ist ein gemeinsames Handeln der Religionen denkbar, wenn auch jede von ihnen nicht anderswo handeln kann als im eignen Haus. All das aber ist nur in dem Maße möglich, als jede Religion sich ihrem Ursprung, der Offenbarung, in der sie ihren Ursprung hat, zuwendet und an der Entfernung davon, die sich in ihrem geschichtlichen Entwicklungsprozess vollzogen hat, Kritik übt. Die geschichtlichen Religionen haben die Tendenz, Selbstzweck zu werden und sich gleichsam an Gottes Stelle zu setzen, und in der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie eine Religion. Die Religionen müssen zu Gott und zu seinem Willen demütig werden; jede muß erkennen, daß sie nur eine der Gestalten ist, in denen sich die menschliche Verarbeitung der göttlichen Botschaft darstellt, – daß sie kein Monopol auf Gott hat; jede muß darauf verzichten, das Haus Gottes auf Erden zu sein, und sich damit begnügen, ein Haus der Menschen zu sein, die in der gleichen Absicht Gott zugewandt sind – ein Haus mit Fenstern; jede muß ihre falsche exklusive Haltung aufgeben und die rechte annehmen. Und noch etwas ist not: die Religionen müssen mit aller Kraft darauf horchen, was Gottes Wille für diese Stunde ist, sie müssen von der Offenbarung aus die aktuellen Probleme zu bewältigen suchen, die der Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der gegenwärtigen Wirklichkeit der Welt ihnen stellt. Dann werden sie, wie in der gemeinsamen Erwartung der Erlösung, so in der Sorge um die noch unerlöste Welt von heute verbunden sein.“ (Buber, 1993b, S. 101–103).

Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für die jüdische Reflexion über religiöse Pluralität wesentlich verändert. Die Entstehung des Staates Israel, der liberale, multikulturelle Kontext in der amerikanischen Diaspora und neue Ansätze eines jüdisch-christlichen Dialogs veränderten die Konstellation und verstärkten z.T. innerhalb der jüdischen Religionsphilosophie die Neigung, religiös-kulturelle Diversität und Differenz als selbstverständliche, ja, notwendige Gegebenheit menschlicher Kultur anzuerkennen und die eigene religiöse Identität in einem offenen interreligiösen Gespräch neu zu konfigurieren. Bei den nun geführten Debatten innerhalb des Judentums haben wir es – im Vergleich zu den Reflexionen deutsch-jüdischer Denker vor der Shoah – mit einem in vielerlei Hinsicht anderen Diskurs zu tun. Neue Themen traten in den Vordergrund: Wie lässt sich in der offenen, pluralistischen und gleichwohl nach wie vor christlich geprägten amerikanischen Gesellschaft jüdische Identität im Gegenüber zu anderen Denominationen aussagen? Welche Antworten hat religionsphilosophisches Denken – im Staat Israel wie in der jüdischen Diaspora – auf die tiefen Gräben zwischen religiösen und säkularen Kräften oder innerhalb des religiösen Spektrums zwischen Reform und Ultraorthodoxie? Was trägt Nachdenken über die Pluralität von Religionen aus, wenn nicht mehr allein das Verhältnis zum Christentum im Zentrum steht, geht, sondern auch jenes zum Islam – und dies in den Konstellationen von Macht und politischem Konflikt? Wie ist in pluralen Kontexten das Verhältnis von eigener Positionalität und Dialog zu bestimmen?

Dass die jüdische Religionsphilosophie nach 1945 durchaus gegensätzliche Modelle der „Positionierung“ entworfen hat, lässt sich am Gegensatz zweier prominenter Stimmen im amerikanischen Kontext zeigen. Das eine Modell ist ein eher statisches, das den Akzent stark auf antagonistische Formen der „Positionalität“ legt, das zweite ein dynamisches, das auf einen dialogischen Ansatz setzt. Eine klassische Warnung mit Blick auf religiösen Pluralismus und Religionsdialog sprach in den 1960er Jahren Joseph B. Soloveitchik aus, einer der einflussreichsten orthodoxen Denker des zwanzigsten Jahrhunderts. Er stammte aus der litauischen Tradition rabbinischer Gelehrsamkeit, die er während seines Studiums in Berlin mit westlicher Philosophie ins Gespräch brachte. Nach seiner Emigration in die USA im Jahre 1932 legte er eine existentialistisch inspirierte Religionsphilosophie vor, mit der er die Grundlage für ein zugleich modernes und traditionstreues amerikanisches Judentum legen wollte. Bei aller Offenheit gegenüber der modernen nichtjüdischen Kultur hegte Soloveitchik jedoch eine tiefe Skepsis gegenüber dem Dialog mit anderen Religionen. In einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1964 mit dem Titel „Confrontation“ entwickelte er eine Interpretation des Problems religiöser Pluralität, die großen Einfluss auf einen Teil der modernen Orthodoxie insgesamt ausgeübt hat. Dominierend ist bei Soloveitchik das Motiv der Fremdheit und Ausschließlichkeit in der Begegnung der Religionen. So wie Menschen einander in der Welt überhaupt in grundsätzlicher Fremdheit und Einsamkeit begegneten, so stehe auch das Judentum anderen religiösen Traditionen in radikaler Fremdheit gegenüber. Religiöse Erfahrungen seien unvergleichbar und unvermittelbar: 

„Der Ausdruck des Glaubens spiegelt das intime, private, das paradoxerweise unaussprechliche Verlangen des Individuums nach seinem Schöpfer und einer Verbindung zu ihm. Es spiegelt den numinosen Charakter und die Fremdheit des Glaubensausdrucks einer einzelnen Glaubensgemeinschaft, der einem Menschen einer anderen Glaubensgemeinschaft vollständig unverständlich ist.“ (Soloveitchik, 1964, S. 23–24).

Der „Heiligkeit der Bundesgemeinschaft“ (Soloveitchik, 1964, S. 17) – d.h. dem auf dem Sinai geschlossenen Bund zwischen Gott und seinem auserwählten Volk Israel – gerecht zu werden, heiße an der Einzigartigkeit und exklusiven Besonderheit jüdischer Identität festzuhalten. Angesichts der Herausforderung durch die Tatsache der Pluralität von Religion als Merkmal der modernen Gesellschaft liegt der Akzent bei Soloveitchik ganz auf der – legitimen, aber auch durch Dialog schlechthin unüberbrückbaren – Differenz. Dabei sind drei Grundannahmen leitend: Erstens verleiht jede Glaubensgemeinschaft dem göttlichen Grund des Glaubensaktes auf einzigartige Weise Ausdruck, so dass die göttlichen Weisungen und Gebote einer Glaubensgemeinschaft mit denen einer anderen unmöglich ins Gespräch gebracht werden können. Jüdische Spiritualität begründet sich durch normative religiöse Praxis, durch einzigartige symbolische Riten, Gebete und Texte, und ist darin etwa vom Christentum so abgrundtief getrennt, dass ein wechselseitiges Verstehen ausgeschlossen erscheint. Zweitens glaubt jede religiöse Gemeinschaft, ihre Vorstellungen und ihre Praxis seien überlegen, und geht davon aus, dass sich am Ende der Zeit die eigene Tradition als die allein „wahre“ erweisen wird. Drittens könnte Soloveitchik zufolge ein Dialog, der auf die Formulierung eines theologischen Kompromisses oder Konsens zielt, das Ende einer jeden lebendigen religiösen Gemeinschaft bedeuten. Jüdische Partizipation an interreligiöser Begegnung in der pluralistischen Gesellschaft soll sich daher nicht im religiös-theologischen Bereich vollziehen, sondern allein in der Teilhabe am Kampf der Menschen für allgemeine Wohlfahrt und Fortschritt. Achtung vor dem Anders-Sein der jeweils anderen Glaubenstradition drückt sich dabei im Verzicht auf Mission, Vereinnahmung oder überhaupt jeglicher Bewertung aus, die den fremden Glauben zum Objekt macht. David Hartman, ein Schüler Soloveitchiks, hat diese Form des Rückzugs auf die eigene Identität und der Ablehnung des interreligiösen Dialogs wohl nicht zu Unrecht auf die Sorge seines Lehrers zurückgeführt, das amerikanische Judentum könne im Zuge einer dialogischen Öffnung von der nichtjüdischen Mehrheit überwältigt werden, und spürt darin die „die bittere Erinnerung des Exils und der demütigenden Unterwerfung des Judentums unter seinen religiösen Rivalen“. (Hartman, 2002, S. 182).

Im Vergleich zu Soloveitchiks Ausführungen lässt sich die Theorie des aus dem chassidischen Judentum Osteuropas stammenden amerikanischen Religionsphilosophen Abraham J. Heschel zur Frage des religiösen Pluralismus als Plädoyer für ein dynamisches Konzept von „Positionierung“ beschreiben. Heschel entfaltete seine Vision des Dialogs 1965 in einem Essay mit dem Titel „No Religion is an Island“. Entscheidende Voraussetzung einer dialogischen Begegnung sind Heschel zufolge das Wissen um das Verbindende und die gemeinsame Weltverantwortung sowie der Wille zur wechselseitigen Achtung mit Blick auf das Trennende. Die Gesprächspartner müssten der Versuchung widerstehen, um der Vermeidung von Konflikten willen die Ernsthaftigkeit der Differenz zu verschweigen, genauso jedoch jeder Neigung, das Selbstverständnis der anderen Tradition zu ignorieren, zu verzeichnen bzw. ihr mit – exklusiven oder vereinnahmenden – Absolutheitsansprüchen zu begegnen. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen könnten es sich die Religionen nicht mehr leisten, in polemisch-apologetischer Abgrenzung voneinander zu existieren. Judentum, Christentum (und Islam) stünden gemeinsam vor dem Abgrund eines globalen Nihilismus, gegen dessen menschenverachtende Folgen sie gemeinsam aufschreien, dem sie die Hoffnung auf Gottes Pathos entgegensetzen müssten, auf eine göttliche Wirklichkeit, die der Inhumanität leidenschaftlich widerspreche und den Menschen, Gottes Partner bei der Vollendung der Schöpfung, für diesen Widerspruch in Anspruch nehme. Wie, fragte Heschel, kann irgendeine Religion sich heute überlegen fühlen, wo doch alle von den Schrecken der Zeit versehrt seien? Keine interreligiöse Begegnung könne funktionieren ohne die Anerkennung des Gesprächspartners, des fremden Anderen in dessen unverfügbarer Heiligkeit und Kostbarkeit: „Wenn ich im Gespräch mit einem Menschen anderer religiöser Überzeugung feststelle, daß wir in Dingen, die uns heilig sind, nicht übereinstimmen, verschwindet dann das Bild Gottes, dem ich mich gegenübersehe? […] Zerstört die Verschiedenheit religiöser Überzeugung die Tatsache, daß wir verwandte menschliche Wesen sind?“ (Heschel, 1998, S. 328).    

Die Möglichkeit des Dialogs beschränkt sich jedoch aus Heschels Sicht nicht auf die wechselseitige menschliche Solidarität und die gemeinsame ethische Verantwortung bei der Gestaltung der Welt. Juden und Christen können sich – bei aller Differenz – auf grundlegende Gemeinsamkeiten beziehen, insbesondere den biblischen Schöpfungsglauben, die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Einsicht in die darin begründete Verantwortung für die Würde und Heiligkeit des Lebens. In zentralen Aspekten ihrer Gottesvorstellung, ihres Menschenbildes, ihrer ethischen Tradition und ihrer messianischen Hoffnung sind und bleiben sie allerdings„Fremde“und müssen einander widersprechen (Heschel, 1998, S. 329–330). Heschel scheute deshalb nicht davor zurück, die christliche Religion deutlicher Kritik zu unterziehen. Gerade weil er sie als Partnerin bei der spirituellen, moralischen und politischen Erneuerung der Welt betrachtete, warnte er vor den fatalen Wirkungen einer Distanzierung des Christentums von dem ihm eingeschriebenen jüdische Erbe. Umgekehrt forderte Heschel das Judentum auf, dankbar die „Zeichen von Menschen- und Gottesliebe“ in der Geschichte des Christentums, seinen Reichtum und die Tiefe seiner Spiritualität anzuerkennen (Heschel, 1998, S. 332).Anstatt auf der Überlegenheit der eigenen Religion zu beharren und Christentum wie Islam als „Zufälle der Geschichte oder rein menschliche Phänomene“ zu betrachten, müsse das Judentum beide als Teil von Gottes Heilsplan zur Erlösung aller Menschen in seinen Glauben integrieren (Heschel, 1998, S. 339). Mehr noch, Judentum und Christentum müssten sich im Zuge ihres Dialogs der Erkenntnis des göttlichen Gewolltseins religiöser Vielfalt und Differenz öffnen. Zwei Wege sind demnach im Kontext eines interreligiösen Dialogs verschlossen: jegliche auch nur im Verborgenen wirksame missionarische Intention, da sie die religiöse und menschliche Würde des Gegenübers verletzt, aber auch ein relativistischer Wahrheitspluralismus, der die Differenz verschweigt und eher Gleichgültigkeit denn Achtung signalisiert. Ein Dialog ohne eine „Verwurzelung im eigenen Glauben“ berge die „Gefahr der Entweihung, Verzerrung und Verwirrung“, fördere Synkretismus und irrelevante Kompromisse. Die entscheidende Frage lautet daher aus Heschels Sicht: „Wie kann man Treue zur eigenen Tradition mit der Achtung vor unterschiedlichen Traditionen verbinden?“ (Heschel, 1998, S. 331).

Gemessen an diesem Maßstab haben weder die tolerante Duldung fremder Identität noch das beliebige Konstatieren von Pluralität an sich bereits dialogische Qualität. Dialog oder „Dialogizität“ zeichnen sich vielmehr durch eine kritische Wahrnehmung und Benennung der bleibenden und nicht selten tiefgreifenden Differenz zwischen unterschiedlichen Religionen aus. Das Differenzbewusstsein muss jedoch eingebettet sein in eine ausdrückliche Bejahung der fremden Identität als einer ebenso menschlich legitimen wie gottgewollten. Dialogische Demut beruht auf der Erkenntnis, dass Wahrheit nicht besessen werden kann, dass Gottes Stimme den Geist des Menschen „auf vielerlei Weise, in einer Fülle von Sprachen“ erreicht, dass selbst die von Glaubenden als am heiligsten empfundenen Antworten beides sind – „sowohl entschieden als auch bedingt, endgültig als auch tastend“ (Heschel, 1988, S. 335). Pluralität, Diversität und Differenz sind dabei Heschels theologischer Überzeugung zufolge nicht bloß unvermeidliche Folgen der Realität der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis – sie besitzen vielmehr göttliche Dignität. Gottes Wahrheit ist grundsätzlich und gottgewollt polyphon: „In diesem Äon“, so Heschel,„ist Vielfalt der Wille Gottes“ (Heschel, 1998, S. 335). Eine religiös und kulturell monolithische Gesellschaft wäre ein Zeichen spiritueller Verarmung, die Mannigfaltigkeit religiöser Traditionen dagegen ist das Potenzial, das die Menschheit zur Gestaltung, Vollendung und Partnerschaft bei der Erlösung der Schöpfung Gottes befähigt.

Ein weiteres Element jüdischen Denkens der Gegenwart, von dem sich die christlichen Kirchen auf der Suche nach einem angemessenen Modus des Dialogs und christliche Religionspädagogik bei ihrem Nachdenken über Prinzipien der theologischen „Positionalität“ im Kontext religiöser Bildung in pluralen Kontexten inspirieren lassen könnten, wird in den Überlegungen des israelischen Philosophen Menachem Fisch zum dialogischen Potenzial der rabbinischen Literatur sichtbar. Hier wird vielleicht am deutlichsten die Orientierungskraft der jüdischen Religionsphilosophie mit Blick auf gegenwärtige Fragestellungen sichtbar. In seinem Essay „A Modest Proposal: Towards a Religious Politics of Epistemic Humility“ plädiert Fisch dafür, mit Blick auf innerjüdische Pluralität wie auch den Dialog der Religionen an die Traditionen der Vielstimmigkeit des Talmuds anzuknüpfen, die aus seiner Sicht einen Modus der beständigen Selbstkritik und epistemischen Demut nahelegen und einen „gesunden, religiös bedeutsamen, kritischen Pluralismus“ begründen, der es erlaube, auf der Grundlage eines religiös bedeutsamen, kritischen Pluralismus Überzeugungen, die den eigenen widerstreiten, zugleich der Kritik zu unterziehen und ernsthaft das Recht ihrer Existenz zu würdigen. (Fisch, 2003, S. 60). Der religiös Andere ist diesem Konzept zufolge nicht bloß jemand, dessen Irren es um des Friedens und der Koexistenz willen zu tolerieren gilt, sondern vielmehr jemand, dessen Widerspruch gegen die eigenen religiösen Anschauungen ein positiver religiöser Wert zukommt, insofern er dazu nötigt, die eigene Position zu klären, der Korrektur zu unterziehen und immer neu dialogischer Kritik auszusetzen. Auf diese Weise begründet Fisch eine Haltung, die zugleich wichtige Implikationen für einen allgemeineren politischen Diskurs über religiös-kulturelle Vielfalt und Differenz besitzt: Der/die Andere braucht, auch wenn seine/ihre Überzeugungen dem jeweils eigenen Glauben grundsätzlich widerstreiten, nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern stellt eine bereichernde Herausforderung an die eigene Position und demnach eine positive, kreative Kraft dar. Einer Vielfalt an engagierten, gegenläufigen Stimmen in einer offenen Gesellschaft, so Fisch, kommt ein hoher Wert zu, sofern ihr eine Haltung der epistemischen Demut und Offenheit entspricht. Das kritische Gespräch zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen und Gruppen leistet, sofern es einem solchen Modus verpflichtet ist, einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung einer der entscheidenden philosophischen, religiösen, sozialen und pädagogischen Fragen der Gegenwart: der Frage, auf welche Weise religiös-kulturelle Traditionen – angesichts der Alternative religiöser Fundamentalismen und Gewalt – konstruktiv und respektvoll mit Differenz und Konflikt umzugehen vermögen. Für pädagogisches Handeln in Schule und Gemeinde kommt einer solchen Perspektive erhebliche Bedeutung zu.

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Prof. Dr. Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.