1 Einleitung

Das Thema „Positionierung“ bzw. „Positionalität“ wird derzeit in verschiedenen religionspädagogischen Publikationen explizit verhandelt – meist mit Blick auf die schulische Religionsdidaktik (Zimmermann, Kraft, Reis, Roose & Schröder, 2022). Hier lässt sich Positionierung bzw. Positionalität auf unterschiedliche Ebenen oder Akteure beziehen (Zimmermann, 2022; Schambeck, 2017): auf die mit der Konfessionalität des Religionsunterrichts in Deutschland verbundene Positionalität (Lüdtke, 2020); auf die Positionalität von Religionslehrkräften (Fabricius, 2022); auf Positionierungsprozesse von Schülerinnen und Schülern im Kontext interreligiösen Lernens (Sorg, 2020). Grob gesagt, geht es auf allen Ebenen um die Frage, wie die mit der institutionellen Verankerung des Religionsunterrichts gegebene Form von Konfessionalität bzw. Positionalität mit den je individuellen Ausprägungen, also den heterogenen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen der Akteurinnen und Akteure, zusammenspielt.

Empirische Untersuchungen des Phänomens beziehen sich oftmals auf globale Einschätzungen der beteiligten Personengruppen, vor allem in Bezug auf die Positionalität von Religionslehrkräften (Riegel & Zimmermann, 2021a-d; Riegel & Zimmermann, 2022; Pohl-Patalong, Woyke, Boll, Dittrich & Lüdtke, 2016; Pohl-Patalong, Woyke, Boll, Dittrich, Lüdtke & Richter, 2017). Seltener sind Studien, die untersuchen, wie „Sich-Positionieren“ – auf Seiten der Lehrkräfte, aber auch auf Seiten der Schülerinnen und Schüler – empirisch „funktioniert“ (Sorg, 2020; Riegel & Leven, 2016), wie Positionierungsprozesse also in der konkreten Interaktion ablaufen und wie dies theoretisch beschreibbar ist. In meiner Habilitation (Lorenzen, 2020) habe ich daher eine empirisch gegründete Theorie – eine Grounded Theory – entwickelt, deren Kategorien diesem Zweck, also der theoretischen Beschreibung von Positionierungsprozessen, dienen sollen. Allerdings bezieht sich das Interviewmaterial nicht nur auf schulische Kontexte, sondern auf verschiedenste lebensgeschichtliche Situationen. Überdies ist Ausgangspunkt der Habilitation der Begriff der Entscheidung, der Terminus Positionierung wird erst sekundär als offener „Suchbegriff“ für die empirische Untersuchung in Anspruch genommen. Mit diesem Beitrag verfolge ich daher das Ziel, die Ergebnisse meiner empirischen Studie zu religiösen und religionsbezogenen Positionierungsprozessen junger Erwachsener mit einer im Vergleich zur Habilitation spezifischeren theoretischen Rahmung zu versehen: Ich gehe also deutlicher auf die aktuelle religionspädagogische Diskussion zum Begriff der Positionierung bzw. Positionalität ein (Abschnitt 2), sichte mögliche begriffliche Grundlagen, entwickele damit verbundene empirische Fragestellungen (Abschnitt 3) und wende diese dann auf die in der Habilitation erarbeitete Grounded Theory an, die ich exemplarisch skizziere (4). Schließlich diskutiere ich die Frage, inwiefern diese Theorie samt den ihr zugehörigen Kategorien auch auf religionsunterrichtliche Kontexte übertragbar ist, um abschließend zu zeigen, welche kritischen Perspektiven und Fragestellungen aus einem solchen Transfer resultieren könnten (5).

2 Religiöse Positionierung als religionspädagogische Herausforderung

Auf einer ersten Ebene liegt die religionspädagogische Brisanz der Positionierungsthematik in der Diskrepanz zwischen den konzeptionellen Zielformulierungen zu Positionalität und Positionierungsfähigkeit einerseits, empirischen Beobachtungen zur „Performance“ religiöser Positionierung in religionspädagogischen Handlungsfeldern andererseits.

2.1 Die konzeptionelle Ebene

Die genannten Zielformulierungen auf konzeptioneller Ebene betreffen verschiedene Akteure sowie das Setting des Unterrichtsgeschehens und sollen hier kurz skizziert werden.

Aus bildungstheoretischer Perspektive lassen sich religionsbezogene Positionalität und Positionierung mit der „regulativen Idee“ religiöser Bildung verbinden, wie sie beispielsweise von Bernd Schröder formuliert wird, der darunter unter anderem die „persönliche Haltung zu christlicher Religion (wie auch zu anderen Religionen)“ versteht, die es „wahrzunehmen und zu kommunizieren, zu verstehen und kritisch zu klären“ gelte, „um sie in eine existentiell als tragfähig erachtete Form zu überführen“ (Schröder, 2021, S. 179–180).

Da die religionspädagogische Diskussion um religiöse Bildung eng mit dem Pluralitätsparadigma verknüpft ist, in dem die religiöse Orientierungsfähigkeit eine zentrale Rolle spielt (EKD, 2014), lassen sich hier auch Verbindungen zum Phänomen der Positionalität finden. Als besonders wirkmächtig erweisen sich hierbei kontrastive Gegenüberstellungen, die mit den Adjektiven „schwach“ und „stark“ arbeiten, um wenig markante Haltungen von differenzbewussten zu unterscheiden: So plädiert Karl Ernst Nipkow für ein „‚starke[s]‘ Bild des Pluralismus“, in dem bestehende Unterschiede nicht nivelliert, sondern konstruktiv bearbeitet werden (2002, S. 97); Rudolf Englert fordert, „diffuse bzw. entscheidungsschwache in Richtung markanter bzw. entscheidungsstarker Pluralität“ zu bilden (Englert, 2002, S. 102). Und auch die kürzlich erschienene Dissertation von Antonia Lüdtke, die den Konfessionalitätsbegriff im Blick auf einen pluralitätsbewussten Religionsunterricht neu vermisst, votiert für das Ziel der „Standpunktfähigkeit“ von Schülerinnen und Schülern, die unter anderem durch die „Begegnung“ mit Lehrerinnen und Lehrern initiiert werden solle, die sich als „‚committed people“ zu erkennen gäben (Lüdtke, 2020, S. 393–394 passim, mit Rekurs auf Bernd Schröder).

Insgesamt lässt sich also festhalten: Auf konzeptionell-theoretischer Ebene wird das Ziel der Positionalität – auf Lernenden- wie auf Lehrendenseite – vor allem durch Markanz bzw. Bestimmtheit charakterisiert. Im Rahmen religiös-weltanschaulich pluraler Gesellschaften sollen christliche genauso wie andere religiös-weltanschauliche Positionen deutlich erkennbar sein. Daher wird oftmals ihre Differenz herausgestellt – vermutlich auch mit dem Ziel, auf diese Weise Relevanz zu erzeugen. Schließlich ist alles, was einen Unterschied macht, nicht egal.

2.2 Die empirische Ebene

Wie bereits angedeutet, lässt sich diese religiös-weltanschauliche Markanz seitens der religionspädagogischen Akteurinnen und Akteure empirisch nicht bestätigen. Auch hier kann man verschiedene Perspektiven unterscheiden: Hinsichtlich der Lernenden im Religionsunterricht ist zunächst auf Forschungen zu verweisen, die auf die Religiosität bzw. Nicht-Religiosität als Voraussetzung religiöser Lernprozesse fokussieren. So konstatiert die oft rezipierte Studie von Ziebertz und Riegel für Jugendliche eine Tendenz zur „Neutralisierung von Weltanschauungen im Sinne ideologischer Gedankengebäude“, also eine „Entideologisierung“, „die als modernitäts- und pluralitätstauglich empfunden wird“ (Ziebertz & Riegel, 2008, S. 189). Mit anderen Worten: Jugendliche reagieren auf Pluralität, indem sie markante Positionen meiden und stattdessen eher versuchen, durch flexible, tendenziell nivellierende Weltbilder möglichst vieles unter einem Dach zu vereinen. Da es sich bei diesen Beobachtungen aber „nur“ um die Lernausgangslage von potenziellen Schülerinnen und Schülern des Religionsunterrichts handelt, könnte man annehmen, dass die unterrichtliche Auseinandersetzung zu einer profilierteren Haltung führt. Die Ergebnisse der Essener RADEV-Studie zeigen jedoch, dass das Nebeneinander unterschiedlichster Gottesvorstellungen auch im Unterricht von den Lernenden nicht als Problem empfunden wird. Im Gegenteil: Das Forschungsteam entdeckt Strategien, die die Konvergenz der im Unterricht herausgestellten Oppositionen sichern sollen – unter anderem durch Einnahme von unentschiedenen Zwischenpositionen: „Insofern kann man auch von ‚oszillierenden‘ Vorstellungen sprechen, die gar nicht das mit einer ‚Position‘ gewöhnlich verbundene Maß an Definiertheit besitzen“ (Eck & Englert, 2021, S. 80). Fazit: Es ist auch in entsprechend angelegten und wohl reflektierten Unterrichtsarrangements schwierig – wenn auch nicht unmöglich –, markante Positionierungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu erreichen.

Ähnliches gilt nun aber auch für die Lehrerinnen und Lehrer: Hinsichtlich ihrer Selbsteinschätzung ist die Studienlage zwar etwas unklar – Rollenbilder, die mit Konfessionalität und authentischer Religiosität in Verbindung stehen, werden in der Studie aus Schleswig-Holstein eher abgelehnt (Pohl-Patalong et al., 2016, S. 126), in Nordrhein-Westfalen eher favorisiert (Riegel & Zimmermann, 2021c, S. 33) – was aber die unterrichtliche Praxis angeht, kommen vor allem qualitative Studien immer wieder zu dem Schluss, dass Religionslehrkräfte sich auch angesichts deutlich formulierter theologischer Anfragen seitens der Lernenden persönlich zurücknehmen (Zimmermann, 2022, S. 11–13; Zimmermann, 2020, S. 409; Reese-Schnitker, 2018, S. 249; Englert, Hennecke & Kämmerling, 2014, S. 123–124, 228; Englert 2014, S. 214) bzw. möglichen Kontroversen zu Geltungsfragen durch unterschiedliche Strategien, die auch das dominante, teilweise latente Einbringen einer persönlichen oder kollektiven religiösen Perspektive beinhalten können, aus dem Weg gehen (Riegel & Leven, 2016; Roose, 2019, S. 122–127).

Vor allem diese konstatierte Zurückhaltung hinsichtlich möglicher Kontroversen begründet die viel diskutierte Diagnose der „Versachkundlichung“ des Religionsunterrichts, die die empirische (!) Geltung der Korrelationsdidaktik als „Standardmodell“ des katholischen Religionsunterrichts problematisiert (Englert, 2014). Ähnliches könnte aber selbstverständlich auch im Blick auf das Modell der Elementarisierung im evangelischen Bereich gefragt werden.

Bislang zielen Vorschläge zur Bearbeitung der hier skizzierten Positionierungsproblematik meist darauf ab, auf der einen Seite die persönliche Positionierungskompetenz der Lehrkräfte stärker zu fördern (Heimbrock & Kerntke, 2017, S. 70–71; Riegel & Leven, 2016, S. 85), auf der anderen Seite mehr Wert auf die Modellierung kontroverser Unterrichtsarrangements zu legen, in denen Positionierungen der Schülerinnen und Schüler herausgefordert, kenntlich gemacht und kritisch diskutiert werden sollen (Reis, 2022, S. 52–56; Englert, 2013; Eck & Englert, 2021). Im Blick auf die Schülerinnen und Schüler weist die Unterrichtsforschung von Eck und Englert allerdings darauf hin, dass auch gut durchdachte Arrangements nicht gegen die „hohe Unbestimmtheit und Fluidität der religiösen Konzepte von Jugendlichen“ in dem Sinne ankommen, dass sie lernförderliche Irritationen auslösen. Dies könnte sich auch im Bereich von Studium und Referendariat – also im Hinblick auf zukünftige Lehrerinnen und Lehrer – als wichtige Herausforderung erweisen.

Für die Unterrichtspraxis zeigt die Studie von Hanna Roose überdies, dass die Nicht-Realisierung kindertheologischer „Normen“ – inklusive der damit verbundenen Positionalität – nicht zwangsläufig als Religiositätsdefizit auf Seiten der Lehrkräfte interpretiert werden muss, sondern auch mit der „Normativität der Praxis“ zusammenhängen kann, also den Handlungsnotwendigkeiten, die sich in der konkreten Unterrichtssituation für die Akteurinnen und Akteure ergeben (Roose, 2019, S. 9).

Zusammengenommen scheint es also sowohl auf Lernenden- wie auch auf Lehrenden-Seite praxisbestimmende Faktoren zu geben, die nicht allein durch gezielte „Positionalitätsförderung“ dieser beiden Gruppen ausgehebelt werden können. Stattdessen muss auch das Positionierungsideal selbst auf den Prüfstand. In diesem Sinne zeichnet sich auf einer zweiten Ebene – neben der Theorie-Praxis-Lücke – auch eine konzeptuelle Problematik des Positionierungsbegriffs ab, die jedoch bisher kaum in den Blick genommen wurde und daher auch noch keine klare Kontur besitzt. Scheint es auf den ersten Blick in der Theoriediskussion unstrittig, dass insbesondere Lehrerinnen und Lehrer sich angesichts der konfessionellen Verankerung des Religionsunterrichts entsprechend positionieren können und dies auch sollen, könnte eine kritische Analyse des im Hintergrund stehenden Positionierungskonzeptes durchaus ergeben, dass die damit verbundenen impliziten und expliziten (An-) Forderungen vielleicht überfordernd, ggf. auch nicht mehr zeitgemäß sind, weil sich in der Praxis wirkmächtige Mechanismen zeigen, die beispielsweise anvisierte Kontroversen über religiöse Geltungsansprüche unterlaufen (Eck & Englert, 2021, S. 81–82). Zur Bearbeitung dieses Problems fordern Eck und Englert für die Religionsdidaktik daher die „Etablierung eines Diskursraumes, der auch unter den Bedingungen fortgeschrittener religiöser Pluralität funktioniert“ (Eck & Englert, 2021, S. 82): Es geht also um die zunächst theoretische, dann aber auch praktische Frage, wie diese veränderten Mentalitäten zu deuten und sowohl theologisch wie auch didaktisch konstruktiv zu bearbeiten sind.

Geht man diese Aufgabe für den Teilbereich der Positionierung an, dann ist es zum einen notwendig, erste begriffliche Klärungen rund um das Phänomen Positionierung vorzunehmen; davon ausgehend, bietet es sich auf empirischer Ebene an, grundsätzlich mehr darüber herauszufinden, wie Positionierung von Menschen erfahren wird – anders gesagt: wie sie als sozialer Prozess „funktioniert“. Beides soll hier auf der Basis meiner Habilitation ansatzweise skizziert und im Blick auf mögliche kritische Impulse zur Weiterentwicklung des Positionierungsdiskurses ausgewertet werden.

3 Positionalität, Positionierung, Orientierung: begriffliche Abgrenzungen und Klärungen

Für die Religionspädagogik hat Mirjam Zimmermann kürzlich einen Vorschlag zur Definition des Begriffs „Positionalität“ gegeben: „‚Positionalität‘ nennt man die spezifische Haltung/Meinung/Stellung innerhalb eines Fachdiskurses von Subjekten oder Institutionen zu einem Sachverhalt, die begründet werden kann, nicht zufällig ist und längerfristig zur Verfügung steht“ (Zimmermann, 2022, S. 15). Bei dieser Bestimmung stellt der fachliche Gegenstand den Fixpunkt der Beziehung dar, die die Subjekte durch Einnehmen einer Position bestimmen. Das Subjekt kann daher in dieser Definition als die positionsbestimmende Größe betrachtet werden. In der Grafik (Abb. 1) wird dies durch die Pfeile dargestellt, die von Subjekt bzw. Institution ausgehen.

Bild 1

Abb. 1: Definition von Positionalität 1

Die Spezifika dieser Definition treten noch stärker hervor, wenn man sie mit einem anderen Konzept vergleicht, das auf die religionstheologische Habilitation des systematischen Theologen Michael Hüttenhoff zurückgeht. Er bestimmt den Begriff der Position als Verortung in einem Kontext: „Als ‚Kontext‘ wird […] die ‚Umgebung‘ einer Position bezeichnet, sofern sie auf den Inhalt der in ihr stattfindenden Orientierungsversuche Einfluß nimmt […]. Ein Mensch findet in der Umgebung seiner Position bestimmte religiöse Überlieferungen vor, die beanspruchen, Orientierung zu vermitteln“ (Hüttenhoff, 2001, S. 154–155). Orientierung ist demnach als ein Prozess zu verstehen, in dem Individuum und Kontext in Interaktion treten – Orientierungsversuche seitens der Individuen werden durch orientieren-wollende Kontexte beeinflusst, die aber auch umgekehrt auf diese Orientierungsversuche reagieren können (Hüttenhoff, 2001, S. 154–156). Den Begriff der Positionalität bestimmt Hüttenhoff hingegen in einem anthropologischen Sinn als „Bindung der Orientierung an den ‚Ort‘, den Menschen in ‚Umgebungen‘, die auf das Sich-Orientieren Einfluß haben, einnehmen“ (Hüttenhoff, 2001, S. 155). Bildhaft spricht Hüttenhoff auch vom „Verwobensein der Orientierungen mit ihren Umgebungen“ (Hüttenhoff, 2001, S. 156). Schließlich münden seine Überlegungen in die Zielvorstellung einer „reflektierte[n] Positionalität“, die sich ihrer grundsätzlichen Verortung in religiös-weltanschaulichen Kontexten bewusst ist, um die damit verbundene Problematik weiß und auf dieser Grundlage versucht, „die primäre Orientierung des Lebens“ mit dem Wissen um die Relativität dieser Orientierung zu „vermitteln“ (Hüttenhoff, 2001, S. 161). Damit ist keine relativistische Haltung gemeint, sondern die Einsicht in die prinzipielle Gebundenheit der eigenen wie der anderen religiös-weltanschaulichen Positionen. Die folgende Grafik will veranschaulichen, dass die Position bzw. Positionalität bei dieser Definition nicht allein vom Subjekt bestimmt wird, sondern auch – vielleicht sogar dominant – vom Kontext abhängt.

Bild 2

Abb. 2: Definition von Positionalität 2

Hüttenhoffs Bestimmung zielt auf das religionstheologische Problem, wie mit der Gebundenheit der eigenen Position angesichts anderer religiös-weltanschaulicher Positionen umzugehen ist, die eben diese eigene Position in Frage stellen. Die Definition soll also helfen, mit der Frage konkurrierender religiöser Geltungsansprüche konstruktiv umzugehen – es geht also maßgeblich um die eigene Glaubensidentität. Im Gegensatz dazu lenkt der Positionalitätsbegriff Zimmermanns den Blick auf das eigene Urteil in fachlich kontroversen Argumentationen, ohne dass hierbei die eigenen oder andere religiös-weltanschauliche Bindungen im Zentrum stehen bzw. problematisiert werden. Zugespitzt könnte man sagen: Die eine Begriffsbestimmung lenkt den Blick stärker auf den gegenstandsbezogenen Fachdiskurs, die andere stärker auf die Entdeckung des Eigenen im Angesicht des Anderen, also auf die „Arbeit“ an den eigenen Überzeugungen in ihrer Verhältnisbestimmung zu anderen Überzeugungen. Im einen Fall entsteht die Vorstellung eines stärker kognitiv orientierten „sachlichen“ Urteils, im anderen diejenige eines dialogisch ausgerichteten Wahrnehmungs- und Reflexionsprozesses, an dessen Ende im Entwurf Hüttenhoffs freilich auch ein kritisches Urteil stehen soll.

Welche Definition sich besser für die jeweilige Forschung eignet, hängt davon ab, welchen Praxisbereich man untersuchen und welches grundlegende Verständnis von Positionalität man dafür anlegen möchte. Betrachtet man Positionalität mit Hüttenhoff als anthropologische Gegebenheit, die sich in Orientierungsversuchen aktualisiert, regt dies dazu an, auch den Prozess des Sich-Positionierens selbst in den Blick zu nehmen und die Definition damit aus ihrem primär religionstheologischen Kontext zu lösen. Die positionsbestimmenden Kontexte können beispielsweise auch als konkrete Interaktionssituationen verstanden werden, in denen Orientierung geschieht. Dies wiederum eröffnet die Möglichkeit, Positionierung – also das Sich-in-Beziehung-Setzen zu eigenen und anderen Positionen auf der Grundlage von Positionalität – nicht nur als anzustrebende Kompetenz aufzufassen, sondern auch die damit verbundenen sozialen Interaktionsprozesse zum Untersuchungsgegenstand zu machen, und zwar sowohl im Blick auf die Mikro-, als auch auf die Meso- und Makroebene religionspädagogischen Handelns. Für dieses Vorhaben bieten die von Hüttenhoff grundgelegten, recht allgemein gehaltenen Begriffsdefinitionen eine erste Basis, von der aus dann weitere Spezifikationen vorgenommen werden können. Im Vordergrund steht also ein Verständnis von Positionierung als sozialem, interaktivem Prozess, der im Rahmen sich überlappender Kontexte stattfindet und als solcher auf verschiedenen Ebenen empirisch untersucht werden kann. Ausgehend von dieser Vorstellung lassen sich folgende Forschungsfragen formulieren, die mit meiner empirischen Studie in Verbindung stehen:

  • Wie entstehen religiös-weltanschaulich orientierende Kontexte im Rahmen sozialer Interaktionssituationen?

  • Was sind Gründe dafür, dass diese Kontexte in den Vordergrund treten, also für die befragten Personen Relevanz gewinnen?

  • Wie werden sie von den Teilnehmenden erfahren?

  • Welche „orientierenden“ Interaktionen werden von den Teilnehmenden wahrgenommen?

  • Wie positionieren sich die Teilnehmenden ex post zu solchen religionsbezogenen „Orientierungserfahrungen“?

Die Erkundung solcher Prozesse kann zunächst einmal als religionspädagogische Grundlagenforschung verstanden werden: Hier zeigt sich im besten Fall, wie religiöses und religionsbezogenes Sich-Orientieren als sozialer Prozess „funktioniert“. Davon ausgehend, frage ich dann nach Konsequenzen für religiöse und religionsbezogene Bildungsprozesse und formuliere entsprechende Impulse.

4 Religiöse Positionierung als Interaktionsphänomen: Einblicke in eine Grounded Theory zu religiösen Positionierungsprozessen

4.1 Skizze des Forschungsdesigns

Das Forschungsdesign der Habilitation lässt sich folgendermaßen umreißen: Es handelt sich um eine Grounded Theory – also eine aus empirischen Daten entwickelte, auf ein empirisches Phänomen bezogene Theorie –, die sich auf die Auswertung von 14 Interviews mit jungen Erwachsenen zwischen 18 und 26 Jahren auf der Basis eines groben Interviewleitfadens stützt. In Anlehnung an die Pionierarbeiten von Barney Glaser und Anselm Strauss (Glaser & Strauss, 1974) geht es mir bei der Methode darum, latente soziale Phänomene herauszuarbeiten, die „hinter“ Interaktionsprozessen stehen und diese erklären, mithin: verstehbar machen.

Dementsprechend lag der inhaltliche Fokus der Untersuchung auf der Rekonstruktion positionsbestimmender und/oder –verändernder lebensgeschichtlicher Erfahrungen, die die Befragten beschrieben. Letztlich ging es also um zweierlei: zum einen um die Erfassung des Phänomens, das die eindrücklichen Situationen, die erinnert werden, bestimmt; zum anderen um den Zusammenhang dieser Erfahrungen mit der aktuellen Vorstellung von Religion, zu der sich die Befragten im Interview in ein Verhältnis setzen.

4.2 Erinnerte Momente religiöser „Verdichtung“: zwei Beispielkontexte im Miniaturformat

Ein wesentliches Moment meiner Grounded Theory, die sog. Kernkategorie, möchte ich anhand zweier kontrastiver Schilderungen knapp skizzieren.

Max, ein 21-jähriger Auszubildender, evangelisches Kirchenmitglied im distanzierten Modus, erinnert sich im Interview an „enge Situationen“ beim Bergsteigen, in denen er manchmal weder vor noch zurück kann: „[…] ich bete dann nicht, aber, äh, ein kurzer Moment innehalten und mit meinem Kumpel da oben reden und sagen, hey, äh, jetzt machen wir das aber zusammen, und, äh, mach mit, ne, ich sage dann nicht, hey Gott, ähm, ich bin immer nett gewesen, ich war, okay, die letzten drei Jahre nicht in der Kirche, aber, äh, ich hab dich doch ganz lieb, das sage ich nie […] ich habe dann einfach meinen Kumpel für mich, der mich dann unterstützt, wenn ich gerade selber ein bisschen, äh, schwarz sehe oder so […].“

Es wird deutlich: Es gibt Augenblicke, in denen Max auf intensive Art und Weise innerlich mit einem Gegenüber – Gott, seinem „Kumpel da oben“ – kommuniziert. Religion, die für Max ansonsten eher eine konventionelle, wenig lebensrelevante Rahmung besitzt, „verdichtet“ sich und gewinnt eine momenthafte Präsenz.

Der Vergleich mit der Erinnerung Anjas, einer 23-jährigen evangelischen Fachoberschülerin, an den Besuch von Kirchentagen, zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede: „[…] Kirchentage, Kirchentage waren zum Beispiel immer ganz toll, also wenn wir mit unserer Gruppe zum Kirchentag gefahren, das war (klatscht leicht), das war spitze einfach […] also ich war, ich war total (klatscht leicht) überwältigt von so viel, äh, Ausstrahlung, von soviel Aura, die da herrschte, so, von den Menschen, und dann denke ich mir so, ja irgendwie, die sind so alle in deine Richtung, also die, die suchen vielleicht das gleiche wie du […].1

Auch hier wird von einer Situation erzählt, in der Religion auf eine ganz besondere Art und Weise nahe kommt: Im Gegensatz zu Max’ Schilderung handelt es sich hier nicht um eine Interaktion, die von außen unsichtbar im Inneren der Person stattfindet, sondern um eine Form von Religion, die eine Menge von Menschen umgreift. Diese Form der Gemeinschaft hat nach Meinung Anjas ihren Grund darin, dass die Gruppe „das gleiche“ sucht. Im Bild gesprochen: Sie bewegt sich um das gleiche Zentrum, das aber inhaltlich offen bleibt.

Die Gemeinsamkeit der beiden Schilderungen besteht also in der „Dichte“ des Erlebens, in beiden Fällen kommt Religion den Befragten auf eine bestimmte Art und Weise nahe – daher die Kernkategorie der „Verdichtung“, die ich als interaktionsbestimmend betrachte. Ein wichtiger Unterschied in den beiden Schilderungen dieses Phänomens besteht in der Sozialität der Erfahrung, die einmal im unsichtbaren, intimen Innenraum, ein andermal sozial-übergreifend stattfindet. Mit Hilfe weiterer Fallbeispiele lässt sich die Kategorie noch weiter ausdifferenzieren, zum Beispiel im Hinblick auf die Intensität der Erfahrung oder die Motivation ihres Auftretens (Lorenzen, 2020, S. 136–160).

Ausgehend von dieser knappen Skizze, werde ich die anderen Kategorien der Grounded Theory nun vorstellen, indem ich die oben formulierten Fragen mit ihrer Hilfe in thetischer Form beantworte.

Frage 1: Wie entstehen religiös-weltanschaulich orientierende Kontexte im Rahmen sozialer Interaktionssituationen?

Die Schilderungen zeigen, dass Religion kontextuell über die Interaktion mit einem spannungsvollen Zentrum erfahrbar wird – daher die von mir so genannte Kategorie des „aufgeladenen Wirkzentrums“, die sich bei Max als „Kumpel“ zeigt, bei Anja im gemeinsamen Fokus der Suche.

Frage 2: Was sind Gründe dafür, dass Religion bzw. religiös bestimmte Kontexte für die Befragten in den Vordergrund treten?

Das mit Religion assoziierte Schlagwort vom „Halt im Leben“ wird in den Interviews oftmals in Anspruch genommen, um die Attraktivität von Religion zu erklären – sei es für die eigene Person, sei es für andere Menschen. Damit verbindet sich die These, dass Religion sich für die Befragten kontextuell dann verdichtet, wenn deutlich wird, inwiefern Religion für sie selbst oder für andere Personen „Halt im Leben“ sein kann, also lebensbedeutsam und daher relevant ist.

Frage 3: Wie werden diese Kontexte von den Teilnehmenden erfahren?

Die These wurde oben bereits angedeutet: Die Befragten erzählen von Situationen, in denen Religion ihnen auf ganz unterschiedliche Weise nahe kommt – anders gesagt: von Situationen, in denen sich Religion „verdichtet“. Diese „Verdichtung“ muss nicht immer positiv erfahren werden. Es gibt auch Schilderungen, in denen die Interviewten religiöse Kontexte als zu eng und vereinnahmend oder gar als zerstörerisch wahrnehmen. Wie dies jeweils empfunden wird, dürfte auch mit den Sozialisationserfahrungen und individuellen Dispositionen der Teilnehmenden zusammenhängen.

Frage 4: Welche „orientierenden“ Interaktionen werden von den Teilnehmenden wahrgenommen?

In Abhängigkeit von der „Verdichtung“ kommt es zum „Sich-Öffnen“ oder „Sich-Verschließen“ der Kontextteilnehmenden, zum „Angezogen-“ oder „Abgestoßen-Sein“, auch zum „Neutral-Sein“. Man könnte auch sagen: Es finden unterschiedliche Arten von „Passungsreaktionen“ statt, im Rahmen derer die Teilnehmenden mit dem sie umgebenden Kontext in wechselseitige Interaktion treten, sich also orientieren. Im Blick auf die Intensität solcher „Passungsreaktionen“ kann man beispielweise zwischen „sich interessieren“ und „glauben“ unterscheiden.

Wenn die Befragten im Interview schließlich darauf antworten, wie sie sich zu dem, was sie unter Religion verstehen, positionieren, werden solche Erfahrungen implizit oder explizit miteinbezogen, zum Beispiel für vage oder dezidierte Positionen im Binnenraum, im Grenz- oder im Außenbereich unterschiedlich gerahmter Verständnisse von Religion (Lorenzen, 2020, S. 177–184). Interessanter als diese unterschiedlichen Lokalisierungen von „Sich-Positionieren“, vorgenommen unter der Leitfrage „Was davon bin eigentlich ich?“, sind aber die situativen „Verdichtungen“, die das „Sich-Positionieren“ zur Voraussetzung hat, weil sie sich offensichtlich als prägend erwiesen haben.

5 Positionierungsprozesse in religiösen und religionsbezogenen Bildungskontexten rekonstruieren: die Grounded Theory als Analyseinstrument

5.1 Religiöses und religionsbezogenes Sich-Orientieren als empirisch beschreibbarer Prozess

Fasst man religiöses oder religionsbezogenes Sich-Orientieren in Modifikation von Hüttenhoffs Definition als wechselseitige Interaktion zwischen „positionierten“ Individuen und religiös-weltanschaulich orientieren wollenden Kontexten, dann zeigt die vorgestellte Grounded Theory, wie man sich solche Situationen in der Empirie vorstellen und überdies kategorial erfassen und differenzieren kann. Die Grounded Theory könnte also als heuristisches Analyseinstrument dienen, um solche Situationen überhaupt erst „sehen“ und dann auch kategorial erfassen zu können. Hierin sehe ich den primären Wert dieser Grounded Theory für religionspädagogische, vielleicht auch für sozialisationstheoretische oder religionssoziologisch orientierte Forschungen.

Dementsprechend könnte man sich das „Funktionieren“ solcher Prozesse folgendermaßen vorstellen: In der Wahrnehmung der Teilnehmenden entsteht eine interaktionsleitende Spannung in einem religiös gerahmten Kontext – das „aufgeladene Wirkzentrum“. Die damit verbundene Spannung hat mit der Lebensbedeutsamkeit von Religion zu tun – also mit „Halt im Leben“. Den Teilnehmenden kommt Religion als orientieren wollende Präsenz persönlich nahe – es geschieht eine „Verdichtung“. Die Teilnehmenden reagieren auf diese spannungsvolle Präsenz mit inkludierenden oder exkludierenden „Passungsreaktionen“, mit Öffnungs- und Schließungs-, Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen, die beispielsweise im „Sich-Interessieren“ oder „Glauben“, aber auch in „Abgrenzung“ und „Widerstand“ Ausdruck finden können. Im Nachhinein kann auf diese Erfahrung dann in unterschiedlicher Form reflektiert werden, kann „Sich-Positionieren“ stattfinden, indem man sich hinsichtlich dieser oder auch stärker generalisierter Erscheinungsformen von „Religion“ im Binnen-, Grenz- oder Außenbereich des damit imaginierten Raums verortet.

5.2 "Verdichtung“ als Analysekategorie unterrichtlicher Bildungsprozesse? Zur Problematik des Transfers

Die vorgestellten Kategorien der Grounded Theory – „Aufgeladenes Wirkzentrum“, „Halt im Leben verorten“, „Verdichtung“, „Passungsreaktionen“, „Sich-Positionieren“ – sind aus Interview-Material gewonnen, das unterschiedlichste lebensgeschichtliche Episoden beinhaltet. Um diese Diversität einfangen zu können, sind die Kategorien sehr allgemein konzeptualisiert. Diese Allgemeinheit ist selbstverständlich auch als Nachteil der Kategorisierungen anzusehen, denn durch diese mangelnde Spezifität besitzt die Grounded Theory auch wenig spezifische Erklärungskraft. Auf der anderen Seite ermöglicht diese Allgemeinheit bzw. Formalität der Kategorien aber auch Übertragungen auf deutlich abgegrenztere Gebiete – zumindest zum Zwecke der Kategorientestung. Vor dem Hintergrund der religionspädagogischen Diskussion zur Positionierung, die sich zumeist auf religionsdidaktische Settings bezieht, stellt sich also die Frage, ob die vorgestellten Kategorien auch verwendet werden können, um unterrichtliche Prozesse – oder, etwas weiter gefasst – um religiöse und religionsbezogene Bildungsprozesse theoretisch zu erfassen.

Die Frage kann aus ganz unterschiedlichen Perspektiven angegangen werden: Zum einen geht es in pragmatischer Hinsicht darum, ob die Kategorien helfen, Positionierungsprozesse im Unterricht „sichtbar“ zu machen und zu erklären. Dies kann auch bedeuten, dass sie nur als Ausgangspunkte für weitere Spezifizierungen oder auch Revisionen dienen. Zum anderen aber kann man fragen, ob das Material, was unter dieselbe Kategorie subsumiert wird, auch auf „dasselbe“ referiert. Spezifisch gewendet: Lassen sich die lebensgeschichtlichen Episoden überhaupt mit unterrichtlichen Settings vergleichen?

Auf diese berechtigte Problemanzeige lässt sich mit Rekurs auf die pragmatistisch geprägten methodologischen Grundlagen der Grounded Theory folgendermaßen reagieren: Die Kategorienbildung erfolgt hierbei durch den gezielten Vergleich von „Ereignisse[n] und Vorfälle[n], die Indikatoren für theoretisch relevante Konzepte sind“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 164). Es geht also nicht um die Frage, ob es im Material um in jeder Hinsicht Vergleichbares geht, sondern ob sich darin Vergleichbares im Blick auf ein zu benennendes Phänomen im Sinne der erwähnten „theoretisch relevante[n] Konzepte“ finden lässt. Im Blick auf die hier interessierende Frage der Positionierung bedeutet das: Lassen sich außerunterrichtliche Erfahrungen des „verdichteten“ Nahe-Kommens von Religion mit unterrichtlichen Erfahrungen vergleichen, in denen religiös-weltanschauliche Kontexte samt entsprechender Orientierungen und intendierter Identifikationsprozesse ebenfalls eine Rolle spielen? Abgesehen davon, dass das in der Habilitation verwendete Material durchaus auch Unterrichtserfahrungen der Befragten enthält, scheint mir dies auch in methodologischer Hinsicht zulässig zu sein, wenn man davon ausgeht, dass religiöse und religionsbezogene Orientierungs- und Identifikationsprozesse nicht auf außerunterrichtliche Kontexte beschränkt sind bzw. dort kategorial anders funktionieren als in der Schule. Was allerdings beachtet werden muss, sind die deutlich unterschiedlichen Bedingungen, unter denen diese Prozesse jeweils stattfinden. Das spricht aber nicht gegen die Verwendung der formalen Kategorien bzw. der daraus resultierenden Theorie für die Analyse der fraglichen Prozesse. Wenn es gelingt, mit Hilfe der Theorie bestimmte soziale Interaktionen in einem bestimmten Setting plausibel zu erklären, dann ist die Verwendung der Kategorien zur Beschreibung der fraglichen Phänomene sinnvoll. Insofern halte ich auch den Versuch für legitim, die von mir entwickelte Theorie an unterrichtlichen Settings zu testen. Dies gilt sowohl für empirische Unterrichtsforschung als auch für die Analyse theoretischer Modelle von Unterricht, die sich an einer bestimmten Idealform des didaktischen Geschehens orientieren. Für letzteres gebe ich im Folgenden ein kurzes Beispiel, für Ersteres folgt danach ein kurzer Ausblick.

5.3 Die Grounded Theory als Analyseinstrument für die Theoriereflexion: das Beispiel der Elementarisierung

Der oben formal beschriebene Positionierungsprozess erinnert an das Ideal eines Religionsunterrichts, der mit Hilfe des Tübinger Elementarisierungsmodells geplant wird: Als religionsdidaktisches Spezifikum des Elementarisierungsmodells gilt schließlich die Dimension der „elementaren Wahrheiten“, die die sog. Wahrheitsfrage, also den als Frage formulierten existentiellen Geltungsanspruch des Unterrichtsgegenstandes, im Unterricht sichtbar machen sollen. Das impliziert eine entsprechende existentielle Auseinandersetzung auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, die sich also zu diesem christlichen Geltungsanspruch in ein reflektiertes Verhältnis setzen sollen, indem sie ihn auf seine „Passung“ für ihr Leben prüfen und daraus ggf. auch neue Gewissheiten in ihrem Glauben ziehen (Nipkow, 1986; Lorenzen, 2020, S. 312–320; Lorenzen, 2021).

Es sind also auch im konfessionellen Religionsunterricht spezifische „Verdichtungen“ rund um ein „aufgeladenes Wirkzentrum“ intendiert, es soll zu „Passungsreaktionen“ und zum „Sich-Positionieren“ kommen, und selbstverständlich spielt dabei auch die Lebensbedeutsamkeit von Religion, in Form der elementaren Erfahrungen und Zugänge, eine Rolle. Auf dieser Grundlage kann man also zeigen, wie in religionsdidaktischen Modellen versucht wird, den Religionsunterricht als „spannungsvollen“ konfessionell orientierenden Kontext zu gestalten und welche individuellen Positionierungsräume Schülerinnen und Schülern dabei angeboten – oder eben auch: nicht angeboten – werden (Lorenzen, 2020, S. 301–336). Gelingt es, auf diese Weise latente Phänomene plausibel herauszuarbeiten, dann sind die Kategorien sinnvoll.

5.4 Die Grounded Theory als Analyseinstrument für die empirische Analyse unterrichtlicher Prozesse: mögliche Szenarien

Naheliegend wäre überdies, wie oben angedeutet, die Kategorien auch zur Analyse empirisch wahrnehmbarer Unterrichtsprozesse zu verwenden. Auf diese Weise könnte man zeigen, wie man sich unterrichtliche „Verdichtung“ und darauf bezogenes „Sich-Positionieren“ ganz konkret vorstellen könnte – oder natürlich auch: Warum die Kategorie auf das empirische Material so nicht passt. Es müsste also zum Beispiel gezeigt werden, dass und wie „Verdichtungen“ rund um „elementare Wahrheitsfragen“ im evangelischen Religionsunterricht stattfinden oder nicht stattfinden.

Die in meiner Habilitation erhobenen Schilderungen geben vielleicht einige Hinweise, wie man sich „Verdichtungen“ im Unterricht vorstellen könnte: Engagierte Diskussionen, in denen ein Thema den Schülerinnen und Schülern „nahe“ kommt; Religionslehrkräfte, die durch eine enge Erwartungshaltung bewirken, dass bestimmte Schüler sich abgeschreckt fühlen; eingesetzte Medien, Bilder und Metaphern, die bei Einzelnen auf besondere, persönlich bedeutsame Resonanz stoßen; konfessorisch geprägte Begegnungen, in denen Schülerinnen und Schülern etwas von der Lebensbedeutsamkeit von Religion aufgeht oder in der sie Religion als lebensfeindlich und einschränkend wahrnehmen – all dies wird als Phänomen vielleicht sichtbar, ggf. weiter differenzierbar und beurteilbar, wenn man nach „aufgeladenen Wirkzentren“, „Verdichtungen“, „Passungsreaktionen“ und „Sich-Positionieren“ auch im Unterricht sucht.

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Stefanie Lorenzen, Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

  1. Für eine ausführliche Schilderung beider Fälle vgl. Lorenzen, 2020, S. 190–200, S. 221–234.